Sonntag, 10. November 2019

Wo bleibt Prousts Erbe?

Quelle Geralt / Pixaby
Weiter geht es mit den Seiten von 349 – 359  

Auf den folgenden Seiten bekommt man es mit einem frustrierten Marcel Proust zu tun, dem es stinkt, dass sein Erbanteil seines Vaters an die Mutter angefallen ist. Proust bekommt aus bestimmten Gründen lediglich einen Monatsbetrag ausgezahlt.

Er spricht sich bei einem Freund aus, sagt ihm gleich zu Beginn des Briefes, dass er von traurigen Gedanken geplagt sei. Anne und mir waren die vielen Gedanken um das Geld definitiv zu langweilig. Wir beide mögen eigentlich keine Geldgespräche. Mal schauen, was ich hierbei zusammentragen kann.

Auf jeden Fall ist der Vater vermögend gestorben. Aber den Reichtum hat er aus eigener Kraft erworben.

An Louis d´Albufera
Anfang Dezember 1903, Marcel Proust ist hier 32 Jahre alt

Schon den ersten Satz finde ich ein wenig befremdlich.
Mon petit Albu, während Sie mit mir redeten, nagte an mir der fürchterlich traurige Gedanke, dass ich keinerlei Geld habe, das Ihren teuren Geist von allen Sorgen befreien könnte. (349)

Meine Frage: Hat der Freund ihn um Geld gebeten? Nun, jedenfalls nutzt Proust die Gelegenheit, seinem Freund vorzuheulen, wie wenig Geld er selber zur Verfügung hat, da der Vater ihn von dem Erbe wenig begünstigt hat.

Zu Lebzeiten erhielt Proust schon Geld vom Vater. Also ganz so mittellos war er nicht:
Papa zahlte mir jeden Monat 500 Francs aus, dazu vierteljährig 125 Francs. (350)

Anne und ich hatten uns immer schon gefragt, wie viel Geld Proust eigentlich zum Leben zur Verfügung hat. Ich denke, dass wir hier ein wenig schlauer werden, dass er mit seinen 32 Jahren neben seinen literarischen Einnahmen noch Unterstützung von den Eltern benötigt hat.
Papa und Mama hatten sich gegenseitig als Alleinerben ihres ganzen Vermögens eingesetzt, der Überlebende sollte der Erbe des anderen sein. (Ebd.)

Dies hat Proust nicht wirklich gepasst, grübelt, was die Eltern zu solch einem Verhalten bewogen hatte. Proust findet eine Antwort, die auch für mich und Anne plausibel zu sein scheint:
Ich glaube, dass dies nicht auf wechselseitiger Zuneigung gründete, sondern auch auf der absurden Vorstellung, die sie seit jeher hatten, ich sei ein Verschwender und würde, sobald ich nur zwei Sous in der Tasche hätte, diese sogleich zum Fenster hinauswerfen. (Ebd.)

Auch fühlt er sich seinem Bruder gegenüber benachteiligt. Zu Unrecht, wie ich finde.
Und da sie wussten, dass mein Bruder eine Frau geheiratet hatte, die auf ein immenses Vermögen wartet, und dass er im Übrigen selbst, wenn er nur will, ein irrsinniges Geld mit der Chirurgie verdienen kann, (…)., hatten sie in dieser Hinsicht keinerlei Bedenken und sagten sich, dass, solange einer von beiden, Papa oder Mama, das Vermögen zusammenhielte, es am besten für mich aufbewahrt und vor meiner Verschwendungssucht gesichert wäre! (Ebd.)

Ist etwas Neid auf den Bruder herauszuhören? Man mag als Chirurg viel Geld verdienen, aber geschenkt ist das Geld nicht, sondern hart verdiente Arbeit gepaart mit einer Masse an Verantwortung.

Achtung, nun schießt er gegen seine Mutter.

Allerdings erlaubt das Gesetz nicht, dass ein Ehemann alles seiner Frau vermacht. Und ich glaube, dass mein Bruder und ich jeweils Anspruch auf ein Viertel haben. (Ebd.)

Interessant wäre für uns hier zu wissen, ob im es im umgekehrten Fall zulässig wäre, dass eine Ehefrau alles seinem Ehemann vermacht, oder ob es dem Stammhalter, das wäre hier Marcel, zugeschrieben worden wäre.

Ein Onkel der Familie, Vaters Bruder, gibt Proust folgende Ratschläge:
Deine Mutter lebt von einem Einkommen, das sich auf 80.000 Francs belief, sie hat jetzt nur noch 40.000 zur Verfügung. Dein Bruder und Du, Ihr müsst versuchen, ihr die Änderung ihrer Lage so wenig wie möglich spürbar zu machen, und auf Euer Pflichtteil verzichten, Robert, indem er sich mit dem zufriedengibt, was er schon hat, und Du, indem Du bei Deiner Mutter wohnen bleibst. (351)

Proust wartet nun ab, wie sich sein Bruder Robert verhalten wird. Dies teilt Proust alles seinem Freund mit. Weiter schreibt er:
Wenn sich diese Lösung durchsetzt, dann werde ich weiterhin kein Kapital besitzen, und auch wenn mir meine monatlichen 500 Francs erhalten bleiben, so werde ich davon womöglich eine kleine Unterhaltszahlung für verschiedene Ausgaben an meine Mutter zu leisten haben. (Ebd.)
Es stehen einige Ausgaben an, hinzu kommt noch der Umzug in eine kleinere Wohnung, sobald der Mietvertrag ablaufen werde. Wie man oben entnehmen kann, rechnet Proust damit, sich an den Kosten beteiligen zu müssen. In den späteren Zeilen ist zu entnehmen, dass Prousts Erbanteil in Aktien umgelegt wurde.
Dies alles, wenn ich es richtig ahne, immer in der Absicht, mich vor mir selbst zu schützen, wie auch der Vorschlag meines Onkels keinen anderen Zweck verfolgen dürfte.
Damit sich hier nicht alles nur ums Geld dreht, eine kurze Zusammenfassung aus dem Brief an Marie Nordlinger. Zur Erinnerung: Marie Nordlinger ist die Schwester von Robert de Montesquieou und ist Expertin in der englischen Sprache und greift Proust häufig unter die Arme, wenn er Probleme mit der Ruskin-Übersetzungsarbeit hat. Proust hat vor nichts eine Scheu, stellt der Briefpartnerin jede Menge Sinnfragen zu seiner Übersetzung.

Unsere Gedanken dazu
Ich hätte Proust nicht zugemutet, dass er sich so stark finanziell von den Eltern abhängig macht. Dass er keinen Stolz besitzt, sich auf eigene Füße zu begeben, entnehme ich aus diesen Zeilen. Ich erinnere mich noch an den kleinen Marcel, dass er schon in der Kindheit sich häufig Geld vom Großvater hat ausleihen müssen, weil er mit seinem Taschengeld nicht klar kam.

Wer bekommt schon in dem Alter jeden Monat von den Eltern 500 Frans ausgezahlt, was damals sehr viel Geld gewesen ist.

Wie viel der Vater an Vermögen hinterlassen hat, wird minutiös in der Fußnote gelistet. Wer genaue Angaben haben möchte, so verweisen wir auf das Buch. 

Dies war es für heute. Anne und ich hatten heute Morgen schon über diese Briefe gesprochen, sodass ein weiterer Austausch sich erübrigt hat, vor allem, weil wir uns bei den Zitaten einig waren, wobei Anne sehr pragmatische Fragen noch im Nachhinein gestellt hat, als wir nun soeben in einer anderen Proust- Sache doch noch telefoniert haben.

Anne hat sich im Nachhinein nicht zufriedengegeben, was Prousts Auslagen betreffen. Wie viel muss er von seinem Eltern-Gehalt für Arztkosten aufkommen? Wer bezahlt die Medikamente? Wie viel verdient Proust als Literat? Er hat jede Menge kürzere Geschichten verfasst und ein ganzes Buch mit dem Titel Santeuil schon geschrieben. Er hat dafür jeweils eine Gage bekommen, aber wie hoch sie war, darüber hat sich Proust in den Briefen noch nicht ausgelassen. Für seine Ruskin-Übersetzungsarbeit ist er auch ausbezahlt worden. Wahrscheinlich konnte er mit diesen scheinbar kleinen Honoraren nicht wirklich auskommen. Aber wie man oben aus den Briefen entnehmen kann, konnte Proust scheinbar nicht wirklich gut mit Geld umgehen. 

Anne ist erbost, denn mit welcher Selbstverständlichkeit Proust ohne eine Gegenleistung seine Hand aufhält. 

Je älter er wird, desto mehr verliert er bei mir an Sympathiepunkte.

Unser Fazit
Auch wenn Proust auf hohem Niveau klagt und weint, nicht genug zu bekommen, wissen Anne und ich nun, dass er nie Geldnot erleiden wird. Aus der Fußnote konnte entnommen werden, dass der Tod der Mutter auch nicht mehr lange auf sich warten lässt, sodass wir davon ausgehen, dass er und sein jüngerer Bruder Robert das gesamte Vermögen erben werden, da auch die Mutter viel Geld mit in die Ehe gebracht hat, und sie selbst durch ihre eigenen verstorbenen Eltern Geld geerbt hatte. Proust kann sich somit zurücklehnen. Für ihn ist gesorgt, sowohl zu Lebzeiten seiner Mutter, die ihm weiterhin jeden Monat Geld zusteckt als wäre es sein Gehalt, als auch nach ihrem Ableben.

Weiter geht es übernächstes Wochenende von 359 - 369

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Mittwoch, 6. November 2019

Henning Mankell / Die schwedischen Gummistiefel

Klappentext     
Nach dem Brand seines Hauses auf einer einsamen Schäreninsel sind dem ehemaligen Chirurgen Fredrik Welin nur Wohnwagen, Zelt, Boot und zwei ungleiche Gummistiefel geblieben. Und wenige Menschen, die ihm nahestehen: Jansson, der pensionierte Postbote, die Journalistin Lisa Modin und seine Tochter Louise, die schwanger ist und in Paris lebt. Als Louise wegen eines Diebstahls in Untersuchungshaft gerät, ruft sie Fredrik zu Hilfe. Während er in Paris über ihre Freilassung verhandelt, erfährt er, dass auf den Schären schon wieder ein Haus in Flammen steht.

Autorenporträt
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, war einer der großen schwedischen Gegenwartsautoren, von Lesern rund um die Welt geschätzt. Sein Werk wurde in über vierzig Sprachen übersetzt, es umfasst etwa vierzig Romane und zahlreiche Theaterstücke. Nicht nur sein Werk, sondern auch sein persönliches Engagement stand im Zeichen der Solidarität. Henning Mankell lebte abwechselnd in Schweden und Mosambik, wo er künstlerischer Leiter des Teatro Avenida in Maputo war. Er starb am 5. Oktober 2015 in Göteborg. Seine Taschenbücher erscheinen bei dtv.

Meine ersten Leseeindrücke

Dieses Buch ist auch nicht besser als der Vorgänger von Die italienischen Schuhe. Ich befinde mich gerade auf den letzten 180 Seiten. Leider wieder sehr klischeehaft und eine wenig überzeugende Geschichte. Aber Mankells Erzählstil finde ich toll, sonst hätte ich das Buch abbrechen müssen. 

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Taschenbuch: 480 Seiten
·         Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (8. Dezember 2017)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3423217057

Hier geht es zu der Verlagsseite von dtv. 


Sonntag, 3. November 2019

Todesfall in der Familie Proust

Seite 331 – 349  

Die zehn Seiten aus dem letzten Wochenende haben Anne und ich zwar gelesen aber es befand sich nichts darunter, worüber es sich gelohnt hätte, einen Blogbeitrag dazu zu schreiben, obwohl ein sehr langer Brief sich darunter befand, der schon interessant gewesen wäre, und ich einen Absatz daraus in die hiesige Besprechung packen möchte.

Die französischen Intellektuellen scheinen sich 1903 in einer Umbruchphase zu befinden. Sie lehnen alles Religiöse ab, besonders auch in Bildungseinrichtungen. Die einen sind Antisemiten, andere sind gegen den Katholizismus, und wieder andere gegen den Jesuiten, unterm Strich gesagt; am besten alles abschaffen, was mit Glauben und Religion zu tun hat, und rein in eine antiklerikale Haltung gehen. Auch fordern sie eine Trennung von Kirche und Staat. Ich fand dies sehr spannend, vor allem, weil Frankreich katholisch ist, der sich bis heute erhalten hat, selbst, wenn mittlerweile viele aus der Kirche ausgetreten sind, trotzdem ist der Katholizismus mit 57 % in Frankreich die stärkste Konfession. Deshalb finde ich diese religiöse Antibewegung sehr spannend, während Proust sich allerdings gegen diese Bewegung ausspricht.

Hierbei Prousts Meinung:
Ich mag den jesuitischen Geist nicht. Aber immerhin gab es eine jesuitische Philosophie, eine jesuitische Kunst, eine jesuitische Pädagogik. Wird es eine antiklerikale Kunst geben? Das alles ist weniger leicht zu beantworten, als es scheint. Welche Zukunft hat der Katholizismus in Frankreich und in der Welt, ich meine, wie lange noch und auf welche Weise wird er seinen Einfluss ausüben; das ist eine Frage, die niemand auch nur stellen kann, denn er wächst, in dem er sich wandelt, und seit dem 18. Jahrhundert, in dem er die Zuflucht der Ignoranten zu sein schien, hat er selbst auf die, die ihn bekämpfen und verleugnen sollten, einen Einfluss gehabt, den das vergangene Jahrhundert sich nicht hat vorstellen können. (335)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust formuliert hier bereits Gedanken, wie er sie ein Jahr später, im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche, in seinem Artikel >La mort de Cathédrales< (Le Figaro, 16. August 1904) weiter ausführen wird. (338)

Weiter schreibt Proust, in dem er sich auf namhafte Schriftsteller bezieht:
Das Jahrhundert Carlyles, Ruskins, Tolstois, selbst wenn es auch das Jahrhundert Hugos oder Renans war, (…) ist kein antireligiöses Jahrhundert. Selbst Baudelaire hängt an der Kirche, zumindest im Sakrileg. (Ebd.)

Weiter geht es nun mit der Besprechung aus den folgenden Seiten, von 341 bis 349, wobei mir hauptsächlich die Briefe an Lucien Daudet und an Anna de Noailles ins Auge geschossen sind.

Denn hier entnimmt man die traurige Nachricht, dass Marcel Proust, gerade mal 32 Jahre alt, seinen Vater verlieren wird.

An Lucien Daudet
25. November 1903, Proust ist 32 Jahre alt
Papa ist sehr krank. Deshalb habe ich Ihnen gestern nicht geschrieben. Es ist mir unmöglich, mich mit Ihnen zu verabreden. Bemühen Sie sich nicht hierher, denn ich weiche nicht von seiner Seite, Sie würden mich nicht zu Gesicht bekommen und das machte alles nur noch komplizierter. (346) 

Den Satz in der Klammer finde ich ein wenig befremdlich.
(Wenn Sie aber heute Abend vorbeischauen mögen, dann will ich Sie aber nicht daran hindern, aber wir würden uns wahrscheinlich nicht sehen. Und morgen lieber auch nicht.) (Ebd.)

Wer würde denn in so einer Situation sich mit einem Besuch aufdrängen wollen? Vielleicht sind das unterschwellige Wünsche, möge der Freund doch bitte, bitte kommen, auch wenn der Vater krank ist. So fühlt sich das für mich an. Alles überflüssige Worte, wenn Proust sie wirklich so geschrieben hat, wie er es auch gemeint hat. Für mich ist mittlerweile klar durch die vielen anderen Vorbriefen, dass Proust sehr manipulativ mit seinen Mitmenschen umgehen kann.

Zu der Erkrankung seines Vaters ist aus der Fußnote zu entnehmen:
Adrien Proust hatte am Dienstag, dem 24. November, in der medizinischen Fakultät, wo er bei der Verteidigung einer Doktorarbeit der Prüfungskommission vorsaß, eine Hirnblutung erlitten. Sein Sohn Robert transportierte ihn nach Hause (…) wo er am 26. November um 9 Uhr morgens verstarb. Der Figaro brachte in seiner Ausgabe vom 27. November einen langen Nachruf. (346) 


An Anna de Noailles
03. Dezember 1903

Auch hier schreibt Proust über seine Trauer zum verstorbenen Vater. Interessant fand ich zu lesen, dass Proust mit Ruskin abgebrochen hatte, es aber die Mutter schließlich war, die ihn dazu brachte, die Übersetzungsarbeit aus Liebe zu seinem Vater erneut aufzunehmen. Erstaunlich, unter welch starkem Einfluss Proust hier steht.
Aber als nun Mama erfuhr, dass ich den Ruskin aufgegeben hatte, setzte sie sich in den Kopf, dass diese Arbeit alles gewesen sei, was Papa sich sehnlichst gewünscht habe, dass er von einem Tag auf den anderen mit der Veröffentlichung gerechnet habe. (348)

 Proust bewundert seine Mutter, ihre Stärke, nicht an dem Tod seines Vaters zu zerbrechen, aber er weiß auch, dass das nach außen hin nur so wirken kann und macht sich doch große Sorgen um seine liebe Mama.
Mama verfügt über eine solche Energie (eine Energie, die in keiner Weise energisch aussieht und nicht verrät, dass man sich beherrscht), dass es keinen augenfälligen Unterschied zwischen der Mama vor einer Woche und der Mama von heute gibt. Aber ich, der ich weiß, in welchen Tiefen – und auf welcher Dauer – sich das Drama abspielen kann, kann nur Angst um sie haben. (347)

Proust reflektiert die Beziehung zu seinem verstorbenen Vater, an dem er stets bemüht gewesen sein soll, eine gute Beziehung zu pflegen. Er beschreibt seinen Vater als sehr liebenswürdig, obwohl ich aus seinen Briefen eine rechte Distanz zwischen Vater und Sohn vernommen habe. Außerdem gibt es nicht so viele Briefe zwischen ihnen beiden, und es auch der Vater war, der den Sohn als sein Sorgenkind betrachtet hat, wäre da nicht die Mutter gewesen, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn immer auf´s Neue gekittet hat. Aber das weiß Proust auch.
So kann ich auch kaum an meinen eigenen Kummer denken. Und doch leide ich sehr.(…) denn mir ist sehr wohl bewusst, dass ich stets der dunkle Punkt in seinem Leben war-, so habe ich doch versucht, ihm meine Liebe zu beweisen. Und doch gab es Tage, an denen ich mich gegen das allzu Bestimmte, allzu Selbstgewisse in seinen Behauptungen auflehnte, und ich erinnere mich, dass ich vergangenen Sonntag während einer politischen Diskussion Dinge gesagt habe, die ich nicht hätte sagen sollen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das jetzt tut. Es ist mir jetzt so, als wäre ich gegen einen Menschen hart gewesen, der sich schon nicht mehr verteidigen konnte. Ich würde, wer weiß dafür geben, wenn ich an diesem Abend nur von Sanftmut und Zärtlichkeit gewesen wäre. (347f)

Meine Gedanken dazu
Ich fand die Briefe sehr traurig, wenn man bedenkt, was ein Kind alles den Eltern schuldet, und es aus Liebe zu ihnen angehalten wird, das zu tun, was sie von ihm erwarten, sonst wird das Kind mit Liebesentzug und später mit vielen Schuldgefühlen gestraft, sobald die Eltern gestorben sind.
Traurig war für mich auch, dass Proust so jung schon viele Menschen aus seiner Familie verloren hat. Erst die Großeltern mütterlicherseits, und dann der Vater und nicht sehr viel später wird auch die Mutter gehen.

Was ist eigentlich mit den Großeltern väterlicherseits? Diese wurden noch nie erwähnt, sodass ich den Verdacht hege, dass Proust durch deren vorzeitigen Tod sie niemals hat kennenlernen können. Hierbei muss ich nochmals ein wenig im Netz recherchieren.

Hier konnte ich einen Link zu Prousts Großeltern väterlicherseits finden, den ich überflogen habe, ich ihn aber noch vertiefen werde. Der Text wird mir hier nicht mehr verloren gehen, so kann ich nun jeder Zeit darauf zurückgreifen. 

Angeblich sind die Großeltern väterlicherseits doch nicht verstorben. Verwunderlich, dass Proust sie niemals hat erwähnen können. 

Anne hat diesmal auch zwei Zitate gefunden, die sie beschäftigt haben.

Hier Annes Beitrag:
Heute zitiere ich auch mal zwei Textstellen, und zwar handelt es sich um einen Brief an Auguste Marguillier vom 20.? Oktober 1903 - Proust ist mittlerweile 32 Jahre alt:
"Cher Monsieur, Wären Sie so liebenswürdig mir zu sagen, ob mein Artikel über den Ruskin von Madame Broicher jemals in der ,Chronique' erschienen ist? Und falls ja, könnte ich dann ein Exemplar bekommen? Ich war über eine ziemlich lange Zeit abwesend von Paris und konnte daher nicht in die rue Favart kommen, um Sie danach zu fragen." (Seite 344)

Gleich der Folgesatz nach der Frage (und auch Mira erinnerte mich daran) zeigt ja, dass er oft unterwegs war. Aber selbst, wenn er nicht zu Hause war, kann doch trotzdem Post ankommen. Und wurde er vom Auftraggeber nicht benachrichtigt über Veröffentlichungen und wie lief das dann mit seiner Bezahlung?

Interessant fand ich auch den Passus, in dem Proust am 3. Dezember 1903 nach dem Tode des Vaters (26. November 1903) an Anna de Noailles über seine Mutter schreibt:
"Ich wage nicht, mir ernsthaft vorzustellen, wie ihr Leben sein wird, wenn ich bedenke, dass sie den einzigen Menschen, für den sie lebte (ich kann nicht einmal sagen: den sie liebte, denn seit dem Tod ihrer Eltern war jedes andere Gefühl der Zuneigung soviel schwächer im Vergleich dazu), niemals wiedersehen wird." (Seite 347)

Ich weiß natürlich von Paaren, die ohne Liebe zusammen leben, sei es, dass die Ehe arrangiert wurde oder dass die Liebe irgendwann verschwunden ist, und ich weiß auch von Menschen, die nach dem Verlust einer geliebten Partnerin, eines geliebten Partners nicht mehr in der Lage sind, sich auf eine neue Liebe einzulassen. Aber dass man dieses Liebesgefühl nicht mehr zulassen kann, weil man seine Eltern verloren hat, ist mir noch nie untergekommen.

Meine Gedanken dazu
Ja, Anne, die Liebe ist ein Mysterium. Die meisten Bücher, die geschrieben wurden, behandeln die Liebe, und viele Lieder wurden und werden darüber noch gesungen, und trotzdem sind wir nicht weitergekommen, diese Phänomene zu enträtseln. Wäre Madame Proust nicht verheiratet, und hätte sie selbst keine eigene Familie gegründet, dann hätte ich gesagt, sie habe sich von ihrem Elternhaus nicht gelöst. Aber das ist es ja nicht. Außerdem ist dies die Sichtweise des Sohnes über seine trauernde Mutter, die einfach verzerrt ist, weil er gar nicht wissen kann, was ein Mensch innerlich denkt, fühlt, was ihn bewegt, wenn er in eine Krise gerät, selbst wenn es die eigene Mutter ist. In einer Psychotherapie geht es zum Beispiel immer um die Sichtweise des Behandelnden. Man müsste die Mutter fragen, wie sie diese Trauer selbst definieren würde. Aus ihrem Inneren heraus. Selbsteinschätzung versus Fremdeinschätzung. 


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 349 – 359.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Donnerstag, 31. Oktober 2019

Andrej Kurkow / Graue Bienen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Was für ein tolles Buch. Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich der Autor damit in den Bann gezogen, dass ich nach der letzten Seite mit meiner Bücherfreundin Anne telefonieren musste, um ihr von dem Buch zu erzählen. So viel Menschlichkeit hat Kurkow in seinen Figuren gepackt, trotz dieser schweren Zeit des Krieges zwischen Russland, der Ukraine und dem Niemandsland. Ich fand keine Seite langweilig, selbst im ersten Teil nicht, wo es hauptsächlich um zwei Männer geht, die alleine im Dorf zurückgeblieben sind, und sie aufeinander angewiesen sind. Mich hat die Beziehung zwischen diesen zwei Menschen sehr interessiert.

Ich möchte nicht so viele Details verraten, damit auch andere denselben Genuss erleben können, den ich erlebt habe. Ich nenne nur ein paar Fakten, dann mache ich Schluss.

Hier geht es zur Buchvorstellung, zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.


Die Handlung
Der Held dieser Geschichte ist für mich nicht nur Sergej Sergejitsch, auch viele Nebenfiguren habe ich als Helden erlebt. Die meisten sind Zivilisten, aber auch ein paar von den Soldaten zeigten sich von ihrer gutmütigen Seite. Helden deshalb, weil sie für mich alles Menschen sind, die versuchen, in Kriegszeiten das Menschsein nicht zu verlieren.

Aber Sergej ist der Oberheld dieses Romans, der zusammen mit seinem Kindheitsfeind Paschka im Krisengebiet Donbass lebt, in dem ukrainische Kämpfer und prorussische Separatisten sich bekriegen. Die beiden Männer leben in dem kleinen Dorf, während der Rest der Dorfbewohner*innen vor dem Krieg geflohen ist, sodass sämtliche Häuser leer und verlassen stehen. Lediglich die Dorfkirsche wurde zerbombt. Dombass ist eine sogenannte Grauzone, das ich als ein Niemandsland bezeichnen würde.
Nur lebte er, Sergejeitsch, jetzt gleichsam weder in der >Republik< noch im Land. Er war in der grauen Zone, und graue Zonen hatten keine Hauptstädte! (2019, 107)

Sergej ist Bienenzüchter, der sich danach sehnt, mit seinen Bienen ein ruhiges Leben zu führen. Er interessiert sich überhaupt nicht für Politik und wirkt dadurch manchmal ein wenig naiv im Umgang mit Soldaten oder mit der späteren Grenzpolizei. Sergeij liebt seine Bienen, wie andere ihre Haustiere lieben, und zeigt dadurch ein sehr verantwortungsbewusstes Leben ihnen gegenüber.

Er ist 44 Jahre alt und ist Frührentner, da er an einer Staublunge erkrankt ist.

Paschka und er, sie haben sonst niemand, sind beide aufeinander angewiesen, wenn sie nicht in der Einsamkeit verkommen wollen. Außerdem ist die Lebensqualität der beiden Männer dermaßen eingeschränkt, da ihnen der Strom seit drei Jahren abgestellt wurde, und sie dadurch auch kein Fernsehen können, selbst das Handy kann nicht aufgeladen werden und bleiben ohne Verbindung zur restlichen Welt.

Sergej hatte zudem noch Pech mit seiner Familie, da er von Frau und Kind aus anderen Gründen verlassen wurde.

Aus Sorge, Sergejs Bienen könnten den Krieg nicht überleben, es könnte eine Granate auf ihren Bienenstöcken fallen, fühlte sich nun auch Sergej gezwungen, im Frühling sein Heimatdorf mit seinen sechsstöckigen Bienen für eine bestimmte Zeit zu verlassen, Richtung Westen, um die Bienen dort fliegen zu lassen, wo es ruhig ist und wo kein Krieg herrscht. Leicht wird diese Reise nicht, sämtliche Hürden muss er überwinden, Krisengebiete weitestgehend zu umfahren, und sämtliche Checkpoints in einer ruhigen Art zu bezwingen.
Er brachte sie dorthin, wo es still war, wo die Luft sich langsam mit der Süße sich aufblühender Gräser füllte, die bald von blühenden Kirschbäumen, Aprikosenbäumen, Apfelbäumen und Akazien Verstärkung erhalten würden. (200)

Nun blieb Paschka ganz alleine zurück, der auf eine baldige Rückreise hoffte.

Auf dieser Reise lernt Sergej viele Frauen kennen, die ihn in seiner Not unter die Arme greifen. Doch auch Sergej wird vom Schicksal herausgefordert, politischer Helfer für andere Menschen zu werden.

Mehr möchte ich nicht verraten …

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ganz klar, dass das Szenen sind, wo Menschen in einem totalitären und korruptem Staat unschuldig verhaftet und zu Tode gefoltert werden. Furchtbar, wenn einer Familie, den Kindern der Vater und der Mutter der Ehemann genommen wird, der nur noch als Leiche zurückkehren wird. Oder wenn der Journalismus gelinkt wird und man die Meinungsfreiheit abgesprochen bekommt. 

Doch der Krieg hatte auch etwas Gutes. Er verwandelte nämlich zwei Kindsfeinde zu Freunden.

Bis zum Tod hätten sie nicht miteinander geredet. Wäre nicht der Krieg gewesen. (11)

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Es gab so viele Szenen, die mir gut gefallen haben, und es fällt mir schwer, mich auf eine zu fokussieren.

In der Geschichte gibt es eine Szene, in der ein Soldat in Sergejs Nachbardorf den Weihnachtsmann gespielt hat, um den Kindern in dieser tristen Zeit Geschenke zu bringen. Die Kinder hatten sich auf den Weihnachtsmann gefreut, da er sich ja angekündigt hatte. Doch als Weihnachten ohne den Weihnachtsmann kam, waren die Kinder sehr traurig. Sie warteten jeden Tag auf ihn, selbst dann noch, als Weihnachten schon längst vorbei war. Als Sergej in das Dorf ging, um Besorgungen zu tätigen, haben die Kinder gedacht, dass Sergej der Weihnachtsmann sei.

Achtung Spoiler
Doch was die Kinder nicht wussten, ist, dass der Weihnachtsmann ein Soldat war, der tot im Schnee gelegen hat. In der Nähe von Sergejs und Paschkas Haus. Der Soldat kam durch eine Bombe um. Sergej hatte den Soldaten Tage vorher im Schnee gefunden und hatte seinen Rucksack durchwühlt und wunderte sich, dass dieser voller Süßigkeiten war, und er ging von der Annahme aus, dass dieser Soldat Süßigkeiten geliebt haben musste. Da er tot war, nahm Sergej den Rucksack an sich.

Als er das Nachbardorf wieder verlassen hatte, dachte er nochmals über den toten Soldaten nach, über den Rucksack, der mit Süßigkeiten gefüllt war und begriff nun, dass der Weihnachtsmann tot im verschneiten Feld lag, und die Süßigkeiten gar nicht für ihn gedacht waren. Sergej beschloss schließlich, am nächsten Tag den Kindern die Süßigkeiten aus dem Rucksack zu bringen. Das fand ich so schön, wie er es geschafft hat, die Kinder glücklich zu machen.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Mir ist Sergej Sergejitsch ans Herz gewachsen, aber viele andere Figuren fand ich auch spannend und interessant.

Welche Figur war mir antipathisch?
Kann ich nicht sagen. Eher die Grenzpolizisten, die Sergej zu einem Flüchtling degradiert hatten.

Meine Identifikationsfigur
Ich konnte mich in jeder spiegeln.

Cover und Buchtitel
Beides sehr gelungen, gut getroffen. Allerdings hatte ich den Buchtitel anfangs etwas anders gedeutet, was sich aber später gewandelt hat. Die Symbolik Graue Bienen habe ich zum Schluss als sehr surreal erlebt.

Zum Schreibkonzept
Auf den 445 Seiten ist die Geschichte in 74 Kapiteln gegliedert und mit vielen Absätzen verziert, was das Lesen sehr angenehm gemacht hat.

Meine Meinung
Eigentlich ist dies ein Buch, das man zwei Mal lesen müsste. Sergej wurde nachts mit so vielen Alpträumen geplagt, die man psychoanalytisch stärker ins Visier nehmen müsste. Sigmund Freud hätte hier seine Freude gehabt. Nein, seine Träume waren keine Nonsense, sie waren symbolträchtig und tiefgründig, und sie spiegelten auch oft Sergejs Ängste wider, wenn auch der letzte Traum ein wenig kafkaeske Züge aufwies.

Was die Liebe zu den Bienen betrifft, da stehe ich dem ein wenig ambivalent gegenüber. Weil den Tieren, die eigentlich den Honig für sich und für ihr Bienenvolk herstellen, ihn weggenommen bekommen. Sie sind dadurch immer am Schaffen, am Produzieren, ohne selbst etwas von dem Honig zu haben. Dies ist der Grund, weshalb Veganer*innen keinen Honig essen. Die Bienen produzieren, und produzieren und produzieren, immer auf Akkord, ständig sind diese Tiere am Schaffen, was eigentlich mit einer absoluten Ausbeutung zu vergleichen wäre. Die Bienen werden, wenn man es genau nimmt, regelrecht ausgeraubt … Dadurch, dass sie indirekt zum vielen Abreiten gezwungen werden, sinkt auch ihre Lebenserwartung, da ihnen die Lebensgrundlage genommen wird.

Mein Fazit
Es ist nicht nur ein Kriegsbuch, sondern auch ein Buch über Freundschaft in vielerlei Hinsicht. Ein sehr lesenswertes Buch, das mich auch politisch gepackt hat. Die Thematik ist eingebettet in eine sehr schöne und sehr fantasievolle, literarische und in eine sehr warme Sprache, ohne die Ernsthaftigkeit der menschlichen Nöte in Zeiten des Krieges in Zweifel zu stellen.

Ich werde Andrej Kurkow nun auch zu meinen Favoriten gesellen.


Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismu
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.


Weitere Information zu dem Buch

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes - Verlag für das Bereitstellen des Rezensionsexemplars.

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Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

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