Sonntag, 5. Mai 2019

Familiärer Austausch

Die ersten Proust-Briefe mit Familienmitgliedern, 1879-1887  

Kindheit und Jugend in den Briefen
Mit den ersten beiden Briefen, April 1879 und Febr. 1881 war Marcel gerade mal sieben und neun Jahre alt, als er sich schon ans Schreiben machte, was ich phänomenal fand. Ein quicklebendiges, neugieriges und fabulierfreudiges Kind, das sich in der Auseinandersetzung mit hoher Literatur und im Umgang mit seinen Mitmenschen befindet. Was mir auffällt, ist, dass sich der kleine, sensible Proust in seinen Briefen hauptsächlich mit Erwachsenen beschäftigt und kaum etwas mit seinen Altersgenossen zu tun hat. Eine reife Seele in einem Kinderkörper? So kommt mir der Kleine vor. Er schreibt hier an seine Großeltern mütterlicherseits Nathé und Adèle Weil. Mit neun Jahren schreibt er seinen ersten Brief auf Deutsch. Mit neun Jahren lernt er auch Deutsch und Latein, 18 Monate bevor er aufs Gymnasium wechselt. Später scheint er ein humanistisches Gymnasium zu besuchen, da er hier auch Altgriechisch und Geschichte lernt. Dadurch wird er mit der griechischen Mythologie vertraut gemacht. Der junge Marcel saugt wie ein Schwamm alles auf, was er literarisch und zwischenmenschlich aufgetragen bekommt. Ein Junge mit so einer immensen Begabung kann unmöglich den Umgang zu Gleichaltrigen gesucht haben.

Auf Seite 87 geht aus dem Brief an die Großmutter hervor, dass er das Briefeschreiben vorzieht, um ihr eine Madame Catusse zu beschreiben, anstatt mit seinen Kameraden Krocket spielen zu gehen.
Mit zehn Jahren liest Marcel schon Dramen und Theaterstücke. Zudem liest er Honoré de Balzac, und Théophile Gautiers und zitiert daraus reichlich in seinen Briefen an die Großeltern.

Ein Faible hat er auch für ältere Frauen, was mir schon in seiner Recherche über die Madame Guermantes aufgefallen ist. Madame Marie-Marguerite Catusse ist hier eine junge Dame im geschätzten Alter zwischen 23 und 25 Jahren. Sie scheint eine Opernsängerin zu sein. Marcel war zu der Zeit 15 Jahre alt, als er ihren Umgang suchte. Die junge Frau ging eine Freundschaft mit Marcels Mutter ein. Der Kontakt mit dieser Frau blieb selbst dann noch bestehen, als seine Mutter 1905 aus dem Leben schied. Madame Catusse blieb eine intime Vertraute von Marcel ...

Eine prächtige Charakterisierung über diese Frau brachte der junge Marcel im Brief an die Großmutter zustande, die aber der Großmutter missfiel. Seine Reaktion dazu:
Ma chère Grand` mère,danke mir nicht für diesen Brief. Seit der Standpauke letzthin habe ich außerdem Angst, erneut gestriegelt zu werden. Aber Madame Catusse hat mir eine kleine Arie versprochen, wenn ich damit anfange, sie für dich zu porträtieren, eine große Arie, wenn ich damit fertig bin, und für alles zusammen alle Arien, die ich will. (2016, 87)

Hier habe ich mich gefragt, was eine Madame Catusse dazu treibt, sich mit einem minderjährigen Jungen abzugeben, doch es scheint wohl die Kunst, die sie beide verbindet, dazu geführt zu haben. Und hierbei zählt der Altersunterschied keine Rolle. Es sind die verwandten Seelen, die sich finden, würde der alte Goethe wohl sagen.

Madame Catusse schienen Prousts literarische Vorlieben und seine Fantasien dazu, Menschen zu beobachten und zu beschreiben, aufgefallen zu haben, zu denen sie sich ein wenig narzisstisch hingezogen fühlt, denn warum sonst möchte sie von dem jungen Proust porträtiert werden? Andere Künstler malen mit Aquarelle, Marcel malt seine Figuren mit der Feder.

Aus dieser Feder wurden schon die ersten Figuren der Recherche geboren. Marcel übt sein Metier über das Schreiben von Briefen, das später übergeht in seinen siebenbändigen Büchern Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Was ist noch aus diesen zehn Seiten zu entnehmen? Proust hat noch einen jüngeren Bruder namens Robert, der auf diesen Seiten nur peripher erwähnt wird, weil Robert noch zu klein ist. Einen Robert gibt es aber auch in der Recherche … Marcels Vater, Adrien Proust, ist Zahnarzt von Beruf.
Marcel beschäftigt sich auch mit anderen Charakteren und lernt den Kollegen seines Vaters Magitot kennen, der aus den Briefen einer Madame Victorine Ackermann, geb. Choquet, Literatin, zitiert:
Um, wie der Burgherr von Auteuil zu sagen pflegt, der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich im Übrigen sagen, dass der Doktor ein sehr gutmütiger Mann ist, sehr offen, sehr natürlich, sehr gebildet, sehr klug. Er hat sich anderntags damit vergnügt, vor einem Publikum höchst devoter Frauen und Ehemänner atheistische und gotteslästerliche Verse einer Madame Ackermann zu lesen und von A bis Z zu beweisen, dass die Religionen menschliche Einrichtungen seien, die den gesellschaftlichen Fortschritt aufhielten (…). (89)

Auf Seite 91 geht hervor, dass Marcels Mutter, Jeanette Weil, ihren Vater bittet, einen Brief vom Enkel sofort nach dem Lesen wieder zu vernichten. Auch hier zeigt sich, dass die Briefe peinlich berühren konnten. Den Brief an eine Madame Antoinette Faure hatte die Mutter sogar selbst zerrissen, angeblich, weil die Schrift zu schlecht sei, aber Marcel vermutet eher politische Motive, die darin beschrieben wurden.

Meine Meinung zu den ersten zehn Seiten, (81-91)
Wie gehaltvoll Marcels Werke sind, sowohl seine Briefe als auch seine anderen Werke, zeigen, wie viel auf diesen zehn Seiten zu entnehmen ist. Wenn ich sie nicht aufschreiben würde, hätte ich das ganz schnell wieder vergessen, denn der Inhalt wird nach dem Lesen im Schreibprozess noch weiter intensiviert und dadurch besser verarbeitet.

Ich finde es schön, dass in den Briefen auch männliche Autoritäten erwähnt werden, wie zum Beispiel den Großvater und den Vater, die mir in der Recherche ein wenig zu kurz gekommen sind.

Ich finde diesen jungen Marcel sehr sympathisch, was später aber bei mir wieder kippen wird, wenn er Menschen von oben herab behandelt und so blasiert daherredet. Man merkt, dass er seine Zeit zu sehr mit Erwachsenen verbringt und sich schon recht früh mit schweren Themen befasst, sodass diese unbeschwerte Kindheit, die er auch hatte, aber einen Schatten abgeworfen zu haben scheint, wenn er als Erwachsener zu altklug erscheint.

Ich bin so neugierig auf die weiteren Briefe, und so lassen wir das Ganze noch weiter in uns sacken.

Marcel Proust ist für mich in der Literatur, was ein Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik ist, denn auch Mozart begann schon recht früh zu musizieren; er komponierte im Kindesalter auch erste Musikstücke. 

Telefongespräch mit Anne, 05.05.19
Ich habe mit Anne telefoniert, und ich bin richtig froh, dass auch sie die Briefe interessant findet. Wir haben unsere gemeinsamen Eindrücke geteilt. Anne hat zudem herausgefunden, dass Marcel Prousts Mutter deutsche Jüdin ist. Das hatte ich nämlich auch vermutet, da die Mutter mit Mädchennamen Weil heißt. Dass Proust Jude war, das ließ sich schon aus der Recherche herauslesen. Anne und ich waren beide erstaunt darüber, wie früh der kleine Marcel schon begonnen hatte, sich literarisch auseinanderzusetzen. Seine Ausdrucksweise faszinierte uns einerseits, doch aus der Feder eines Zehnjährigen wirkte sie ein wenig zu reif. Lange Briefe erstaunten uns, aber auch die kurzen, die aus einem Vierzeiler stammen, sind sehr einfallsreich. Was wir als mühselig empfunden haben, sind die vielen Unterbrechungen durch die Fußnoten. Positiv haben wir erlebt, dass die Fußnoten nicht hinten in einem gesonderten Glossar abgedruckt sind, sondern noch auf derselben Seite, am Ende eines Schreibens. Uns beschäftigt noch die Frage, weshalb Marcel Proust seiner fiktiven Figur aus der Recherche seinen Namen vergeben hat? Wir hoffen auf eine Lösung durch die Briefe.

Am 06. Mai 2017 hatten wir begonnen zu lesen. Ich kopiere mal unsere ersten Leseeindrücke rein, ich zitiere:

Erster Eintrag von 06.05.2017
Ich habe mit den Briefen begonnen, ich habe allerdings aus dem ersten Band erst die Chronologie geschafft, die relativ umfangreich ist. Die Briefe daraus beginne ich nächste Woche mit meiner Lesepartnerin Anne-Marit zu lesen. Aus der Chronologie konnte ich viel Interessantes entnehmen, ein paar wenige Fakten möchte ich auch hier festhalten, Weiteres ist meiner separaten Buchbesprechung zu entnehmen.

Wie den meisten bekannt ist, ist Marcel Proust Asthmatiker gewesen. Dadurch hat er permanent den Tod vor Augen gehabt, musste jede Menge Anfälle über sich ergehen lassen. Solche Asthmaanfälle sind schon erschreckend, wenn man sich vorstellt, dass einem die Luft wegbleibt und man zu ersticken droht. Durch seine Atemwegserkrankung ist Proust tatsächlich nicht alt geworden. Er starb mit 51 Jahren (1871-1922).
Als er noch lebte, quälte ihn die Sorge, er würde vorzeitig sterben, ohne seine Recherche beendet zu haben. Außerdem hatte er Angst, seine vielen Briefe, die teilweise sehr persönlich sind, würden veröffentlicht werden, kaum dass er tot sei. Ich denke mir dabei, dass er selbst die Wahl hatte. Er hätte die Briefe vor seinem Tod verbrennen können. Aber er tat das nicht, also stand er einer Veröffentlichung ambivalent gegenüber.

Worunter er noch litt, war sein Ruf. Nicht wenige bezeichneten ihn als einen Snob. Darüber musste ich so schmunzeln, denn auch ich zähle mich zu den Leser*innen, die ihn für arg blasiert hielten, siehe im oberen Text. Interessant, dass ich mit dieser Charakterisierung nicht alleine dastehe.

Sorgen bereitete ihm auch, dass die Leser*innen zwischen dem fiktiven und dem realen Marcel nicht unterscheiden könnten. Diese Sorge ist berechtigt, denn ich selbst stellte mir wiederholt die Frage, weshalb Proust dem Protagonisten aus der Recherche denselben Vornamen verpasst hatte? Nicht nur die Leser*innen sind vor diese Herausforderung gestellt, die beiden Marcels auseinanderzuhalten. Auch er, Marcel Proust, der Vater des fiktiven Marcels, muss selbst vor dieser schweren Aufgabe gestanden haben, beide Marcels auseinanderzuhalten. Wie kann er einen fiktiven Marcel kreieren und gleichzeitig Abstand gewinnen zwischen den beiden gleichen Namensträgern?

In seinen siebenbändigen Büchern gibt es sehr wohl Parallelen zu seinem eigenen Leben. Dies zeigt mir, dass es ihm nicht gelungen ist, sich als realer Marcel von dem fiktiven Marcel zu distanzieren. Warum aber war es ihm so wichtig, seinem Protagonisten seinen Namen zu verpassen? Vielleicht gibt es in den Briefen eine Antwort dazu, denn er muss sich ja etwas dabei gedacht haben.



DIe ersten Proust-Briefe mit Familie

Die ersten Proust-Briefe, 1879-1887   

Kindheit und Jugend in den Briefen
Mit den ersten beiden Briefen, April 1879 und Febr. 1881 war Marcel gerade mal sieben und neun Jahre alt, als er sich schon ans Schreiben machte, was ich phänomenal fand. Ein quicklebendiges, neugieriges und fabulierfreudiges Kind, das sich in der Auseinandersetzung mit hoher Literatur und im Umgang mit seinen Mitmenschen befindet. Was mir auffällt, ist, dass sich der kleine, sensible Proust in seinen Briefen hauptsächlich mit Erwachsenen beschäftigt und kaum etwas mit seinen Altersgenossen zu tun hat. Eine reife Seele in einem Kinderkörper? So kommt mir der Kleine vor. Er schreibt hier an seine Großeltern mütterlicherseits Nathé und Adèle Weil. Mit neun Jahren schreibt er seinen ersten Brief auf Deutsch. Mit neun Jahren lernt er auch Deutsch und Latein, 18 Monate bevor er aufs Gymnasium wechselt. Später scheint er ein humanistisches Gymnasium zu besuchen, da er hier auch Altgriechisch und Geschichte lernt. Dadurch wird er mit der griechischen Mythologie vertraut gemacht. Der junge Marcel saugt wie ein Schwamm alles auf, was er literarisch und zwischenmenschlich aufgetragen bekommt. Ein Junge mit so einer immensen Begabung kann unmöglich den Umgang zu Gleichaltrigen gesucht haben.

Auf Seite 87 geht aus dem Brief an die Großmutter hervor, dass er das Briefeschreiben vorzieht, um ihr eine Madame Catusse zu beschreiben, anstatt mit seinen Kameraden Krocket spielen zu gehen.
Mit zehn Jahren liest Marcel schon Dramen und Theaterstücke. Zudem liest er Honoré de Balzac, und Théophile Gautiers und zitiert daraus reichlich in seinen Briefen an die Großeltern.

Ein Faible hat er auch für ältere Frauen, was mir schon in seiner Recherche über die Madame Guermantes aufgefallen ist. Madame Marie-Marguerite Catusse ist hier eine junge Dame im geschätzten Alter zwischen 23 und 25 Jahren. Sie scheint eine Opernsängerin zu sein. Marcel war zu der Zeit 15 Jahre alt, als er ihren Umgang suchte. Die junge Frau ging eine Freundschaft mit Marcels Mutter ein. Der Kontakt mit dieser Frau blieb selbst dann noch bestehen, als seine Mutter 1905 aus dem Leben schied. Madame Catusse blieb eine intime Vertraute von Marcel ...

Eine prächtige Charakterisierung über diese Frau brachte der junge Marcel im Brief an die Großmutter zustande, die aber der Großmutter missfiel. Seine Reaktion dazu:
Ma chère Grand` mère,danke mir nicht für diesen Brief. Seit der Standpauke letzthin habe ich außerdem Angst, erneut gestriegelt zu werden. Aber Madame Catusse hat mir eine kleine Arie versprochen, wenn ich damit anfange, sie für dich zu porträtieren, eine große Arie, wenn ich damit fertig bin, und für alles zusammen alle Arien, die ich will. (2016, 87)
Hier habe ich mich gefragt, was eine Madame Catusse dazu treibt, sich mit einem minderjährigen Jungen abzugeben, doch es scheint wohl die Kunst, die sie beide verbindet, dazu geführt zu haben. Und hierbei zählt der Altersunterschied keine Rolle. Es sind die verwandten Seelen, die sich finden, würde der alte Goethe wohl sagen.

Madame Catusse schienen Prousts literarische Vorlieben und seine Fantasien dazu, Menschen zu beobachten und zu beschreiben, aufgefallen zu haben, zu denen sie sich ein wenig narzisstisch hingezogen fühlt, denn warum sonst möchte sie von dem jungen Proust porträtiert werden? Andere Künstler malen mit Aquarelle, Marcel malt seine Figuren mit der Feder.

Aus dieser Feder wurden schon die ersten Figuren der Recherche geboren. Marcel übt sein Metier über das Schreiben von Briefen, das später übergeht in seinen siebenbändigen Büchern Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Was ist noch aus diesen zehn Seiten zu entnehmen? Proust hat noch einen jüngeren Bruder namens Robert, der auf diesen Seiten nur peripher erwähnt wird, weil Robert noch zu klein ist. Einen Robert gibt es aber auch in der Recherche … Marcels Vater, Adrien Proust, ist Zahnarzt von Beruf.
Marcel beschäftigt sich auch mit anderen Charakteren und lernt den Kollegen seines Vaters Magitot kennen, der aus den Briefen einer Madame Victorine Ackermann, geb. Choquet, Literatin, zitiert:
Um, wie der Burgherr von Auteuil zu sagen pflegt, der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich im Übrigen sagen, dass der Doktor ein sehr gutmütiger Mann ist, sehr offen, sehr natürlich, sehr gebildet, sehr klug. Er hat sich anderntags damit vergnügt, vor einem Publikum höchst devoter Frauen und Ehemänner atheistische und gotteslästerliche Verse einer Madame Ackermann zu lesen und von A bis Z zu beweisen, dass die Religionen menschliche Einrichtungen seien, die den gesellschaftlichen Fortschritt aufhielten (…). (89)

Auf Seite 91 geht hervor, dass Marcels Mutter, Jeanette Weil, ihren Vater bittet, einen Brief vom Enkel sofort nach dem Lesen wieder zu vernichten. Auch hier zeigt sich, dass die Briefe peinlich berühren konnten. Den Brief an eine Madame Antoinette Faure hatte die Mutter sogar selbst zerrissen, angeblich, weil die Schrift zu schlecht sei, aber Marcel vermutet eher politische Motive, die darin beschrieben wurden.

Meine Meinung zu den ersten zehn Seiten, (81-91)
Wie gehaltvoll Marcels Werke sind, sowohl seine Briefe als auch seine anderen Werke, zeigen, wie viel auf diesen zehn Seiten zu entnehmen ist. Wenn ich sie nicht aufschreiben würde, hätte ich das ganz schnell wieder vergessen, denn der Inhalt wird nach dem Lesen im Schreibprozess noch weiter intensiviert und dadurch besser verarbeitet.

Ich finde es schön, dass in den Briefen auch männliche Autoritäten erwähnt werden, wie zum Beispiel den Großvater und den Vater, die mir in der Recherche ein wenig zu kurz gekommen sind.

Ich finde diesen jungen Marcel sehr sympathisch, was später aber bei mir wieder kippen wird, wenn er Menschen von oben herab behandelt und so blasiert daherredet. Man merkt, dass er seine Zeit zu sehr mit Erwachsenen verbringt und sich schon recht früh mit schweren Themen befasst, sodass diese unbeschwerte Kindheit, die er auch hatte, aber einen Schatten abgeworfen zu haben scheint, wenn er als Erwachsener zu altklug erscheint.

Ich bin so neugierig auf die weiteren Briefe, und so lassen wir das Ganze noch weiter in uns sacken.

Marcel Proust ist für mich in der Literatur, was ein Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik ist, denn auch Mozart begann schon recht früh zu musizieren; er komponierte im Kindesalter auch erste Musikstücke. 

Telefongespräch mit Anne, 05.05.19
Ich habe mit Anne telefoniert, und ich bin richtig froh, dass auch sie die Briefe interessant findet. Wir haben unsere gemeinsamen Eindrücke geteilt. Anne hat zudem herausgefunden, dass Marcel Prousts Mutter deutsche Jüdin ist. Das hatte ich nämlich auch vermutet, da die Mutter mit Mädchennamen Weil heißt. Dass Proust Jude war, das ließ sich schon aus der Recherche herauslesen. Anne und ich waren beide erstaunt darüber, wie früh der kleine Marcel schon begonnen hatte, sich literarisch auseinanderzusetzen. Seine Ausdrucksweise faszinierte uns einerseits, doch aus der Feder eines Zehnjährigen wirkte sie ein wenig zu reif. Lange Briefe erstaunten uns, aber auch die kurzen, die aus einem Vierzeiler stammen, sind sehr einfallsreich. Was wir als mühselig empfunden haben, sind die vielen Unterbrechungen durch die Fußnoten. Positiv haben wir erlebt, dass die Fußnoten nicht hinten in einem gesonderten Glossar abgedruckt sind, sondern noch auf derselben Seite, am Ende eines Schreibens. Uns beschäftigt noch die Frage, weshalb Marcel Proust seiner fiktiven Figur aus der Recherche seinen Namen vergeben hat? Wir hoffen auf eine Lösung durch die Briefe.


Mittwoch, 1. Mai 2019

Marcel Proust Briefe 1879 - 1913 (1)

Lesen mit Anne   

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Wie ich in der Buchvorstellung schon verkündet habe, lesen Anne und ich die Briefe von Marcel Proust, BD 1 von 1879 – 1913, 2016 im Suhrkamp-Verlag erschienen, allerdings nur häppchenweise, damit wir den Inhalt besser reflektieren und verinnerlichen können. Wir lesen jeden Samstag / Sonntag zehn Seiten, deren Inhalt ich hier dann festhalten werde. Wir machen daraus ein literarisches Ritual.

Jeden neuen Eintrag stelle ich oben an, damit wir immer auf dem neusten Stand sind. Die älteren Beiträge können unten im Text immer nachgelesen werden. Weiter unten, erster Beitrag von Mai 2017, befindet sich zu dem Buch der erste Blogeintrag. 

Änderung: Ich werde die Beiträge nun doch nicht alle auf eine Seite posten, denn sonst verlieren wir den Überblick, wenn immer mehr besprochene Briefe hinzukommen. Wir haben uns eine Struktur überlegt. Ich werde jede Abhandlung mit einem Untertitel versehen, sodass wir bstimmte Beiträge im Label Proust-Briefe schneller finden können. 

Wir hatten schon vor zwei Jahren, Mai 2017, mit den Briefen begonnen. Da sie aber so anstrengend zu lesen waren, hatten wir irgendwann den Faden verloren und aufgehört weiter zu lesen. Das waren sehr teure Bände, und es wäre sehr schade, wenn die Bücher im Regal ungelesen verkommen. Jetzt geben wir Proust eine weitere Chance, auch weil ich wieder totale Lust auf ihn habe, konnte ich somit glücklicherweise auch Anne mit ins Boot holen. 


Anne hat sich bereit erklärt, ein Personenregister zu entwerfen. Es werden verschiedene Listen sein, auf denen alle wichtigen Namen aus dem Buch darauf übertragen werden, denn sonst befürchten wir, irgendwann Probleme zu bekommen, wenn die Namen nicht mehr richtig zugeordnet werden können. 

Und im Folgenden geht es unten durch Mausklick zu den Listen, die Anne zügig umgesetzt hat, und die sie regelmäßig aktualisieren wird.
Prousts Briefpartner*innen
Fußnoten Frauen
Fußnoten Männer
Marcel Valentin Louis Eugéne Georges Proust kommt am 10.07.1871 in Auteuil zur Welt. Der Bruder Robert kommt am 24.05.1873 zur Welt.

Obere Abbildung, Proust-Briefe, die auf Wikipedia als gemeinfrei deklariert sind.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.



Temple Grandin / Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier

Klappentext         
Eine Autistin entdeckt die Sprache der Tiere
Nur einer hochbegabten Autistin wie Temple Grandin konnte es gelingen, das Verhalten von Tieren so genau zu beobachten und zu analysieren, dass sie mehr über sie verstand als die meisten anderen Menschen. Denn Tiere sind uns ähnlich, viel mehr, als wir bislang dachten.Temple Grandin gehört zu den wenigen Autisten, denen es gelang, sich die Welt der Sprache zunutze zu machen, um ihre Welt der Farben, Bilder und Filme anderen zugänglich zu machen. Sie machte eine beispiellose Karriere und gilt heute als eine der weltweit bedeutendsten Tierpsychologinnen. Denn sie kann die Welt so sehen, wie es Tiere tun. Und deshalb kann sie das Verhalten, die Begabungen und Ängste von Tieren verstehen und so den Umgang mit ihnen verbessern helfen.Immer wieder findet Temple Grandin bestätigt, wie sehr ihre eigene Wahrnehmung derjenigen von Tieren ähnelt. In ihrem Bewusstsein und ihrem Gedächtnis sind nur Bilder, die sie für die Außenwelt in Worte übersetzt. Und sie kann Gedanken und Gefühle von Tieren in unsere Sprache übersetzen. Damit revolutioniert sie unser Verständnis von Tieren.

Autorinporträt
Ich finde es immer sehr schade, wenn in einem Buch das Autor*innenporträt fehlt. Kommt häufig vor, und so muss ich mir über Wikipedia aushelfen. Nur die wichtigsten Daten habe ich herauskopiert, deckt sich mit dem, was ich von der Autorin weiß.
Mary Temple Grandin (* 29. August 1947 in Boston) ist die führende US-amerikanische Spezialistin für den Entwurf von Anlagen für die kommerzielle Viehhaltung. Sie ist Dozentin für Tierwissenschaften an der Colorado State University in Fort Collins und Autistin.

Meine ersten Leseeindrücke
Hier geht es nicht darum, die Tiere vor dem Schlachten zu retten. Hier geht es eher darum, dass die Tiere ohne viel Leid geschlachtet werden, dass es gelingt, mit einem einzigen Bolzenschuss sie zu töten, damit die Tiere es nicht merken, dass sie getötet werden. Die Autorin spricht von einem humanen Sterben. Der Ausdruck gefällt mir gar nicht, denn zu töten hat absolut nichts mit Humanität zu tun, aber so wie die Autorin es erklärt, kann ich es auch verstehen. Unter humanem Sterben versteht Temple Grandin eine Tierbehandlung ohne Qualen, im Leben und auch während dem Schlachten sie würdevoll zu behandeln, wo man mittlerweile auch beobachten konnte, dass die Bolzenschüsse nicht immer gelingen und die Tiere werden halbbetäubt zu Fall gebracht... Ich kenne einen deutschen Film, in dem die Bäuerin ihre Tiere liebevoll behandelt hat, sie die Tiere aber trotzdem schlachten konnte. Sie nahm ihr Schwein in die Arme, drückte es, die Schweine waren zahm, und versetzte dem Tier einen tödlichen Messerstich. Auch grausam, aber das Tier lebte in Freiheit und in Liebe. Wenigstens das. Was mich überzeugt hat, dass es keine Nutztiere mehr gäbe, wenn der Mensch aufhören würde Fleisch zu konsumieren. Kein Farmer / Bauer würde weiterhin Tiere züchten. Dann muss ich sagen, das wäre nicht das Schlechteste. Dann gäbe es halt keine Zuchttiere mehr, wenn dafür dieses ewige Blutvergießen aufhören würde. Das wäre für mich die bessere Alternative. Ich brauche kein Fleisch, ich esse seit dreißig Jahren kein Fleisch mehr. Angewidert hat es mich schon als Kind, konnte es aber gegen meine Eltern nicht durchsetzen, fleischfrei meine Mahlzeit einzunehmen. Ich habe gesehen, wie meine Großeltern die Hühner geköpft hatten. Das fand ich grausam, dies als Kind gesehen zu haben. Andere Kinder sehen so etwas auch, sie aber trotzdem weiterhin Fleisch konsumieren. Jedes Kind geht anders damit um. Es ist also nicht gesagt, dass man per se zu einer Vegetarierin wird, wenn man dem Schlachten zugeschaut hat.

Ich habe derzeit fünfzig Seiten gelesen, werde heute den Feiertag nutzen, weiter zu kommen.

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Format: Kindle Ausgabe
·         Dateigröße: 2004 KB
·         Seitenzahl der Print-Ausgabe: 372 Seiten
·         ISBN-Quelle für Seitenzahl: 3945668107
·         Verlag: Rad und Soziales (14. November 2013)
·         Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
·         Sprache: Deutsch, 17,90 €

Hier geht es zur Verlagsseite Rad und Soziales.
Hier geht es zur Buchbesprechung.


Montag, 29. April 2019

Marcel Proust Briefe 1879-1913



   Ich glaube nicht an Briefe, die nicht ankommen. 
(Marcel Proust)

Lesen mit Anne
Seit Okt. 2020 ist Anne aus dem Leseprojekt ausgestiegen, da sie zu Proust nicht dieselebe Bindung habe finden können, wie ich sie hätte. 


Klappentext
Das Panorama einer ganzen EpocheMarcel Proust war ein äußerst produktiver Briefschreiber. Für den Dichter, der häufig ans Bett gefesselt war, trat der Brief oft an die Stelle des persönlichen Gesprächs. In seinen Korrespondenzen erleben wir den Autor von den verschiedensten Seiten: als Schriftsteller, der mit seinem Verleger bis buchstäblich zum letzten Atemzug um jede Zeile seines Werkes kämpft. Als mutigen Literaten, der im Skandalprozess um den jüdischen Hauptmann Dreyfus früh das Wort ergreift und sich für den zu Unrecht Verurteilten einsetzt. Als Muttersohn und als Werbenden in homoerotischen Freundschaften. Immer wieder brilliert Proust auch als witziger Erzähler mit Blick fürs skurrile Detail. Wie er sich verzweifelt gegen Handwerkerlärm aus der Nachbarwohnung zur Wehr setzt oder auf groteske Finanztransaktionen einlässt, gehört zu den amüsantesten Aspekten dieser Korrespondenz.Diese erste umfassende deutsche Briefausgabe mit ihren annähernd 600 Briefen an Freunde, an die Mutter, an Schriftstellerkollegen, Gesellschaftsmenschen, Kritiker und Verleger dokumentiert aus Prousts unzensiert-privater Sicht seine ganze Entwicklung von den frühen literarischen Fingerübungen bis hin zur Vollendung der Recherche. Einleitung, ausführliche Stellenkommentare, Zeittafel, Kurzporträts aller Briefempfänger und Register erschließen die Briefe und damit das faszinierende Panorama einer ganzen Epoche.

Autorenporträt
Marcel Proust wurde am 10. Juli 1871 in Auteuil geboren und starb am 18. November 1922 in Paris. Sein siebenbändiges Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist zu einem Mythos der Moderne geworden.Eine Asthmaerkrankung beeinträchtigte schon früh Prousts Gesundheit. Noch während des Studiums und einer kurzen Tätigkeit an der Bibliothek Mazarine widmete er sich seinen schriftstellerischen Arbeiten und einem – nur vermeintlich müßigen – Salonleben. Es erschienen Beiträge für Zeitschriften und die Übersetzungen zweier Bücher von John Ruskin. Nach dem Tod der über alles geliebten Mutter 1905, der ihn in eine tiefe Krise stürzte, machte Proust die Arbeit an seinem Roman zum einzigen Inhalt seiner Existenz. Sein hermetisch abgeschlossenes, mit Korkplatten ausgelegtes Arbeits- und Schlafzimmer ist legendär. In Swanns Welt, der erste Band von Prousts opus magnum, erschien 1913 auf Kosten des Autors im Verlag Grasset. Für den zweiten Band, Im Schatten junger Mädchenblüte, wurde Proust 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Die letzten Bände der Suche nach der verlorenen Zeit wurden nach dem Tod des Autors von seinem Bruder herausgegeben.

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 1479 Seiten
·         Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 1 (11. September 2016)
·         Sprache: Deutsch, 78,-€
·         ISBN-10: 3518425404

Hier geht es zu der Verlagsseite von Suhrkamp .

Sonntag, 28. April 2019

Lukas Hartmann / Der Sänger (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Eine gelungene aber eine sehr traurige Biografie zu dem 38-jährigen jüdischen Tenorsänger Joseph Schmidt, der als deutscher Caruso gefeiert wird, hat uns der Autor Lukas Hartmann hinterlegt. Bis zum Schluss hat mich die Thematik gepackt. Sehr gut geschrieben. Diese Lektüre sollte den Buchpreis bekommen.

Es ist eine so ernste Thematik, die gegenwärtig in unsere politische Zeit passt, dass ich das Bedürfnis verspüre, meine Buchbesprechung ein wenig zu intensivieren. So viele wichtige Zitate möchte ich gerne hier reinstellen, damit ich sie immer wieder nachlesen kann, wenn mich das Thema immer wieder neu beschäftigen wird. Wer die Absicht hat, das Buch selbst zu lesen, sollte meine Buchbesprechung vorher lieber überspringen und sich auf die Buchvorstellung, siehe Link unten, beschränken.

Hier geht es zur Buchvorstellung; zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Hauptfigur dieser Geschichte ist Joseph Schmidt, der gerademal 1,54 Meter groß ist. Obwohl Schmidt nur auf dem Papier Jude ist, wird er 1942 trotzdem von den Nazis verfolgt. Einmal Jude immer Jude, das behaupten selbst die gläubigen Juden unter sich. Auch Künstler*innen sind vor den Nazis nicht geschützt.

Schmidt begibt sich auf die Flucht in die Schweiz. Er hatte sich schon in Frankreich in der Villa Phoebus für mehrere Wochen versteckt. Doch auch dort ist Schmidt nicht mehr sicher und flüchtet mit seiner Begleiterin Selma Wolkenheim in die Schweiz, da die Schweiz im Zweiten Weltkrieg politisch neutral war.

Schmidt war ein gefeierter Sänger, überall beliebt, auch bei Frauen, aber eine feste Bindung war er nicht in der Lage zu schließen, obwohl er mit einer Frau einen siebenjährigen Sohn besitzt und er selbst sich nur als den Erzeuger betrachtet aber nicht als Vater des Kindes. Sein Herz gehörte allein der Musik und er war nicht bereit, es mit jemand anderem zu teilen. Aber ob dies der alleinige Grund ist? Schmidt hatte einen autoritären Vater namens Wolf Schmidt, der streng seine religiösen Praktiken nachging, an die sich die Kinder anzupassen hatten. Wolf prügelte auch auf die Kinder ein, wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnten …
Die Wünsche dieses Manns, der wollte, dass Joseph fehlerlos den Talmud zitierte, konnte er nicht erfüllen. Nein, (den) Vater, der die ganze Familie in autoritärem Bann hielt, hatte (Joseph) nicht geliebt, sich vergeblich nach Zuwendung, nach Lob gesehnt. (2019, 36) 

Die Schweiz ist dicht, die Grenzen werden geschlossen, da sie mit der Masse an Flüchtlingen nicht fertig wird und so gerät dieses Land in eine schwere Prüfung der Mitmenschlichkeit.
Dabei bemühen wir uns intensiv, das Wohl der Einzelnen, zunächst der Einheimischen, der hier Aufgewachsenen, im Auge zu behalten, und ebenso das Gesamtwohl des Vaterlandes. Und dennoch dürfen wir gegenüber dem wachsenden Flüchtlingselend, das uns aus den Akten entgegenschreit, nicht unempfindlich werden. Je mehr bei uns (…) über die Greueltaten (sic) in Konzentrationslagern bekannt wird, zu desto harscheren Reaktionen führen unsere Rückweisungen in einem Teil der Bevölkerung, zu immer deutlicheren Protesten in der linken Presse und bei den jüdischen Organisationen, während die andere Seite unsere Entscheidungen, die an die Gesetze und an die Beschlüsse des Bundesrats gebunden sind, durchaus billigt. (…) Gegenwärtig halten sich mindestens neuntausend Flüchtlinge in der Schweiz auf, und eine Weiterreise des europäischen Kontinents   (…) ist angesichts der Kriegslage und der fortdauernden Dominanz, nicht mehr möglich. Sie werden bei uns bleiben und die Bundeskasse mit Millionenkosten belasten, so lange, bis der Krieg irgendwann zu Ende ist. (64)

Schmidt wurde mithilfe eines Schleppers über die Schweizer Grenzen geschleust und wurde in Girenbad in ein Internierungslager zugewiesen und begegnet hier jede Menge Schicksalsgenossen. Hier sind die Flüchtlinge einem repressiven Machtapparat ausgesetzt. Dadurch werden die Menschen hier wie Sträflinge behandelt. Liegen gab es hier im Lager nicht, die Flüchtlinge wurden auf Stroh gebettet. Zu essen gab es nur Brühe und altes Brot. Schmidt erkrankt an einer schweren Infektion im Rachen und im Kehlkopfbereich und wurde erst nach langem Hin- und Her ins Kantonsspital gefahren. Auch in dem Hospital wird er mit den billigsten Mitteln behandelt, obwohl seine Erkrankung mittlerweile auch auf sein Herz überschlägt. Schmidt wird von dem Chefarzt der Klinik schlecht behandelt, der ihm vorwirft, sich seine Beschwerden am Herzen einzubilden, auch, um nicht zurück ins Lager zu müssen. Er stellt dem Kranken viele kritische Fragen, nimmt seine Beschwerden nicht ernst ...
Schmidt schaute den Professor bestürzt an. >>Sie glauben mir nicht? Sie meinen, dass ich Schmerzen erfinde?<<
>> Simulanten gibt es viele. Aber ich sage nichts dergleichen. Es ist einfach meine Pflicht, solche unangenehmen Fragen zu stellen. Das sollten Sie, als vernünftiger Mann, bei der großen Zahl von Internierten in unserem Land, verstehen. Es gibt ja auch sehr viele Ihres Glaubens darunter, die in Anspruch nehmen, verfolgt zu werden, und annehmen, deshalb ein Recht auf Asyl zu haben. << (202)

Es waren viele herzensgute Schweizer zugange, aber viele waren, vor allem Autoritäten, sehr rassistisch eingestellt.
Dabei geht es uns abzuwägen zwischen den Erfordernissen des Landesschutzes und der Humanität; wir können und dürfen die schweizerische Bevölkerung (…) einer zunehmenden Überfremdung durch Heerscharen hauptsächlich jüdischer Flüchtlinge nur mit gebührender Vorsicht aussetzen. (64f)

In Anbetracht unserer eigenen politischen Lage, dass sich die europäischen Länder so schwertun, Flüchtlinge in ihr Land aufzunehmen, möchte ich zum Abschluss ein letztes Zitat einbringen.
Die Flüchtlinge tun uns die Ehre an, in unserem Land einen letzten Ort des Rechts und des Erbarmens zu sehen … Wir sehen an den Flüchtlingen, was uns bis jetzt wie durch ein Wunder erspart geblieben ist. (194)

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Die Szene im Krankenhaus. Der Professor hat Schmidt nicht gut behandelt, und man hätte ihn bei anderen Umständen wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen können.
Die Szenen im Internierungslager fand ich grausam, dass ich mit dem Lesen für eine Weile aussetzen musste.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Dass es auch gute Menschen gab, die sich für Schmidt eingesetzt haben, vor allem die Wirtin eines Gasthauses.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Die Wirtin und das Pflegepersonal des Hospitals. Auch Selma Wolkenheim war mir sympathisch.

Welche Figur war mir antipathisch?
Professor Brunner, Chefarzt der Klinik.

Meine Identifikationsfigur
Keine.
 
Cover und Buchtitel
Joseph Schmidt sieht hier zu ausgelassen aus, zu freundlich, obwohl er Angst hatte, im Zug von der Gestapo aufgegriffen zu werden. Deshalb meine Frage; darf Traurigkeit auf einem Titelblatt nicht sein? Muss sie retuschiert werden?

Zum Schreibkonzept
In dem Buch gibt es mehrere Perspektiven, die sich über das Schicksal des Künstlers und über das Verhalten der Schweizer auslassen. Es gibt einen objektiven Erzähler, und im Wechsel wird die Perspektive verschiedener anderer Figuren in Kursivschrift dargestellt, die sich zum Sachverhalt beziehen, was ich spannend fand. Der Schreibstil ist flüssig und sehr gut verständlich. Auf den letzten Seiten gibt es einen Hinweis und eine Danksagung.

Meine Meinung
Vielerorts unter der Leserschaft liest man, dass der Sänger Joseph Schmidt kein Sympathieträger sei, da er Frauen benutzt und sein Kind im Stich gelassen hätte. Ich sehe es ein wenig anders, da viele Künstler*innen Probleme haben, sich eine beständige partnerschaftliche Beziehung aufzubauen. Andere dagegen, die in einer Beziehung lebten, ließen sich von ihr wieder lösen, weil sie darin ihren Lebenssinn nicht fanden. Man hat schon viel gelesen über Künstler*innen, die, weil sie mit dem Leben nicht klarkamen, sich das Leben genommen haben, andere waren dem Alkoholkonsum ausgesetzt, um ihre Probleme zu betäuben, etc. Viele Künstler*innen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind einem permanenten seelischen Druck ausgesetzt, da ihr Auftritt mehr als gut sein musste. Außerdem haben viele gar keine Zeit, sich dem viel zu trivialen Alltag hinzugeben. Viel zu hoch sind deren Lebensideale. Sogar viele Schriftsteller*innen haben es schwer und denke dabei auch an Hermann Hesse, der Probleme mit Frauen hatte und war dadurch mehrfach verheiratet und mehrfach geschieden …

Eine persönliche Erfahrung, die ich mit dem Künstler teilen kann
Meine Heimat ist die Musik. Hier spricht mir Joseph Schmidt aus der Seele. Auch für mich ist die Musik Heimat. Sowohl wenn ich selbst musiziere, als auch wenn ich Musik nur höre. Für mich ist die Musik so wichtig wie Lesen, so wichtig wie Essen und Trinken. Musik versetzt mich in andere Welten, in andere Spähren, die man kaum in Worten fassen kann. Außerdem löst Musik in mir Spannung auf. Wenn ich mit anderen Menschen verstimmt bin, dann befreit mich die Musik und so löse ich mich von dem inneren Konflikt, bin nicht mehr nachtragend und kann vergeben, wenn ich Unrecht erfahren habe, oder wenn ich Unrecht tue, vergebe ich mir selber ... Musik löst in mir ein Gefühl des Weltfriedens aus. Ich sehe mich mit allen Menschen der Welt verbunden und nicht nur mit Menschen meiner Heimatländer. Sie löst meine nationale, deutsche Identität auf, und weitet meine Identität, löst sämtliche Grenzen auf, sehe mich als einen Menschen dieser Erde, und begreife, dass wir alle in einem Boot sitzen. Ich bin dankbar, dass mir Joseph Schmidt zu diesem Bewusstsein verholfen hat, wo ich doch noch vor Tagen mit zwei Freundinnen über die nationale Identität mich ausgetauscht habe, und ich mich hinterher gefragt habe, ob ich mich von ihnen überhaupt verstanden gefühlt habe??? Mit dieser Einsicht fühle ich mich in der Identität eines Weltmenschen mehr als bereichert und verzichte gerne auf die nationale Identität, die, wie wir auch hier gesehen haben, ausgrenzend sein kann. 

Mein Fazit
Insgesamt eine sehr nachdenklich stimmende, eine sehr differenzierte und authentisch geschriebene Biografie, deren Thematik, wie ich oben schon geschrieben habe, politisch in unsere Zeit passt. Auch hier hört man in der Bevölkerung immer wieder, dass Deutschland zu viele Flüchtlinge aufnehmen würde. Viele darunter wählen dadurch sogar die AfD. Mir stellt sich die Frage, ob der Mensch nicht fähig ist, aus der Geschichte zu lernen? Ich finde keine Antwort darauf ... Ich selbst kannte Joseph Schmidt nicht, auch nicht seine Arie Ein Lied geht um die Welt. Hier ein Filmausschnitt auf YouTube zu Joseph Schmidts Leben und zu seinem Lied. Er hat tatsächlich die Stimme eines Enrico Caruso.

Das Lied kann man in diesem Video hier besser verstehen. Ich kenne es doch. Wie schön. Es ist wirklich wunderschön. 

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftlich gut recherchiert
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

Weitere Information zu dem Buch

Hier geht es zur Leserunde auf Whatchareadin. Ich werde mich morgen Abend bestmöglich daran beteiligen. Mir fehlt es an Zeit, neben dem zu lesenden Buch, und neben meiner eigenen Rezension auch noch die vielen Posts in der Leserunde zu lesen, noch dazu eigene Texte verfassen. Ich habe häufig die Ruhe dafür nicht, werde mich deshalb in der zweiten Jahreshälfte stark zurücknehmen. Habe meine eigenen Leseprojekte jetzt auch noch stark vernachlässigt. Irgendwie die goldene Mitte finden, das müsste ich besser hinbekommen.

Hier geht es zur Rezension von Anne Strandborg.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 

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Meine Heimat ist die Musik
(Joseph Schmidt)

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