Dienstag, 16. April 2019

Lucy Fricke / Töchter

Klappentext   
Martha und Betty kennen sich seit zwanzig Jahren. Jetzt fahren sie gemeinsam in die Schweiz, aber eher unfreiwillig. Marthas Vater sitzt auf der Rückbank und raucht und trinkt, obwohl – oder gerade weil – er todkrank ist. Was als eine finale Fahrt beginnt, ist vielmehr der Auftakt zu einem Roadtrip, der seinesgleichen sucht. Denn auch Bettys Vater, der viel zu früh aus ihrem Leben verschwand, wird zu einer weiteren Station in der Fahrt zweier Frauen, die zusammenhalten und nur schwer aufzuhalten sind. Eine groteske Reise Richtung Süden, durch die Schweiz, Italien, bis nach Griechenland, immer tiefer hinein in die Abgründe der eigenen Geschichte.

Autorenporträt
Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet; zuletzt war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom und im Ledig House, New York. Nach «Durst ist schlimmer als Heimweh», «Ich habe Freunde mitgebracht » und «Takeshis Haut» ist «Töchter» ihr vierter Roman. Für ihn erhielt sie den Bayerischen Buchpreis 2018. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

Meine ersten Leseeindrücke
Ich bin sehr von dem Buch enttäuscht. Meine Ausgabe ist von Büchergilde, und ich dachte, dass Büchergilde nur anspruchsvolle Bücher rausbringt.
Das Buch ist sehr seicht geschrieben, sehr diskriminierend, sehr rassistisch Italiener*innen gegenüber. Sehr stereotypisch. Das Buch lebt von Projektionen.

Eigentlich wollte ich keine Bücher mehr von deutschen Autor*innen lesen, die über Italien schreiben. 

Aber dieses Buch habe ich geschenkt bekommen und ich habe den Klappentext vorher nicht gelesen, sonst hätte ich das Buch nicht angenommen. 

Ich musste es nach 127 Seiten wieder abbrechen. Und wieder hadere ich mit den Buchpreisen. Diese Autorin hat zu ihrem Werk auch noch den bayrischen Buchpreis gewonnen. Das kann ich nicht verstehen. Die Menschen aus Rom hat sie alle als stinkend beschrieben. Das war nun das i-Tüpfelchen, wo ich schon seit gestern mit mir gerungen habe, es abzubrechen. Ich werde Zitate in meiner Buchbesprechung einbringen und näher meine Einwände erörtern. Deshalb folgt eine Rezension erst in den nächsten Tagen. Der italienische Macho muss von vielen deutschen Autor*innen immer wieder neu erfunden werden, sonst können diese Autor*innen angeblich, so scheint mir, ihren Stoff nicht füllen.

Man muss nicht nach Italien fahren, um verlorene Väter aufzuspüren. Auch hierzulande gehen Familien auseinander. Statt über die Familienprobleme im eigenen Land zu schreiben, bedienen sich diese Art von Autor*innen Menschen anderer Länder. Und weil das alleine nicht ausreicht, wird noch mit alten Klischees dick aufgetragen.


Weitere Informationen zu dem Buch

Bayerischer Buchpreis 2018

Verlag Büchergilde Gutenberg, Leinen mit Schutzumschlag, farbiges Vorsatzpapier, Lesebändchen, 240 Seiten, Umschlaggestaltung von Katja Holst
Preis für Mitglieder 18,00 €

Hier geht es zur Buchbesprechung.

Sonntag, 14. April 2019

Charles Lewinsky / Der Stotterer (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre    

Obwohl ich aus Mangel an Lesezeit relativ lange für dieses Buch benötigt habe, hat es mir trotzdem gefallen, wobei es im letzten Drittel ein wenig langatmig wurde. Zum Ende hin wurde es aber wieder spannend.

Ich werde mich kurzhalten müssen, da dieses Buch, das sich in der JVA abspielt, wenig Handlung bietet. Das Buch ist sehr monologisch aufgebaut, dadurch, dass der Protagonist aufgrund seiner Sprachstörung, die sich klonisches Stottern nennt, Dialoge mit anderen Menschen weitestgehend meidet.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autor*inporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Der Held dieser Geschichte ist Johannes Hosea Stärkle. Dadurch, dass Stärkle aus einer strenggläubigen katholischen Familie kommt, scheint es mir, als haben ihm die Eltern biblische Namen erteilt. Bin dem aber nicht weiter nachgegangen … Stärkle ist in Bachofens Gemeinde großgeworden. Bachofen ist der Kirchenchef, er leitet die Gemeinde, und der immer zu glauben meint, wie Störungen bei Menschen auszutreiben sind …

Stärkle leidet seit seiner Jugend an einer Sprachstörung, die er nicht in den Griff bekommt. Sowohl sein Vater als auch Bachofen möchten ihm diese Störung über körperliche Züchtigungen aus dem Leib prügeln … (S.14) Welche Rolle spielte dabei die Mutter? Sie verhielt sich passiv, hielt sich raus, wenn der Knabe mit einem Bambusstock, mit einem Gürtel, oder mit einem Tennisschläger verprügelt wurde. Frauen durften Männern hier auch nicht widersprechen. Stärkles ältere Schwester Elisabeth, auch ein biblischer Name, musste später dieselbe unterwürfige Rolle als Hausfrau und Mutter spielen, wie sie diese von ihrer eigenen Mutter vorgelebt bekommen hat ... 

Später geht hervor, wie es dazu kam, dass Stärkle plötzlich nicht mehr fließend sprechen konnte. Stress durch mehrere Schulkameraden, die ihn zum Opfer machten …

Im Laufe des Lebens entwickelte sich Stärkle zu einem Hochstapler, weshalb er im Knast sitzt. Hier lernt er den katholischen Gefängnispfarrer namens Arthur Waldemeier kennen. Die Gefängnisinsassen nennen ihn alle Padre und dieser Padre sieht in Stärkle großes geistiges Potenzial und gibt ihm den Rat, alle seine Gedanken schriftlich niederzuschreiben. Und somit schreibt Stärkle regelmäßig Briefe an den Padre, meist reflektierende Gedanken über sein bisheriges Leben und bestückt diese reichlich mit Bibelzitaten.
Stärkle ist bibelfest, kennt sämtliche Bibelzitate, über die er sarkastische Äußerungen laut werden lässt, die einen an den Rand des Zynismus treiben. Auch den Padre nimmt er mithilfe der Bibelzitate häufig auf die Schippe.

Stärkles Schreibtalent weitet sich immer mehr aus, sodass in ihm der Wunsch keimt, Schriftsteller zu werden.

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Das Verhalten seiner Eltern und das des Bachofens. Bachofen entpuppte sich auch zu einem Scharlatan, der von sich überzeugt war, das sogenannte Sündige im Menschen methotisch mit Exorzismus austreiben zu können und es zu müssen.
Auch hier rächt sich Stärkle später gemeinsam mit einem Bekannten aus der Jugendzeit.

Eine weitere Szene fand ich grausam. Der Suizid von seiner Schwester Elisabeth ...

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Stärkle rächt sich an seinen Mitschüler Nils, der ihn gemobbt hat. Er musste viele Prügeleien einstecken. Die Art, wie er sich gerächt hat, fand ich sehr originell. Er schrieb an Nils mehrere anonyme Liebesbriefe und köderte ihn damit. 
Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß. Und natürlich: Gemeinheit um Gemeinheit. Nils hatte mich zum Stotterer gemacht, zum Watschemann, zur Witzfigur, hatte mich zum Opfer degradiert, lang bevor >>Opfer<< unter seinesgleichen ein gängiges Schimpfwort wurde. (2019, 52)

Ich halte nicht viel von Rache aber hier scheint ja eine andere Bewältigungstaktik unter Jungen nicht geholfen zu haben.
Stärkles Schreibtalent kam schon in seiner Schulzeit zum Einsatz, ohne dass ihm das wirklich bewusst war, denn diese erfundenen Liebesbriefe wirkten sehr authentisch. Auch später noch erfindet Stärkle Geschichten, mit deren Hilfe er sich bei verschiedenen unliebsamen Mitmenschen rächt, weshalb er sich und alle Schriftsteller als Lügner begreift. 

Interessant finde ich auch den Fragebogen, den Stärkle über sich selbst entwickelt hat. Er bezeichnet diesen Fragebogen als Der Marcel Proust Fragebogen.

Eine Frage davon lautet: Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?
Die der anderen. Weil man gut von ihnen leben kann.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Der Padre, der Stärkle gefördert hat, der es geschafft hat, sein Potenzial ans Licht zu rücken. Auch setzte er beim Gefängnisdirektor durch, Stärkle, der auch Bücher liebt, als Bibliothekar für die Gefängnisbibliothek zu beauftragen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Ganz viele.

Meine Identifikationsfigur
Keine

Cover und Buchtitel            
Beides fand ich passend. Betrachtet sich Stärkle im Spiegel? Hier finde ich die Perspektive interessant. 

Zum Schreibkonzept
Man erfährt erst sehr viel später, was die Gründe sind, weshalb Stärkle im Knast sitzt. Am Anfang ist im Buch eine Widmung an Thomas abgedruckt, der sich ein anderes Buch gewünscht hätte. Auf der nächsten Seite befinden sich zwei Zitate; ein Zitat aus dem Johannesevangelium und eins von Arthur Schopenhauer. Das ganze weitere Buch ist mit Bibelzitaten und mit Zitaten von Schopenhauer verziert. Anschließend beginnt das Buch auf Seite 9, indem Stärkle an den Padre schreibt. Es gibt keine Dialoge. Alles, was man über andere Menschen erfährt, erfährt man immer über die Briefe an den Padre oder über Tagebucheintragungen. Eine Chronologie gibt es nicht. Die Struktur scheint zufällig gewählt zu sein.

Da Stärkle sich als fabulierfreudig erweist, lernt man über die Briefe, die an den Padre gerichtet sind, viele Geschichten kennen ... Dieses Buch, das arm an Dialogen ist, lebt von den Geschichten, die Stärkle schriftlich erzählt. Besonders gehaltvoll finde ich die Geschichten Der Enkeltrick; Mutter Speckmann, denke in diesem Zusammenhang an die gutgemeinte aktive Sterbehilfe. Die Geschichte mit Nils fand ich sehr spannend. Auch die Geschichte mit Bachofen und dessen Pädophilie, ein Mix zwischen Realität und Fiktion … Ich möchte nicht zu viel verraten …

Meine Meinung
Mich hat die Intellektualität des Protagonisten fasziniert, wie er versucht, auf schriftlichem Weg sein verkorkstes Leben und das seiner Mitmenschen in der Ichperspektive zu verarbeiten. Schriftlich, um nicht mit seiner Stimme reden zu müssen.
Ich liebe Worte. Ich liebe es zu lesen, und ich liebe es zu schreiben. Beim Schreiben stottere ich nicht. Win-Win. (10)

Dadurch fand ich den gesamten Schreibstil interessant. Ohne ihn hätte ich das monotone Monologisieren nicht bis zum Schluss durchstehen können. Am Ende erwartet den Leser*innen eine schöne Überraschung.

Mein Fazit
Das Durchhalten hat sich gelohnt, das Buch konnte mich in seiner Sprache und vom Inhalt her gut packen. Man hätte den Stoff allerdings ein wenig straffen können.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.


Weitere Information zu dem Buch

Vielen herzlichen Dank an den Verlag von Diogenes für das Bereitstellen des Leseexemplars.

Vielen Dank auch an das Team von Whatchareadin für diesen tollen Buchvorschlag.

Leider konnte ich aus Zeitgründen nicht an der Leserunde teilnehmen, so wie ich es mir gewünscht hätte. Hier geht es zum regen Buchaustausch.

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Gelesene Bücher 2019: 15
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Donnerstag, 4. April 2019

Charles Lewinsky / Der Stotterer

Klappentext  
Weil er Stotterer ist, vertraut er ganz auf die Macht des geschriebenen Worts und setzt es rücksichtslos ein, zur Notwehr ebenso wie für seine Karriere. Ein Betrug – er nennt es eine schriftstellerische Unsorgfältigkeit – bringt ihn ins Gefängnis. Mit Briefen, Bekenntnissen und erfundenen Geschichten versucht er dort diejenigen Leute für sich zu gewinnen, die über sein Los bestimmen: den Gefängnispfarrer, den Drogenboss, den Verleger.

Autorenporträt
Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman ›Melnitz‹. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger sowie den Preis der Schillerstiftung. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Meine ersten Leseeindrücke

Ein wundervoll intellektuell geschriebenes Buch mit ernstem Hintergrund. Allerdings ist der Sarkasmus hier nicht zu überhören. Der Protagonist namens Johannes Hosea Stärkle sitzt im Knast, warum eigentlich? Das weiß ich noch nicht, und denkt schriftlich und im regelmäßigen Gespräch mit dem Gefängnispater über seine Kindheit und über sein gegenwärtiges Leben nach. Aus dem Namen sind biblische Figuren zu entnehmen ... Stärkle ist ein Stotterer, und hat dadurch in seiner Jugend mit der Kirche und mit dem Vater sehr schlechte und unchristliche Erfahrungen machen müssen als man ihm das Stottern herauszuprügeln versuchte hatte. Er rächt sich in seinen schriftlichen Geschichten, denn Stärkle schreibt lieber, als dass er spricht, denn wenn er schreibt, dann stottert er nicht.  

Ein sehr intelligenter Typ Mensch, der es den Menschen nicht einfach macht, weil die Menschen es ihm auch nicht einfach gemacht haben.

Aber ich schaffe es nicht, abends nach der Arbeit viele Seiten am Stück zu lesen, weil man wenig Handlung hat, und man die vielen spitzen geistreichen Ideen und Gedanken erstmal verarbeiten muss. Deshalb lasse ich mir mit dem Buch so viel Zeit wie ich benötige.

Ich habe bisher gerade mal 80 Seiten geschafft. 

Weitere Informationen zu dem Buch

·       Format: Kindle Ausgabe
·       Dateigröße: 934 KB
·       Seitenzahl der Print-Ausgabe: 404 Seiten
·       ISBN-Quelle für Seitenzahl: 3257070675
·       Verlag: Diogenes Verlag AG; Auflage: 1 (20. März 2019)

Hier geht es zu der Verlagsseite von Diogenes.

Hier geht es zur Buchbesprechung. 

Wir lesen das Buch in der Leserunde von Whatchareadin. Nach der Buchbesprechung verlinke ich meine Seite mit dem Bücherforum.

Dienstag, 26. März 2019

Fatima Farheen Mirza / Worauf wir hoffen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Mir hat diese Lektüre ausgesprochen gut gefallen. Die Thematik, kulturelle und religiöse Unterschiede einer indischen Familie, die in Amerika lebt, hat mich sehr nachdenklich und auch betroffen gestimmt. Ein wichtiges Buch, das in die westliche und in die islamische Gesellschaft gehört. Die Auseinandersetzung damit hilft, die Welt ein bisschen besser zu machen für Menschen, die offen und bereit sind, von ihrem Tellerrand weg zu schauen.

Ich möchte nicht zu viel verraten, aber ich muss Zitate einfügen, weil sie so treffend die Problematik unterstreichen. Wen das stört, die oder der möchte bitte mit dem Cursor diese Textstellen runterscrollen.

Am Ende werde ich einen kleinen Diskurs über diese Thematik halten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autor*inporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.


Die Handlung
Obwohl die Thematik facettenreich beschrieben ist, ist die Handlung schnell erzählt.

Der Familienvater Rafik Jaan wanderte von Indien nach Amerika aus, da er auch schon sehr früh in seiner Jugend seine Eltern verloren hatte. Seine spätere Ehe mit Leila wurde von Indien aus arrangiert. Leila lebte noch in Indien, und folgte dem Wunsch ihrer Eltern, Rafik nachzureisen, um dort mit ihm einen Lebensbund einzugehen. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor …

Das älteste Kind, ein Mädchen, ist Hadia, ein Jahr später folgt die Schwester Huda und nach weiteren drei Jahren kommt endlich der langersehnte Sohn namens Amar auf die Welt. Alle drei Kinder wachsen kulturell und religiös streng traditionell auf. Mit neun Jahren ist die Kindheit der Mädchen abgeschlossen. Sie dürfen zwar frei entscheiden, ob sie ihre Haare bedecken, aber sie stehen unter einem ganz strengen mütterlichen Einfluss, dass sie gar nicht anders können, als ihre Haare unter eine Haube zu legen ... 
Hadia hat es besonders schwer, denn sie wird als die ältere Schwester mit zur Verantwortung herangezogen, wenn vor allem der Bruder Amar Sorgen macht.

Denn Amar ist das Sorgenkind, das schwarze Schaf in der Familie. Schon früh lehnt er sich gegen die Konventionen der Eltern und der islamischen Gemeinde auf. Er weigert sich, Muslim zu werden. Er fühlt sich eher der amerikanischen Kultur zugehörig. Da die Kinder in Amerika geboren wurden, haben sie alle drei die amerikanische Staatsbürgerschaft …

Die beiden Schwestern sind eher dazu geneigt, sich den Erwartungen der Eltern anzupassen. Sie haben keine Schulprobleme, sie halten die muslimische Kleiderordnung ein, und versuchen für sich einen Weg zu finden, der auch mit dem amerikanischen Kulturverständnis konform geht, was ganz schwer ist, da die Eltern nicht einmal amerikanische Freunde im Haus dulden. Auch amerikanisch darf innerhalb der vier Wände nicht gesprochen werden, sie sprechen zu Hause nur Urdu. Leila hat den Anspruch, die Kinder, vor allem die Mädchen, immer im Auge zu behalten, um sie besser formen und lenken zu können. Da auch ihr Leben, ihre Ehe mit Rafik, von ihren Eltern arrangiert wurde, verlangt sie nun dasselbe auch von ihren Mädchen. Sie beeinflusst das Gewissen der Kinder z. B. in der Form, dass jede Sünde im Herzen einen schwarzen Fleck hinterlassen würde. Mehrere Sünden würden das Herz vollkommen schwärzen. Doch was der Mensch als Sünde begreift, kann weltweit unterschiedlich ausgelegt werden.
Ein Fleck, der nicht mehr weggeht. So fett und schwarz, dass das Herz nicht mehr imstande ist, Gut und Böse zu unterscheiden. (2019, 237)

Hadia, die überzeugte Kopftuchträgerin, wünscht sich dennoch hin und wieder mal eine ganz normale Jugendliche zu sein, um auf Partys gehen zu dürfen, um sich mit Gleichaltrigen Jungen und Mädchen auszutauschen. Sie hegt den Wunsch, sich die Haare blau zu färben, wie es ihre beste Freundin Danielle macht. Huda dagegen kann es kaum abwarten, endlich neun Jahre alt zu werden, damit sie ihren Kopf verkleiden kann …

Die Auseinandersetzung mit beiden Kulturen ist bei allen drei Kindern unterschiedlich, doch alle drei stellen sich dieselbe Frage, wieweit sie eigene Wege ausprobieren dürfen, um von den Eltern noch geliebt und nicht verstoßen zu werden …
Hadia kennt ihren Vater. Seinen Stolz, seine Werte, sein striktes Befolgen der religiösen Vorschriften. All dies ist ihm wichtiger als die Liebe zu seinen Kindern. Hadia hat immer gespürt, dass die Liebe ihrer Eltern an Bedingungen geknüpft ist. Für Amar ist das eine Herausforderung, er möchte herausfinden, wie weit er gehen kann, bis sie ihn aufgeben. (230)

Amar kommt mit dem Vater nicht zurecht, da er hohe Maßstäbe setzt, die er nicht erfüllen kann. In der Schule hat er Probleme mit dem Lernstoff, ganz anders die Schwestern, die Musterschülerinnen sind. In der Pubertät weigert er sich, Muslim zu werden, schreit es dem Vater regelrecht ins Gesicht, dass er kein Muslim sei. Amar zweifelt die Religion seiner Eltern vehement an …

Der Junge hat sich allerdings in das Mädchen Amira Ali aus der islamischen Gemeinde verliebt. Sie kennen sich von Kindesbeinen an ...

Amar wird mit den Problemen zu Hause nicht fertig, greift zu Drogen und zu Alkohol. Die ständige Konfrontation mit seinem Vater zermürbt ihn. Auch die islamische Gemeinde lehnt ihn ab. Es folgt ein Zitat, das richtig gut dazu passt.
Nimm dich in Acht mit Schuldzuweisungen. (…) Denk immer daran, dass jedes Mal, wenn du mit dem Finger auf jemand anderen zeigst, drei Finger auf dich selbst zurückweisen.

Probleme hat Amar auch mit der amerikanischen Gesellschaft, die ihn nicht als amerikanischen Staatsbürger aufgrund seines Namens anerkennt. Durch den terroristischen Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center geraten alle Menschen unter einem Generalverdacht, die irgendetwas mit dem Arabischen zu tun haben.

Amar gerät in der Schule in eine Prügelei mit rassistischem Hintergrund. Seine Schulkameraden bezichtigen seinen Vater als Terrorist, weil er Muslim ist und einen Bart trägt. Und auch vor den Anschlägen hatte es Amar schwer, als Amerikaner anerkannt zu werden. Ständig wird er auf die Herkunft seiner Eltern reduziert.
Seit Kurzem hat Amar das Gefühl, in eine fremde Welt hineingeboren zu sein. Welche Rolle spielt es schon, dass seine Geburtsurkunde aus einem Krankenhaus in dieser Stadt stammt und dass das einzige Haus, in dem er je gelebt hat, hier steht. Wo kommst du denn her?, lautet die freundliche Version einer oft gestellten Frage. Als könnte er gar nicht von hier stammen. Als habe er etwas missverstanden, nicht die anderen. Er hat den Versuch aufgegeben, es zu erklären. Indien, murmelt er dann als Antwort. Obwohl er insgesamt höchstens zwei Wochen dort gelebt hat und seine Eltern inzwischen hier ihr halbes Leben verbracht haben. Manchmal stellt diese Antwort die Fragenden zufrieden, manchmal wirken sie verwirrt und haken nach: Aber haben Menschen aus Indien nicht dunklere Haut? (179)

Später, nach mehreren Jahren, setzt sich Rafik, der mittlerweile Großvater zweier Enkel geworden ist, mit sich und seinem Sohn mental auseinander und erkennt seine Fehler, die er bereut. Gedanklich spricht er mit Amar:
Weißt du - darum geht´s doch-, kein Mensch ist nur gut. Jeder versucht, gut zu sein. Und jeder hat manchmal das Gefühl, dass er nicht gut ist, und sogar bei dem Versuch scheitert, gut zu sein. (352)

Warum Rafik nicht persönlich mit dem Sohn spricht, um mit ihm diese Dinge zu klären, möchte ich nicht verraten. Daher sind weitere Details dem Buch zu entnehmen.

Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
Der Grundschüler Amar wünscht sich von den Eltern dieselben roten Schuhe, wie sein Schulfreund sie hat. Die roten Schuhe stehen für ein kindliches amerikanisches Statussymbol. Amar möchte dazu gehören. Der Vater lehnt die Schuhe ab. Das Kind kann sich damit nicht abfinden, und schreibt seinem Daddy eine Petition. Dieser macht daraufhin mit dem Sohn einen Deal. Er bekommt die Schuhe, wenn er im nächsten Diktat null Fehler hat. Der Junge geht auf den Deal ein und paukt die Rechtschreibung. Seine Schwester hilft ihm, gibt ihm Tipps … Er kommt tatsächlich mit der Höchstnote nach Hause, und weil er den Test nicht ehrlich bestanden hat, wie sich dies erst später herausstellt, bekommt er die roten Schuhe nicht. Das fand ich ganz furchtbar für das Kind, denn wieder fühlt es sich als Versager, niemals schafft er es, die hohe Messlatte seines Vaters zu erreichen.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Rafiks Selbstreflexion vor allem seinem Sohn gegenüber auf den letzten Seiten. Und seine Weisheit hat mir gefallen. Eine Wiedergutmachung mithilfe seiner Enkelkinder, die er abgöttisch zu lieben gelernt hat.
Ich habe ihnen gegenüber keine andere Pflicht, als sie zu lieben, und werde deshalb auch von ihnen vorbehaltlos wieder geliebt. 382

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Alle drei Kinder. Und die Krankenschwester der Schule.

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Jeder Erwachsene war irgendwie in seiner Welt gefangen.

Meine Identifikationsfigur
Amar.

Cover und Buchtitel
Finde ich farblich sehr ansprechend. Über den Buchtitel muss ich noch weiter nachdenken.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf 478 Seiten in vier Teilen gegliedert. Und in jedem Teil wird die Anzahl der Kapitel neu nummeriert. Der Schreibstil ist flüssig, aber nicht chronologisch aufgebaut. Es finden jede Menge retro- und prospektivische Zeitsprünge statt. Man kann sich die Details zwar gut behalten, aber am Ende habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr wusste, welche Szenen wann zugeordnet waren.
Der dritte Teil hat sich stark gezogen. Vieles wiederholt sich, wo ich nah dran war, Seiten zu überspringen. Man hätte hier den Stoff ein wenig raffen können.
Doch am Ende, als Rafik sein und das Lebens seines Sohnes reflektiert, wird man erneut daran erinnert, wann gewisse Szenen aufgetaucht sind, und so war ich durch diesen Part wieder ausgesöhnt. Leider hat am Ende ein Glossar gefellt, in dem die fremden Begriffe hätten näher erläutert werden können. Dafür viele Seiten zur Danksagung. 

Meine Meinung / Ein kleiner Diskurs
Ich konnte mich gut in Amar hineinversetzen. Auch hier in Deutschland gibt es viele Kinder, die mit mehreren Sprachen und Kulturen aber nicht in dem Land ihrer Eltern aufwachsen oder aufgewachsen sind. Auch sie werden trotz der deutschen Staatsbürgerschaft immer wieder als die nationalen Stellvertreter ihrer Eltern betrachtet und auf deren kulturellen Herkunft reduziert, statt dass man sie wertschätzt mit ihrem Wissen, das sie mitbringen, das ein Kind aus einer Monokultur nicht besitzt. Mittlerweile wächst hier die vierte Migrantengeneration auf, und es hat sich in der Aufnahmegesellschaft vom Bewusstsein her nur sehr wenig verändert. Menschen mit dunkler Hautfarbe und/oder mit einem ausländischen Namen haben es besonders schwer, hier als vollwertige Deutsche anerkannt zu werden. Viele Deutsche sind der Meinung, dass Integration schwierig sei. Meine Frage: Was genau ist daran schwierig? Und wer sind die Schwierigen? Viele sind integriert und werden trotzdem in die Ausländerschublade gesteckt, mit allen Klischees und Vorurteilen beladen. Andere sind sogar assimiliert, und auch das reicht nicht, um zu den Deutschen zu gehören ... Soll tatsächlich das Blut die Zugehörigkeit eines Landes bestimmen, wo es weltweit nur vier Blutgruppen gibt?

Vielleicht wäre es hilfreich, die Fehler nicht immer im Anderen zu suchen und anzufangen, das eigene Weltbild zu hinterfragen, warum man denn Probleme hat, diese Kinder als vollwertige Deutsche anzuerkennen?

Ich bin dankbar für dieses Buch, das exakt die Missstände nicht nur bei dem vertrauten ewigen Fremden sucht, sondern in der Lage ist, diese auch bei der Aufnahmegesellschaft zu finden. Letztendlich sind die meisten Kinder, die hier aufwachsen, nicht integriert, sondern in diese Kultur hineingewachsen, wie dies auch bei deutschen Kindern der Fall ist. Man sagt ja auch nicht, dass deutsche Kinder in Deutschland integriert sind. 

Massive, psychische Probleme entstehen nämlich auch, wenn Menschen besonders in den Medien erfolgreich aus einer Gesellschaft ausgeschlossen werden, obwohl sie das Recht hätten, sich als zugehörige deutsche Menschen zu bezeichnen. Und viele Deutsche lassen sich stark von den Medien leiten und beeiflussen.

Und Kinder, die nicht dazugehören dürfen, flüchten häufig in die Herkunftsidentität der Eltern. Andere stehen drüber, und verteidigen ihre sog. deutsche Identität. 

Und diese Wurzeltheorie macht Hiergeborene, ganz gleich, aus welcher Generation sie kommen, zu ewigen Ausländern. 

Bei anderen, von draußen kommenden Menschen, die später nach Deutschland eingewandert sind, werden hier einem Integrationsprozess ausgesetzt, der leider noch zu sehr einseitig verläuft, der aber beidseitig, zwischen dem Deutschen und dem Migranten, sich abspielen sollte, denn Integration ist immer ein beidseitiger Prozess, wenn er gelingen soll. Aber das ist leider noch nicht in das Bewusstsein vieler Menschen, die deutsche Eltern haben, ganz gleich, aus welchem Bildungsniveau sie kommen, eingedrungen. Hierbei muss noch viel nachgearbeitet und nachgeholt werden. Die deutschen Medien machen über diese Menschen hauptsächlich negative Schlagzeilen, sprechen immer über Ausländer, die kriminell geworden sind, oder von denen, die nicht integriert sind und sie diese als die Integrationsversager bezeichnen. Von anderen, die sich hier zu Hause fühlen, sprechen sie nicht, weil sie nicht zu den Deutschen zählen dürfen.

Ein Prozess zum Verständnis der Integration wäre für mich, nicht über die Migranten zu sprechen, sondern mit ihnen. Nur so kann man erfahren, wie differenziert die Lebensweise dieser Menschen ist. Zu erleben, was sie innerlich fühlen und was sie denken, was sie können und was sie durch den Umgang mit mehreren Sprachen und Kulturen an Ressourcen mitbringen, wäre mal spannend als Außenstehende daran teilhaben zu können …

Mein Ideal wäre, nationale Identitäten abzuschaffen und die Identität als Mensch einzuführen. Das klingt utopisch, aber das geeinte Europa war ein Ideal, von dem der verehrte Friedrich Schiller einmal geträumt hat. Und heute leben wir in einem geeinten Europa, auch wenn wir alle im Prozess stecken, mit den vorhandenen politischen Problemen EU-weit fertig zu werden.

Der Mensch ist das, was er innerlich fühlt und denkt, und nicht das, was der Mensch zu fühlen und zu denken hat.

Mein Fazit
Eine sehr differenzierte, lesenswerte fiktive Familienbiografie, die Mut macht und die ich jedem Menschen ans Herz legen möchte, der bereit ist, sein eigenes Welt- und Menschenbild zu hinterfragen, und der aufhören möchte, integrative Fehler immer im Anderen zu suchen.

Zwölf von zwölf Punkten.
  
Weitere Information zu dem Buch

Hier geht es zur Leserunde von Whatchareadin.

Auch meine Freundin Monerl hat das Buch gelesen, das sie tief berührt hat. Wir hatten uns am letzten Montag im Cafė Extrablatt getroffen und uns rege über diese Lektüre ausgetauscht.

 Hier geht es zu ihrer Buchbesprechung, die auch interessant zu lesen ist. 

Vielen Dank an den dtv Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars.

Vielen Dank auch an die Moderator*Innen von Whatchareadin für ihr Engagement mit den Verlagen.

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Ich spreche zwei Sprachen.
In die eine flüchte ich,
wenn die andere unmenschlich wird.
(Autor unbekannt)

Gelesene Bücher 2019: 13
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