Sonntag, 14. Juli 2019

Proust und die Korrespondenz mit Maria Hahn

Seite 183 – 194   

August 1895, 24 Jahre

Auf den folgenden Seiten fand ich die Konversation mit Reynaldos Schwester Maria Hahn recht spannend. Proust befindet sich mit Reynaldo in der Normandie. Von schlaflosen Nächten geplagt schreibt er Maria.

Er bezeichnet Maria als die intelligenteste Frau, die er kennen würde. Er hat ihr seine Novelle, La morte de Baldassare Sylvande … zugeschickt mit der Bitte um eine (konstruktive?) Kritik. Er scheint sehr viel Wert auf Marias Meinung zu legen. Aber scheinbar bleibt eine Antwort aus, was Proust sichtlich irritiert:
Ich weiß nicht mehr, wie ich es mit Baldassare machen soll, denn ich muss ihn jetzt an eine Zeitschrift schicken und werde also Ihre Anmerkung nicht zu Gesicht bekommen. Ihre Meinung ist aber so ungefähr die einzige, die mir wichtig ist, und wenn man dann, sobald die Sache in dem Band erschienen ist, darüber redet oder schreibt, wird mich das sehr viel weniger interessieren als die Meinung der intelligentesten aller Frauen. Ich weiß also nicht mehr, wie ich es anstellen soll. Wenn es nur einige Zeilen sind, können Sie mir Ihre Beobachtungen abschreiben … Auf jeden Fall möchte ich Sie darum bitten, den Baldassare an Madame Proust (…) zu schicken, die ihn an den Direktor der besagten Zeitschriften weitersenden wird. (183)

Über folgende Textstelle musste ich so lachen, denn Proust ist nie an Worten verlegen. Weiter schreibt er:
(…) Sie sind mit all unseren Eindrücken verbunden, o meine Schwester Maria, Vertraute meiner Gedanken, Leuchtfeuer der umherirrenden Tristesse, Beschützerin der Schwachen, Pflegerin der Kranken, Quell´der Güte, Würze des Geistes, aufblühende Rose, beherzte Sanftmut, Brise über dem Meer, Lied der wackeren Ruderer, zartes Kräuseln der Wellen, Glorie des Morgens, Duft der Freundschaft, Seele der Abende, die Sie (freundliches Gestirn) mit Ihren Feuern erhellen, (…) mit Ihrem Lachen beschwingen, das abwechselnd Echo des Geistes und seine Stimme ist, Abende, die sie Ihren Kleidern einen moralischen Reiz verleihen, Bescheidenheit oder Adel, literarische Eigenschaften, Kürze, Schleier, geworfen über ein Zuviel an Glanz … (184)

Puh, Proust kann einfach keinen Punkt setzen. Gerne hätte ich den Rest dieses Briefes noch abgeschrieben, aber da fehlt es mir an Geduld, auch wenn ich diesen Marcel stark bewundere, wie fantasievoll er seine Gedanken niederzulegen weiß. Und wie mutig, dass er so viel Persönliches von sich preisgibt. Mutig, dass er Menschen schreibt, was er von ihnen hält. Hier in seinen Briefen sind es meist wohlwollende Worte. Obwohl ich mich immer wieder frage, ob er den Menschen zu sehr Honig um den Mund schmiert.

Die Novelle Baldassare hätte ich gerne selbst auch gelesen, weshalb ich schon letztes Wochenende nach ihr im Netz erfolglos recherchiert hatte.

Einen Brief später schreibt Proust Maria wieder jede Menge Schmeicheleien.
(…) Aber da wir im Leben alle gehalten sind, ungleich bedeutende Wandlungen mit unserer Aufmerksamkeit zu bedenken, wäre dieser Wandel es vielleicht nicht wert gewesen, dass ich Sie mit einem Brief belästige und ihm so viel Beachtung schenke, wenn ich darin nicht sogleich das gemeinsame Werk dreier Zuträger entdeckt hätte, die für mich des größten Interesses würdig sind, ich meine Ihre Güte, Ihre Klugheit, die sich in Takt, Gespür, Feinfühligkeit usw. äußert, soweit Ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Sie werden das gewiss abstreiten, denn Personen, die Gutes tun und wissen, wie man es anstellt, wirken im Verborgenen. (Anm. d. Verf.) Auch ich, wenn ich es wagen darf, mich ein kleinwenig mit Ihnen zu vergleichen, bereite im Verborgenen, im Stillen die Bahnen jener, die ich liebe, zerstreue hier Bedenken, säe dort von langer Hand ein Gefühl, der Sympathie aus, bin über alle Maßen glücklich, wenn ich es in voller Blüte sehe und dabei meine Fäden, die ich immer fest in der Hand halte, unsichtbar bleiben. (185)

Den letzten Satz finde ich noch besonders nachdenkenswert. Proust, der die Fäden in der Hand hält, der seine Mitmenschen führt und lenkt, als seien sie  Marionetten. Das bedeutet für mich, er manipuliert auch seine Mitmenschen, was ich schon länger im Stillen für mich gedacht hatte, nur noch nicht ausgesprochen habe, da ich noch nach Beweisen suchte. 

Auf den weiteren Seiten erfährt man etwas über Prousts berufliche Entwicklung. Darüber schreibt er im März 1896 um Rat bittend an Reynaldo.

Er lässt fragen, wo er Monsieur Neveux, Bibliothekar an der Manzarine Bibliothek, treffen soll. Denn Proust hat sein Lizenziat in französischer Literatur am 27.03.1895 erhalten. Proust hätte eine Anstellung im Unterrichtsministerium bekommen, wollte sich dem aber entziehen, da dies eher eine Beamtenlaufbahn, langweilige Bürotätigkeiten mit sich bringen würden und mit Reymonds Hilfe lieber an einer Kunstschule, an der Ecole des Beaux-Arts, unterrichten möchte. Doch aus der Sicht seiner Eltern wäre er für diese Arbeit überqualifiziert. Nun, so bleibt es noch offen, wie sich Prousts beruflicher Werdegang weiter entwickeln wird. Aber er wird sich durchsetzen können. Er hat es schon sehr weit gebracht, einen Weg einzuschlagen entgegen der elterlichen Erwartungen, auch wenn man noch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, welche Institution er beruflich nun letzten Endes begleiten wird. 

Des Weiteren erfährt man aus diesem Brief, dass Proust seit dem Sommer 1895 an einem Roman Jean Santeuil schreibt. Ich vermute, dass dies der Roman ist, in dem er über seinen Freund Reynaldo schrieb, den er in die fiktive Figur des Jean Santeuil gepackt hat.

Meine Meinung
Gestern wusste ich noch nicht, ob ich über diese zehn Seiten etwas schreiben wollte, dann hatte ich mich doch dafür entschieden, weil ich Reynaldos Schwester Maria von ihrer Persönlichkeit her so interessant fand, die ich hier unbedingt festhalten möchte. Wer ist Reynaldos Schwester? Habe verzweifelt im Netz nach einem Foto und nach weiteren Daten recherchiert, konnte selbst im französischsprachigen Wikipedia nicht fündig werden. Daraufhin habe ich mich heute Morgen mit Anne über WhatsApp ausgetauscht, da ich auf dem Sprung war und ich nicht viel Zeit hatte. Und ehe ich mich versah, war es Anne, die eine Fotografie im französischsprachigen Netz hat finden können. Wow, Anne hat ein Goldhändchen. Sie ist dafür bekannt, dass sie das findet, woran andere scheitern. Ich habe mich so darüber gefreut. Später werde ich mit ihr telefonieren, da wir uns noch über die Briefe austauschen wollten.

Nochmals kurz ein paar Informationen zu den Hahns. Woher kommen sie? Der Name Reynaldo klingt südamerikanisch und der Familienname Hahn deutsch.

Aus Wikipedia geht hervor, dass die Familie Hahn tatsächlich aus Südamerika, Venezuela, stammt. Die Mutter, Elena María de Echenaguciawar spanisch-baskischer Abstammung. Der Vater, Carlos Hahn, war deutsch-jüdischer Kaufmann, Ingenieur und Erfinder und kam aus Hamburg. Der Vater wanderte nach Südamerika aus, um dort sein Glück zu machen. Hier lernte er seine Frau kennen, und beide bekamen zehn Kinder. Fünf Jungen und fünf Mädchen. Reynaldo war der Jüngste unter seinen Geschwistern. Aus politischen Gründen siedelte die Familie 1878 nach Paris um. Hier war Reynaldo fünf Jahre alt.

1940 verließ Reynaldo wegen der Judenverfolgung Paris, kehrte nach dem Krieg wieder zurück. 

Im zweiten Band aus Proust Briefen geht hervor, dass Maria Hahn 1864 geboren wurde und starb 1948. Sie wurde 84 Jahre alt. Auch sie blieb bis zu Prousts Tod, 1922, mit ihm freundschaftlich verbunden. Weitere Details zu Maria sind dem Buch zu entnehmen. 

Es gibt ein paar Unterschiede zwischen Wikipedia und dem Briefband. Wikipedia schreibt, dass Reynaldo fünf Schwestern hatte, im Buchband sind es aber nur vier. 

Am 28.01.1947 starb Reynaldo mit 73 Jahren. Er wurde auf dem Pariser Friedhof Pére Lachaise begraben.

Telefonischer Austausch mit Anne
Auch Anne bewundert Prousts Sprache, wie versiert und fantasievoll er sich auszudrücken weiß. Mutig zu sein, sein Innerstes herauszukehren, um Menschen immer zu sagen, welche Meinung er von ihnen hat, hatte Anne verglichen zu mir nicht mit Mut in Verbindung gesetzt, sondern dass er nicht anders konnte, als sich zu zeigen wie er war, und seine Mitmenschen ihn nur als offenherzig kannten.

Dass er den Menschen so sehr schmeichelt, das fand auch Anne, vor allem der Maria Hahn gegenüber, mit wie vielen Metaphern seine Briefe ihr gegenüber bestückt sind, war einerseits sehr bewundernswert, andererseits wissen wir nicht, ob diese Briefe nicht auch humoristisch zu verstehen sind? Wie war Prousts Humor? Da Proust eine hohe Meinung von Maria hatte, stellte ich mir die Frage, ob sie nach so vielen Komplimenten überhaupt in der Lage ist, Prousts literarische Texte sachlich in Augenschein zu nehmen? Da Maria auf dem Foto eine sehr resolute Ausstrahlung versprüht, als eine gestandene Dame, so konnten wir es uns beide trotzdem gut vorstellen, dass sie dazu durchaus fähig ist.

Anne und ich haben nun beide fast zweihundert Seiten geschafft. Es macht uns noch immer Freude, die Briefe zu lesen.

Die nächsten Briefe, von Seite 194 - 207.
_________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 20
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Sonntag, 7. Juli 2019

Prousts Abhängigkeit

Seite 173-183

Auf den folgenden zehn Seiten gibt es nicht besonders viel, was ich aufschreiben möchte, trotz der vielen intellektuellen Gespräche. Denn es gibt keine Kunst, mit der der vielbegabte junge Marcel nicht zu tun bekommt. Musik, Literatur, Malerei, Architektur, Philosophie etc. Überall hat er seine Partner*innen, mit denen er sich auszutauschen weiß. 

Nur leider kann ich nicht so wirklich folgen, wenn man die Hintergründe nicht kennt. Vor allem in der Literatur bekommt man es mit recht vielen Literaten zu tun. Darunter befinden sich Erzählungen verschiedener Schreiber, sie mir aber alle fremd sind. Anne wird es genauso ergehen. Später werde ich mich mit ihr noch austauschen.

Mitunter erfährt man auf diesen Seiten auch etwas zu Prousts Vorlieben in der Musik. Er mag deutsche Komponisten wie Bach, Wagner und Beethoven, während sein virtuoser Freund Hahn Beethoven eher langweilig findet. Prousts Gedanken zur Musik, die er mit Mademoiselle Suzette teilt, sind folgende:
(Es ist) das Wesen der Musik, (das) in uns jene geheimnisvolle (und für die Literatur wie ganz allgemein für alle endlichen Ausdrucksformen, die sich entweder der Worte und folglich der Ideen, also determinierter Dinge, oder determinierter Gegenstände – die Malerei, die Skulptur, bedienen, nicht darstellbare) Tiefe der Seele zum Klingen zu bringen, die dort beginnt, wo das Endliche und alle Künste, die das Endliche zum Gegenstand haben, enden, wo auch die Wissenschaft endet, und die man deswegen religiös nennen kann. (173)

Wow, sind das nicht schöne Betrachtungen? Dasselbe erlebe ich auch, wenn ich selbst musiziere, aber auch wenn ich Musik höre. Mit der Musik betritt man Spähren, die weder mit Worten noch mit wissenschaftlichen Theorien zu ergründen sind.

Proust sieht das Göttliche nicht nur in der Natur, siehe die letzten Briefe, sondern auch in der Musik.
Er gründet zusammen mit anderen Intellektuellen eine >>Academie des canaques<<, einen Zusammenschluss von Freunden. Hier war Proust, 24 Jahre alt, Sekretär auf Lebenszeit.

An Reynaldo Hahn
Januar, 1895

Ich hatte in der letzten Besprechung vergessen zu erwähnen, dass Reynaldo Hahn nach Prousts Mutter die wichtigste Person seines Lebens gewesen sein soll.

Proust liegt im Bett und liest wie berauscht die Essays des amerikanischen Schriftstellers Emerson. Er muss ein paar Verse an Reynaldo geschrieben haben, die er Mademoiselle Lemaire zu lesen gegeben habe, die ihr gefallen hätten. Er scheint immer eine Bestätigung zu suchen, reicht gerne seine geschriebenen Texte herum, selbst wenn sie persönlich sind.
Ich habe ihr geantwortet, dass man immer inspiriert sei, wenn man über das spreche, was man liebt. Eigentlich sollte man nie von etwas anderem sprechen.

Ich kann diesen Gedanken sehr gut nachvollziehen, denn wenn man über das spricht, was man liebt, dann weiß man auch, worüber man spricht.

Und wieder gibt er am Ende des Briefes an, dass er Reynaldos Pony sei. Dabei muss ich immer so schmunzeln, weil ich das Pony mit Kindlichkeit verbinde. Eine sog. Verniedlichung. Und dies bei einem voll ausgewachsenen Mann. 

Mai 1895

Erneut ein Brief an Reynaldo Hahn, in dem man erfährt, dass Proust sich mitten in einer Zulassungsprüfung für eine der drei vakanten und unbezahlten Stelle einer Bibliothek namens Mazarine befindet. Wie man sieht, schlägt er beruflich den Weg ein, den er sich vorgestellt hatte. Da dies eine unbezahlte Stelle auf Ehrenamt ist, stellt sich mir die Frage, womit Proust seinen Unterhalt verdienen wird? Vielleicht finden wir in den späteren Briefen darauf eine Antwort aber ich vermute, dass er sich mit seinen Novellen etwas Geld verdient hat. Mitten in der Prüfung verlässt er die Bibliothek, um seinem Freund zu telegrafieren, und riskiert damit durch die Prüfung zu fallen. Nun, es zeigt, wie sehr er seelisch von Reynaldo schon abhängig ist.
Ich werde mir Ermahnungen einhandeln, da ich mich aus der Mazarine entfernt habe, um Ihnen telegraphieren zu können, aber ich lebe nicht mehr, ich bin untröstlich, ich sterbe, wenn ich daran denke, dass Sie vielleicht verärgert sind. (181)

Sind die beiden schon ein Paar? Die förmliche Anrede Sie ist hier noch gebräuchlich, obwohl mir bewusst ist, dass man die Homoexualität zu der damaligen Zeit eher im Geheimen auslebt. 

Austausch mit Anne
Wir haben beide bewundert, wie groß Prousts intellektueller Kreis ist. Es ist schwierig, heutzutage Leute dieser Art zu finden. Das liegt aber auch daran, dass wir beruflich sehr eingespannt sind, und wenig Zeit haben, dieses proustische Salon-Leben wenigstens in Ansätzen zu führen. Prousts Kreise waren beruflich und finanziell ungebunden und hatten alle Zeit der Welt, Soireen, Matineen etc. aufzusuchen. Frauen dieser Gesellschaft mussten nicht mal ihre Kinder erziehen, das übernahmen geschulte Kinderfrauen; und der Haushalt wurde von Dienstmädchen geführt. Ich erwähnte dabei auch Thomas Mann und seine Buddenbrooks. Auch hier war es üblich, kulturelles Leben wie z. B. Literatur, Musik u. v. m. mit anderen zu teilen. Heutzutage ist es sehr schwer, Menschen zu treffen, mit denen man einen intellektuellen Austausch führen kann, ausgenommen sind die Bücherforen. Aber selbst Bücherforen sind sehr begrenzt, da es meist nur ein verschriftlichter Austausch ist. Viele Schriftsteller*innen trifft man auch in sozialen Netzwerken, aber sie sind gar nicht darauf ausgelegt, sich mit ihren Leser*innen zu befassen. Sie suchen lediglich Leute, die ihre Bücher bewerben, sie mit Bestnoten verehen, um an bessere Verkaufszahlen zu kommen. Wenigstens konnten wir über das Internet ein paar Freundschaften knüpfen, die wie wir an einem Austausch interessiert sind. Daraus sind schon interessante Freundschaften entstanden.

Anne und ich kennen uns auch schon seit zehn Jahren, und haben uns glücklicherweise in einem Literaturforum kennengelernt, in dem sie noch heute Moderatorin ist. Leider wohnen viele dieser Freundinnen sehr weit weg, was eine Begegnung erschwert. Proust hatte sie alle vor seiner Türe. Wie ginge es ihm, wäre er heute am Leben?

Marcel Proust ist zudem ein offener Mensch, was den Zugang zu Kontakten seiner Art zusätzlich erleichtert.

Ich bin sehr froh, mit Anne diese Briefe lesen zu dürfen. Das macht gemeinsam viel mehr Spaß, als alleine. Auch wenn wir beide nicht alles zurückverfolgen können, weil uns die Materialien dazu fehlen, kommen wir trotzdem immer ins Gespräch. Und wenn es nur die guten Gedanken sind, die Weisheit, die Proust hinterlegt, und die ich herausschreiben möchte, da mich diese sehr glücklich stimmen.
 
Meine Gedanken
Ich habe nun noch etwas im Netz recherchiert, ob es einen Buchband gibt, in dem Prousts Novellen abgedruckt sind. Seine Briefe weisen auf seine kürzeren literarischen Texte hin, die mich neugierig stimmen. Aber leider bin ich nicht fündig geworden. Zu gern hätte ich gewusst, was Proust an seine Liebhaber geschrieben hat, oder welchen Inhalt seine Essys hatten. 

Auf der französischen Amazonseite konnte ich einige Werke finden. Da ich zeitnah eine Reise nach Paris plane, um auf Prousts Spuren zu wandeln, werde ich mir dort seine Bücher kaufen, die hier nicht aufgelegt sind. 

Und schon wieder kommt die Lust in mir auf, die sieben Bände der Recherche erneut zu lesen, und habe bei Amazon einen recht interessanten Fund gemacht. Die siebenbändige Ausgabe gibt es mittlerweile als Graphic Novele. Ich habe mir die Bücher angeschaut und die Graphiken sind wunderschön, sodass ich gestern im Buchhandel angerufen habe, und habe mir alle sieben Bände, 2010 im Knesebeck – Verlag erschienen, bestellt. Am Dienstag kann ich die Bände abholen und ich freue mich schon jetzt riesig darauf. Ich habe schon mal das Cover des ersten Bandes hierreingestellt. Hier ein Link, der zu dem Verlag führt, und man sich alle Bände anschauen kann. Bitte dort die Bände herunterscrollen.
___________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 20
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Sonntag, 30. Juni 2019

Marcel Proust und die Korrespondenz mit Reynaldo Hahn

Seite 162 – 173  

Auf den folgenden zehn Seiten haben wir, Anne und ich, mit zwei Ausnahmen nicht viel finden können, was uns in unserem Denken hätte weiterbringen können.
Aber in einer Sache konnte unsere Neugier befriedigt werden, und zwar darin, dass sich Marcel wohl bei seinen Eltern, was die Berufsfindung betrifft, hat durchsetzen können. Er hatte sich im Dezember 1893 an der Pariser Sorbonne Universität in Philosophie eingeschrieben und bestand sein Lizenziat im März 1895 nach mehreren Nachhilfestunden, die seine Mutter in Auftrag geben hatte. Die Nachhilfestunden nahm Proust bei seinem ehemaligen gymnasialen Philosophielehrer Alphonse Darlu.

Proust muss in Philosophie wahrscheinlich, wie aus der Fußnote hervorgeht, unter der Anleitung von Alphonse Darlu jede Menge Aufsätze schreiben, wovon einer das Glück behandelt, in dem Proust beweisen soll, dass es das Glück auch gibt, und tut sich schwer damit.
Ich muss Aufsätze schreiben, in denen ich beweisen soll, dass es ein Glück gibt. Da ich ein guter Schüler und Sohn bin, tue ich das auch, da ich ein schlechter Philosoph bin, tue ich es nur schlecht.

Wahrscheinlich hat Prousts Mutter deshalb Nachhilfestunden erwirkt, um ihren Sohn bei den Abschlussprüfungen zu unterstützen. Man kennt Proust ja nur als Musterschüler, während er dies in Philosophie nicht zu sein scheint. Aber ich vermute eher, dass dies nicht einer intellektuellen Fehleistung geschuldet ist, sondern dass Proust seine eigene philosophische Sichtweise zu manchen Dingen hat. Denn wie soll er über das Glück schreiben können, wenn er so seine Zweifel dazu hat?
Aber vor allem glaube ich nicht daran. Ich glaube, dass jeder sein eigenes Glück hat – wenn er es denn hat. Und ein Wunsch, der für jemanden ein Glück herbeiruft, das er vielleicht gar nicht haben will, wäre ein recht unvorsichtiger Wunsch.

Dabei denke ich an einen Spruch, der lautet, passe auf, was du dir wünschst, denn er könnte in Erfüllung gehen. Proust schreibt dazu an Horac de Landau. Mir ist dieser Briefpartner fremd. 
Ich weiß nicht genau, was Sie begehren, und so spreche ich sehr vage Wünsche aus. Aber ich mache mir keinerlei Sorgen über ihre Verwirklichung. Sie tragen das Glück in sich: Das ist der sicherste, wenn nicht der einzige Weg, es zu erlangen. (164) 

Weitere Details über das Glück sind dem Buch zu entnehmen. Obwohl Proust so jung ist, ist er ein so weiser Mensch, dass er mich damit innerlich tief berührt. Er lässt mich an meine eigenen philosophischen Gedanken denken, die ich auch in diesem Alter reichlich hatte.

Weitere Korrespondenzen erfolgen auf diesen Seiten mit dem Dichter Robert de Montesquiou, der uns mittlerweile vertraut ist. Auf eine davon möchte ich kurz eingehen. Genaues Datum kann im Buch nicht wiedergegeben werden, da mit Fragenzeichen versehen.

Robert de Montesquiou (Schriftsteller)
13. Mai 1894, Marcel ist noch 22 Jahre alt

In dem Brief bittet Proust seinen Briefpartner, die beigefügte Studie zu lesen. Auf welche Studie sich Proust bezieht, ist laut der Fußnote nicht eruierbar, weshalb ich nicht wirklich näher darauf eingehen möchte. Interessant ist halt, dass diese Studie etwas mit dem Dichter selbst zu tun haben muss. Eine Kritik an Montesquiou? Proust schreibt;
>wenn Sie die Güte haben, die beigefügte Studie zu lesen, werden Sie verstehen, warum ich Ihnen heute Abend besonders dankbar bin (die Studie ist alt, ich hätte Sie Ihnen nicht geschickt, aber sie ist – leider! – auch aktuell, und zwar Ihretwegen). Gestatten Sie mir, dass ich keine Rechtfertigungen hinzufüge.

Proust äußert Kritik, durchleuchtet das Innenleben dieses Dichters und schon aus den letzten Briefen ging hervor, dass er lernen wolle, sich für seine Meinung nicht mehr rechtfertigen zu wollen. 
Ich verzichte von nun an darauf, da ich davon überzeugt bin, dass wir uns, sobald eine gewisse Tiefe erreicht ist, nicht verstehen können, was ich allerdings nicht allzu tragisch nehme. Die Maxime >Wohl dem, der zu hören weiß< ist zu eng gefasst. Wer nur schlecht hört, kann auf andere Weise >köstlich< sein. Warum sollte man aus griesgrämigem Starrsinn seinen Freuden entsagen?

Nun folgt ein Gedanke, der genial ist, und den ich mir erst hier auf meiner Seite, dann auf meine Brust schreiben werde, deshalb der Fettdruck, der dadurch durch mich  hervorgehoben ist …
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.

Warum will man das denn, dieses immer verstanden werden wollen? Wir leben nicht, um immerwährend anderen gefallen zu müssen. Man schränkt sich ein, wenn man immer nur das tut, was die Gesellschaft von einem erwartet.

Ich finde, dass auch dieser Brief voller Weisheit ist. 
>Wenn diejenigen, die Schicksale missverstehen, sie auf andere Weise verschönern, warum soll man sie mit Vorwürfen ermüden, die sie unvermeidlich weder hören noch verstehen und die Ihnen alles in allem höchst lästig sind. (162)

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Schade finde ich nur, dass man nicht weiß, was diese Studie belegt und was sie mit dem Dichter faktisch gemeinsam hat.

September 1894, 23 Jahre
Briefpartner Roynaldo Hahn?

Hier schreibt Proust über seine Gedichte bzw. Prosastücke zur Mondscheinsonate, die er auch der Madame Straus hat lesen lassen, die von den romantischen Gedichten sehr angetan gewesen sein soll. Proust ist gespannt, wie Hahn die Gedichte interpretieren wird. Mit Hahn gehen auch musische Gespräche hervor wie z. B. über Wagners Musikstück Lohengrin.

16. September 1894 und 16. Oktober 1894, 23 Jahre
An Reynaldo Hahn, Komponist

Zwei fragwürdige Briefe, in dem Proust sich als Pony zu geben bekennt, und ich damit nichts anfangen konnte. Hierzu hatte Anne aber einen schönen und interessanten Gedanken, den ich gleich zitieren werde, da ich sie gebeten hatte, diesen Gedanken bzw. diese Assoziation dazu aufzuschreiben und mir zukommen zu lassen, da das Pony auf eine sexuelle Anspielung deuten könnte …

Annes Beitrag, nachdem wir heute Mittag über die Briefe uns ausgetauscht haben.

Ich freue mich, auch einmal mit einigen Gedanken zu den Briefen aufwarten zu können. Wenn ich auch nicht weiß, ob ich damit richtig liege:

Nach den heutigen Briefen von Proust bin ich noch ratloser als bei so manchen ohnehin schon. Mira und ich haben ja schon öfter einstimmig festgestellt, dass viele Briefe äußerst schwer zu verstehen sind, da uns die Antworten darauf fehlen.
Heute nun las ich Folgendes:

Brief vom 16. September 1894 - Seite 168
"Warum 'Marcel, das Pony'? Ich mag diese Neuheit nicht. Das hört sich an wie Jack the Ripper oder Ludwig der Zänker. Vergessen Sie nicht, dass dies kein Spitzname ist und dass ich, Reynolds, ganz wahrhaft Ihr Pony bin." 

Und weiter am 16. Oktober 1894 - Seite 169
"Ich werde Ihnen morgen einen ehrlichen Bericht über die Besorgung machen, mit der Sie mich beauftragt haben. Ich bin nicht allzu müde, und wenn Sie vorhatten, mich morgen im bois oder anderswo zu satteln, so wäre das möglich. Ich fürchte, dass Ihre Pläne für den Nachmittag weniger leicht durchzuführen sein werden, aber lassen Sie mir auf jeden Fall ausrichten, zu welcher Uhrzeit angespannt werden soll. Mit aller Hochachtung, Monsieur Mon Maitre, Ihr treues Pony.
[...] Um zu zeigen, dass Sie Ihrem ehrerbietigen, aber ungebildeten Pony seinen Stil verzeihen, streicheln Sie ihm über den rauen Kopf, den es zärtlich in ihre Hand schmiegt."

Hier nun saß ich da und dachte: Hm, was ist das jetzt. Und dann fiel mir das Wort "Rollenspiele" ein. 

Proust ist 23 Jahre jung, kam das für ihn damals schon infrage? Mira hat ja schon hier und da seine sexuelle Suche und Entwicklung erwähnt. 
Auf den Gedanken wäre ich aber nicht gekommen, wenn ich nicht vor Kurzem in einer Krimiserie von "Bones" die Folge "Der Fall der gerittenen Leiche" gesehen hätte. Da ging es um eben solche Rollenspiele.
Aber macht man solche schon in dem jungen Alter, in dem Proust sich befindet? Wenn man noch auf der Suche nach der eigenen Sexualität ist? Oder ist das nicht eher etwas, was man tut, wenn man schon "normale" Erfahrungen, seien es heterosexuelle, homosexuelle oder bisexuelle, gesammelt hat?
Aber vielleicht liege ich ja auch ganz falsch, und es hat etwas mit einem Theaterspiel oder mit Literatur zu tun, aus dem ich nicht schlau werde. In den Fußnoten war jedenfalls auch keine erläuternde Erklärung zu finden.

Liebe Anne,
ich finde deinen Beitrag sehr spannend. Wir werden nie die ganze Wahrheit erfahren, aber es ist durchaus erlaubt, über Gedanken und Assoziationen zu sprechen, die uns bei den Briefen kommen. Nichts anderes tut Marcel Proust ja auch. Und es ist schön, dass wir uns ergänzen, denn hier wäre ich ratlos geblieben, wäre dein Einwand nicht gewesen. Und dies mit den Rollenspielen kann durchaus möglich sein, da Proust in der Kunst alles schon ausprobiert hat, auch im Bereich des Theaters.

Deshalb dürfen wir weiterhin gespannt hoffen, was uns die nächsten Briefe offenbaren werden und was sie in uns innerlich auslösen.

Nachtrag; die sexuelle Anspielung über  das Pony lässt sich besser verstehen, wenn man weiß, wer Reynaldo Hahn ist, und bin dabei auf ein interessantes Buch gestoßen, das auf www.perlentaucher.de gepostet ist. Das Buch heißt:


Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn


Reynaldo Hahn ist drei Jahre jünger als Marcel Proust, ist Jahrgang 1874 und hat bis 1947 gelebt. Er ist 73 Jahre alt geworden. Viel älter als Proust. Aus dem Klappentext dieses Buches geht hervor, dass Reynaldo Hahn von Beruf Komponist war. Mit Proust soll er lebrnslang befreundet und zeitweise auch sein Geliebter gewesen sein. Sie lernten sich auf einer musikalischen Soiree kennen, und beide fühlten sich sofort zueinander hingezogen. 

Weiteres ist hier aus dem Klappentext zu entnehmen. Bitte runterscrollen.

Wir werden also noch öfters mit Reynaldo zu tun bekommen. 

______________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 20
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Sonntag, 23. Juni 2019

Berufliche Neuorientierung / Selbstfindungsphase

Seite 152 – 162  

Auf den folgenden zehn Seiten strebt der junge Marcel Proust unter dem Druck seiner Eltern eine berufliche Laufbahn an. Ein Dilemma, wie man es schon von verschiedenen anderen Künstlern her kennt. Die Schriftstellerei als Existenzsicherung scheint für Prousts Vater zu ungewiss zu sein. Schreiben als Hobby neben einem anderen Beruf ist durchaus machbar. Aber Proust schreibt nicht zum reinen Vergnügen, sondern professionell. Profession bedeutet in meinen Augen, einen ganzen Arbeitstag mit dem Schreiben zu verbringen. Damit ist nicht nur das Schreiben impliziert, sondern auch die Zeit, die er auf der Suche nach seinem Stoff noch zusätzlich benötigt. Wo soll da noch Zeit sein, einem anderen Beruf nachzugehen? Ich denke dabei auch an die vielen Profimusiker, die Virtuosen unter uns, die täglich mindestens acht Stunden mit Übungen zubringen, wie ich mir von echten Profis habe sagen lassen. Ein Laie übt wahrscheinlich nicht einmal eine Stunde am Tag.

Proust sucht verzweifelt nach Kompromissen, später nach einer patenten Lösung.

September 1892, 22 Jahre
Brief an Robert de Billy

Er schreibt in dem Brief an seinen Freund Robert de Billy, spricht sich in dem Brief aus, dass er in der allergrößten Verlegenheit stecken würde, da er auf den Druck seines Vaters sich für eine berufliche Laufbahn entscheiden müsse. Durch Anraten seines Vaters strebt Proust eine Beamtenlaufbahn zwischen dem Rechnungshof und dem Dienst im Außenministerium in Paris an. Aber beides empfindet Proust als eine >>geisttötende Laufbahn<<. Obwohl Proust Jura studiert hat, und er sein Lizenziat im Oktober 1893 bestanden hat, drängte sein Vater auf eine zügige Berufswahl. Im Folgenden zeigt Proust dem Freund seine innere Not, für die sein Vater wenig Verständnis aufzubringen scheint. Ich zitiere folgende Textstelle, da ich so sehr mit Proust mitfühlen kann:
Ach, mein Freund, mehr denn je wäre mir Ihr Rat hier teuer, und ich leide sehr unter ihrer Abwesenheit. Möge sie doch ein schöner Brief durch das allmächtige Wunder der kommunizierenden Geister aufheben. – Genießt die höhere Verwaltungslaufbahn nicht zu wenig Ansehen? Was bleibt da noch, wo ich entschlossen bin, weder Anwalt zu werden noch Arzt, noch Priester, noch -, (154).

Ende September 1893 schreibt Proust diesbezüglich an den Vater …

… und bittet indirekt erneut darum, seine Studien in Philosophie und in der Literatur weiter fortsetzen zu dürfen, worauf der Vater sich in Schweigen hüllte. Aber Proust ist nachgiebig, zeigt sich weder motzig, noch rebellisch dem Vater gegenüber und sucht nach einer Lösung, mit der beide gut leben können.
Mon cher petit Papa,ich habe immer gehofft, deine Erlaubnis für die Fortsetzung der literarischen und philosophischen Studien zu erhalten, für die ich mich geschaffen glaube. Aber da ich sehe, dass mit jedem Jahr nichts weiter als eine immer aufs Praktische gerichtete Disziplin auf mich zukommt, will ich mich lieber gleich für eine dieser praktischen Laufbahn entscheiden, die du mir vorschlugst. Ich werde ernstlich darangehen, ganz nach Deiner Wahl, die Aufnahmeprüfung für den diplomatischen Dienst oder für die École nationale des Chartes vorzubereiten. (155)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass die École national … die Schüler auf einen höheren Dienst für Bibliotheken, Archiven und Museen vorbereitet.
Was die Anwaltskanzlei angeht, so würde ich noch tausend Mal lieber bei einem Wechselmakler anfangen. Du kannst übrigens sicher sein, dass ich es dort keine drei Tage aushalten würde! Es ist nicht so, dass ich nach wie vor alles außer der Beschäftigung mit Literatur und Philosophie für verlorene Zeit hielte. Aber unter mehreren Übeln gibt es kleinere und größere. Ich habe mir, selbst in den Tagen meiner größten Verzweiflung, nie etwas Furchtbareres als eine Anwaltskanzlei vorstellen können. Der Botschaftsdienst, der mir jene ersparen würde, scheint mir zwar nicht meine Berufung zu sein, aber ein Ausweg. (155f)

Auf der Seite 152 schreibt Proust weiterhin an Robert de Billy. Zur Erinnerung; Proust lernte de Billy im Militärdienst kennen. Sie waren beide in Orléans stationiert. Proust verbrachte nur ein Jahr beim Militär, danach kehrte er nach Hause zurück, um zu schreiben. Dadurch, dass Proust Asthmatiker war, war es leicht, vom Militärdienst befreit zu werden.

Auf den folgenden Seiten findet Proust noch andere Autoritäten, mit denen er über seine Zukunft spricht, da er noch immer nach Auswegen sucht, auch wenn er ernsthaft bemüht ist, es seinem Vater recht zu machen.

Im November 1893 schreibt er an Charles Grandjean und bittet um seinen Rat. Das bedeutet, er ist noch immer auf der Suche, seinen Beruf zu finden, aber wie es scheint, findet er nur in den hoch geistigen Künsten seine berufliche Heimat. Würde er sich für die Beamtenlaufbahn im Rechnungshof entscheiden, so müsse er dort schätzungsweise nach zweijähriger Vorbereitungszeit eine Aufnahmeprüfung ablegen, von der Proust schon jetzt weiß, dass er die Prüfung nicht bestehen werde. Allerdings sucht Proust eine unentgeltliche Anstellung im Museum, um über Umwegen doch in der École de Chartes ein Lizenziat in Literatur ablegen zu können.
 Während dieser Zeit könnte ich, wenn ich feststelle, dass es mir dort gefällt, ganz nach Ihrem Belieben die École des Chartes, ein Lizenziat in Literatur, die École du Louvre oder ganz einfach persönliche Arbeiten vorbereiten – und zwar dergestalt, dass daraus eine Laufbahn für die Zukunft wird, und in Erwartung des noblen und diskreten Rahmens einer Existenz, die ich durch das Studium schöner Dinge zu inspirieren und zu veredeln versuchen würde. (157)

Weitere Details sind den Briefen zu entnehmen.

Mit dem richtigen Beruf versucht Proust, einen Lebenssinn zu bestimmen, ohne das Gefühl zu bekommen, in Zukunft sein Leben vertan zu haben. Doch er ist ambivalent, er weiß nicht so recht, wie er seine beruflichen Pläne umsetzen soll, solange ihm die Unterstützung seines Vaters fehlt. Weiter schreibt er um Rat bittend an Grandjean:
Aber ach, Ihr wunderbarer kritischer Geist wird auch diesen neuen Ballon zerplatzen lassen – oder sagen wir, ich freue mich darüber, denn Sie verscheuchen für mich die Trugbilder, die das Gefährlichste überhaupt sind, und ersparen mir auf diese Weise grausame Enttäuschungen. (158)

Er weiß, dass die Jugend vorbei ist und somit der Ernst des Lebens beginnt.
Da es früher oder später nicht mehr reicht, sein Leben zu erträumen, sondern man es leben muss, hätte ich große Enttäuschungen zu gewärtigen – die größte wäre die, sein Leben vertan zu haben -, wenn Ihre Erfahrung und Ihre Intuition meinem allzu phantasievollen und zu unwissenden guten Willen nicht zur Vorsicht rieten. (Ebeda)

Ich erlebe diese Briefe als einen stillen Hilferuf. Still deshalb, weil Proust diplomatisch bleibt und auch seinen Vater nicht beschimpft. Er schwankt zwischen den Erwartungen und den Forderungen seines Vaters, und zwischen seinen eigenen Plänen, die auch aus seiner Sicht tatsächlich scheitern könnten. Was ist, wenn der Vater recht hat, und alle seine beruflichen Pläne sich nicht so umsetzen lassen, wie er sich dies vorstellt?

Zum Schluss habe ich mich gefragt, weshalb Proust Jura studiert hat? Wurde er dazu gezwungen? Später geht aus den Briefen hervor, dass er weder Medizin, noch Theologie … studieren wollte, so blieb ihm wohl nur noch die Justiz. Aber eine Karriere als Anwalt lehnt Proust vehement ab.

Später bekommt er von den Agenturen mehrere Angebote gemacht, entscheidet sich aber letztendlich, auf seinem Museumsplan zu beharren. Da ich nicht alles verraten möchte, erspare ich mir weitere Details.

Damit es hier nicht nur um Prousts berufliche Pläne geht, sondern zur Abwechslung auch mal um begabte Frauen, möchte ich als letztes hierzu noch einen Beitrag leisten.

Proust befindet sich auf Reisen. Wahrscheinlich zur Erholung. Derzeit ist er mit seiner Mutter in Trouville. Trouville-sur-Mer ist ein kleines französisches Seebad mit 4642 Einwohnern. Zuvor verbrachte er drei Wochen in der Schweiz, St. Moritz, und eine Woche am Genfer See. Er hat von seinen Reiseeindrücken in der Zeitschrift Revue blanche geschrieben. Er ist wieder von einer Dame angetan, Madame Jameson, eine musische Künstlerin, eine Pianistin, zu der sich Proust hingezogen fühlt. Er schreibt seinem Freund Robert de Billy, um über die Pianistin Auskunft zu erlangen, da der Freund diese Dame kennen würde. Proust schreibt, dass er sich schon bei Madame Straus erkundigt habe, bestätigte, dass Madame Jameson … 
… >recht patent ist, die Wohnung gut aufräumt, und überall schrubbt< (was sehr geistreich ist, aber meiner Ansicht nach eher auf andere Anwendung findet als auf diejenige, dich ich für eine so große Musikerin halte< und auf eine antikünstlerische und abscheuliche Weise spielt. (153)

Madame Straus scheint wohl gar nichts von den Künsten Jameson zu halten, drückt es aber eher in versteckter Weise aus, was Proust ein wenig irritiert, weshalb er eine andere Meinung sich bei dem Freund einholen möchte. Man weiß nicht mit Bestimmtheit, wie Madame Straus auf Talente anderer Damen tickt. Vielleicht empfindet sie einfach nur Neid. Madame Jamesons Herkunft stammt nicht aus der gehobenen Gesellschaft, weshalb Proust seinen Freund hierbei um Nachsicht bittet, da sie weder Herzogin noch Prinzessin und nur Protestantin sei. Vielleicht hat Madame Straus die Pianistin auch deshalb abgewertet bzw. sie auf das Können ihrer Hausarbeit reduziert, weil sie keinem Adel angehört. Sehr geistreich scheint Madame Straus aber auch nicht zu sein. Diese wenig geistreichen Menschen treten gehäuft aber auch in der Recherche auf. Sie sind mir nicht neu.

Telefongespräch mit Anne:
Erneut haben Anne und ich unsere Leseeindrücke teilen können. Ja, Proust wird jetzt erwachsen und er spürt deutlich, dass sich seine Jugend und seine Träumereien so langsam dem Ende neigen. Trotzdem sind wir gespannt, wie es weitergehen wird, denn, dass er weiterschreiben wird, das wissen wir schon durch seine siebenbändigen Recherchen. Den letzten Band hat er kurz vor seinem Tod noch beenden können. Anne meinte, dass man neben dem Beruf sich trotzdem noch mit Büchern befassen könne, und ich war der Meinung, dass Proust sich mit Literatur als Hobby nicht begnügen wolle. Er wollte ganz frei sein für sein Schreiben, und so war er nicht bereit, dieses mit einem anderen Beruf zu teilen. Dazu habe ich oben schon einiges geschrieben. Interessant fand ich, dass Anne, die meine Buchbesprechung noch gar nicht gelesen hat, da ich noch am Werkeln bin, dieselben Gedanken und Ideen wie ich geäußert hat.

Ich weiß noch aus der Biografie, dass Proust die meiste Zeit seines Lebens im Bett zugebracht hat, weil er sehr krank war. Eine große Karriere, wie der Vater sie für ihn bestimmt hat, wird er dadurch nicht machen können.

Des Weiteren haben wir uns über den Briefpartner Robert de Billy ausgetauscht, da ich ihn total verdrängt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer er war. Aus Annes Namensliste geht hervor, dass dieser Mensch nur Prousts Briefpartner war. Mehr ist aus der Fußnote nicht hervorgegangen. Ich wurde schließlich auf einer französischsprachigen Proust – Seite fündig. Weitere Erklärung sind oben im Text hinterlegt.

Wir sind beide auf nächstes Wochenende gespannt. Wir sind neugierig, wie bzw. ob Proust aus seiner Bedrängnis herausfinden wird, ohne es sich mit dem Vater zu verscherzen. Aber Ewachsenwerden bedeutet auch, sich gegen die elterlichen Erwartungen auflehnen zu können, auch wenn hier eine finanzielle Abhägnigkeit besteht.
____________
Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 20
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86