Sonntag, 19. März 2017

Jonas Karlsson / Das Zimmer (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mich richtig gepackt. Woran hat das gelegen? Die Thematik besitzt schließlich keine kriminalistische Kulisse, sondern sie beschreibt ausschließlich die banale Welt eines Arbeitsalltags in einem Großraumbüro. Was ist daran so spannend? Der Autor hat es gewusst, seine Thematik so anzupacken, dass sie mich als Leserin nicht mehr losgelassen hat. Ein wenig surreal der Hintergrund seiner Geschichte.

Das Zimmer ist nämlich für mich ein surreales Motiv. Erst dachte ich, Björn, der Protagonist und Icherzähler, leidet an einer Zwangs- und Wahnvorstellung, an einer Schizophrenie, aber zum Ende hin konnte ich mich doch nicht für eine psychische Störung entscheiden.

Auf den ersten Seiten entwickelte ich ein Geschlechterproblem: Ich dachte erst, der Protagonist sei eine Frau. Habe dabei unbewusst den Klappentext und das Bild auf dem Cover ignoriert. Viele Episoden kannte ich von mir selbst. Ich würde also nicht unbedingt sagen, dass der exzessive Ehrgeiz und damit verbunden das enorme Leistungsdenken im Berufsleben eher eine männliche Domäne ist, denn wer ist das nicht heutzutage, ehrgeizig und leistungsorientiert im Beruf? Als die Geschichte aber immer abstrusere Formen annahm, konnte ich mich von dieser Figur wieder distanzieren, deren Namen Björn auf den folgenden Seiten mittlerweile gefallen war.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Von unausstehlichen Kollegen umgeben, in ein Großraumbüro gepresst, kann Björn sein Glück kaum fassen, als er eines Tages ein kleines, geheimes Zimmer entdeckt. Ein Büro nur für sich, auf demselben Stockwerk, im Flur gleich neben der Tonne für das Altpapier und dem Aufzug. Hier drinnen sind das Chaos und die Enge der Bürowabenwelt vergessen, Björn hat plötzlich Spaß an seiner Arbeit. Alles wäre gut, gäbe es da seine Kollegen nicht. Die treibt Björns bizarres Verhalten fast zur Verzweiflung. Und zu allem Übel tun sie auch noch so, als existiere dieses Zimmer überhaupt nicht.
Nun erwiesen sich mir Björns KollegInnen nicht wirklich als unausstehlich, wie dies aus dem Klappentext hervorgeht. Ein dermaßen unkollegialer Typ wie Björn einer ist, der muss eben so behandelt werden, wie seine KollegInnen ihn behandelt haben. Unausstehlich war mir demnach eher Björn selbst, der menschliche Schwächen bei anderen definitiv nicht dulden konnte, und während er sich permanent aufwertete, wertete er andere ab … Björn möchte sich hocharbeiten, und sein Ziel ist, es von seiner Position bis in die Chefetage zu schaffen.

Björn hatte noch nicht lange die neue Dienststelle angetreten, als er schon nach ein paar Tagen seinen Kollegen Hakan zur Rede gestellt hatte. Hakan hatte seinen Schreibtisch gegenüber von Björn. Er wirkte mit seinen Akten dermaßen unsortiert, sodass viele Arbeitspapiere auf Björns Schreibtisch landeten. Doch auch Hakans äußere Erscheinung widerte Björn an. Nach dem Gespräch, als beide wieder an ihren Schreibtischen zurückgekehrt waren, kommen Björn über Hakan folgende Gedanken:
Wahrscheinlich war er diese Art deutlicher und effektiver Ermahnungen nicht gewöhnt. Höchste Zeit, dass du dich daran gewöhnst, dachte ich. Gut möglich, dass ich eines Tages dein Chef sein werde. (31)  
Björn wird immer auffälliger. Er zieht sich, wenn er sich von der Arbeit ein wenig ausruhen möchte, in dieses ominöse Zimmer zurück. Das stößt bei seinen KollegInnen auf, es kommt zwischen ihnen und Björn zu einem Eklat, sodass ein Gespräch zwischen ihm, seinen KollegInnen und dem Chef stattfindet. Björn äußert seinen Ärger:
Zunächst einmal ist mir aufgefallen, dass einige einen unnötig scharfen Ton anschlagen. Man ist mir mit einer recht unfreundlichen Haltung begegnet und hat sich nicht sonderlich darum bemüht, dass ich mich hier wohlfühle, was vermutlich daran liegt, dass ihr euch über mich ärgert. Das ist nicht weiter verwunderlich, kreative Menschen sind schon immer auf Widerstand gestoßen. Es ist ganz natürlich, dass einfach gestrickte Personen Angst vor Sachkenntnis haben. (70)

Die KollegInnen beschweren sich, dass Björn merkwürdige Dinge an der Wand tun würde, und geistig total abwesend wäre.

Das Gespräch gerät aus den Fugen. Die Rollen zwischen Björn und seinem Chef vermischen sich. Es ist Björn, der sich erlaubt, den KollegInnen Anweisungen zu geben, um das Gespräch zu beenden:
>>Lasst euch das eine Lehre sein<<, sagte ich in einem etwas milderen Ton. >>Was haltet ihr davon, wenn wir nun zu unseren jeweiligen Arbeitsaufgaben zurückkehren und diesen für euch alle so ausgesprochen peinlichen Zwischenfall nie mehr erwähnen. Wenn jeder Einzelne von euch bereit ist, ab heute offen und ehrlich zu sein, wenn ihr nie mehr versucht, mir derartige Streiche zu spielen, um mich aus dem Konzept zu bringen, bin ich bereit, einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu ziehen. Einzig und alleine, weil mir vollkommen bewusst ist, dass Intelligenz und Ausstrahlung allen Mittelmäßigen schon immer ein Dorn im Auge gewesen sind. Einzig und allein deshalb bin ich bereit, euch zu verzeihen. Kleine Menschen können nicht immer etwas dafür, dass sie gelegentlich der Versuchung erliegen, umzustürzen und den Leuten über ihnen zu schaden<<. (72) 

Die KollegInnen ziehen sich wieder an ihre Plätze zurück. Das Gespräch wird allerdings zwischen Björn und seinem Chef fortgesetzt. Das Gespräch endet damit, dass der Chef Björn zu einem Psychiater schickt…

Da das Buch gerade mal 172 Seiten hat, möchte ich nicht mehr verraten.


Mein Fazit zu dem Buch?

Eine recht authentische Geschichte; Erfahrungen, die sicher jeder Berufstätige aus seinem Arbeitsalltag kennen wird. Solch eine Figur, wie Björn sie ist, gönnt man keinen Chef-Titel. Und hier, in dieser Geschichte, habe ich schon ein wenig gezittert, Björn könnte neben seiner Verrücktheit und neben seiner Spießigkeit seinen Aufstieg zum Vorgesetzten schaffen. Björn ist allerdings nur eine Figur, die auch hätte eine Frau sein können. In dieser Form wäre sie genauso unausstehlich ... 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


 Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
·         Verlag: Luchterhand Literaturverlag (11. April 2016)
·         17,99 €
·         ISBN-10: 3630874606

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar beim Verlag Luchterhand bedanken. 

Und hier geht es auf die Verlagsseite von Luchterhand
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Gelesene Bücher 2017: 11
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Freitag, 17. März 2017

Jonas Karlsson / Das Zimmer


Klappentext
Der moderne Mensch im Hamsterrad und seine Suche nach Glück. 
Von unausstehlichen Kollegen umgeben, in ein Großraumbüro gepresst, kann Björn sein Glück kaum fassen, als er eines Tages ein kleines, geheimes Zimmer entdeckt.Ein Büro nur für sich, auf demselben Stockwerk, im Flur gleich neben der Tonne für das Altpapier und dem Aufzug. Hier drinnen sind das Chaos und die Enge der Bürowabenwelt vergessen, Björn hat plötzlich Spaß an seiner Arbeit. Alles wäre gut, gäbe es da seine Kollegen nicht. Die treibt Björns bizarres Verhalten fast zur Verzweiflung. Und zu allem Übel tun sie auch noch so, als existiere dieses Zimmer überhaupt nicht.

Autorenporträt
Jonas Karlsson, 1971 in Södertälje in der Nähe von Stockholm geboren, ist eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Schwedens. Die New York Times lobte »Das Zimmer« als »meisterhaft«, die Financial Times nannte es »brillant«. Das Buch brachte Karlsson den internationalen Durchbruch. Der 45-Jährige zählt zu den angesehensten Schauspielern seines Landes und wurde bereits zweimal mit dem schwedischen Filmpreis ausgezeichnet. Karlsson hat bislang drei Kurzgeschichtensammlungen, zwei Romane und ein Theaterstück veröffentlicht.

Meine ersten Leseerfahrungen:

Das Buch klingt recht interessant. Es liest sich gut und flüssig und man 
kann sich gut in die Lage des Protagonisten versetzen.


Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
·         Verlag: Luchterhand Literaturverlag (11. April 2016)
·         17,99 €
·         ISBN-10: 3630874606


Mittwoch, 15. März 2017

Astrid Lindgren / Die Menschheit hat den Verstand verloren (1)


Tagebücher von 1939-1945

Lesen mit Anne


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch haben Anne und ich schon vor Tagen ausgelesen, wir sind nur noch nicht dazu gekommen, eine Rezension zu schreiben.

Mit Anne habe ich aber schon telefoniert. Es hat uns beiden gut gefallen und wir haben uns auch über die Rezensionen ausgetauscht, wer was über das Buch schreiben möchte. Anne schreibt auch etwas Biografisches von Astrid Lindgren, über dies im Vorwort einiges zu entnehmen gibt.

Ich dagegen habe die Absicht, viele Zitate herauszuschreiben. Was den Nationalsozialismus betrifft, wann der Zweite Weltkrieg etc. ausgebrochen ist, das weiß jeder und muss nicht nochmals hier erwähnt werden. Mir war die Betroffenheit von Astrid Lindgren ganz wichtig, wie sie diese in Sprache umgesetzt hat. Das hat mich so tief berührt, dass ich einfach gezwungen bin, meinen Fokus auf diese Zitate zu lenken.

Wir werden, wenn wir beide unsere Rezensionen zu diesem Buch geschrieben haben, diese noch miteinander verlinken.

Mit ihrem Tagebuch schreibt Astrid Lindgren so, wie ich sie liebe. Kritisch, politisch, differenziert, menschlich.

Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind zudem mit vielen ausgeschnittenen Zeitungsartikeln versehen.

Schweden verhielt sich im Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen europäischen Ländern neutral. Astrid Lindgren nagten Gewissensbisse, weil ihr Land an dem Krieg nicht beteiligt war.
Ich habe mir allerdings als Leserin nicht die Frage gestellt, ob es feige war, dass Schweden an dem Krieg nicht beteiligt war. Nein, ich fand es gut, dass wenigstens ein paar Länder von dem Krieg und den Folgen verschont geblieben sind.

Durch die Neutralität hatte Schweden jede Menge  Ressourcen, und so konnte es vor allem dem kleinen Finnland und Norwegen mit materiellen Gütern unter die Arme greifen. Auch hat die schwedische Bevölkerung schwedische und norwegische Kriegskinder bei sich aufgenommen, und für sie gesorgt. Später, zum Ende des Krieges hin, überwindet Astrid Lindgren ihre Selbstzweifel, und sieht das Gute an der Neutralität:
Denn Schweden wurde außerhalb des Krieges gebraucht. Wenn man zurückschaut, haben wir durchaus so einiges erreicht, natürlich nicht, weswegen wir gerade vor Stolz platzen könnten, aber worüber man sich doch freuen kann. Wir haben Finnland einmalige materielle Hilfe gegeben. Und Norwegen vielleicht in fast gleich großem Umfang. Wir haben - was soll ich sagen-100.000 norwegischen und dänischen Flüchtlingen, vielleicht ist die Zahl etwas zu hoch, ich weiß nicht, Asyl gewährt. Wir haben sie in speziellen Polizeilagern ausbilden lassen, was nichts Anderes war als eine regelrechte militärische Ausbildung. Zu guter Letzt haben wir erreicht, dass das schwedische Rote Kreuz sich der dänischen und norwegischen Internierten in Deutschland, Juden und anderer, annehmen und sie nach Schweden bringen konnte. Ich habe einige dieser Briefe von jungen Leuten gelesen, die sie nach ihrer Ankunft an ihre Angehörigen zu Hause in Norwegen und Dänemark geschrieben haben, es ist ein einziger Glücksjubel. (…) Einer muss ja neutral sein, sonst würde es doch keinen Frieden geben - aus Mangel an Friedensvermittlern. (442f)

Deutschland hat Polen den Krieg erklärt. Polen ist nicht mehr das Land, das es einst mal war. Es wurden Sperrstunden eingeführt: 
Die Deutschen sprechen von ihrer >>harten, aber gerechten Behandlung<< der Polen - und die kann man sich ja vorstellen. Was für ein Hass wird entstehen! Die Welt wird am Ende so voller Hass sein, dass sie allesamt daran ersticken. (47)

Auch wenn Schweden nicht am Krieg beteiligt war, war die schwedische Bevölkerung dennoch von Angst erfüllt. Auch die Kinder stellten Fragen, ob der Krieg bis nach Schweden dringen würde. Ich selbst versuchte mir diese Angst vorzustellen …
Astrid Lindgren wunderte sich. Die Welt sei zwar kriegserfahren, lerne aber nicht aus ihren Fehlern:
An der Ostfront stehen sich die größten Massen der Weltgeschichte gegenüber. Es ist gruselig, überhaupt daran zu denken. (…) Ich habe hier in Furusund einiges über Geschichte gelesen, und das ist eigentlich eine unheimlich beklemmende Lektüre-Krieg und Krieg und  wieder Krieg und das ständige Leiden der Menschheit. Niemals lernt sie etwas daraus, sie begießt die Erde noch immer weiter mit Blut, Schweiß und Tränen. (117)

In Schweden hoffte man im ersten Kriegsjahr auf ein baldiges Ende des Krieges. Niemand rechnete damit, dass er sechs Jahre anhalten würde. Der Alltag der Schweden ging weiter, aber der Krieg, der außerhalb von ihnen weltweit tobte, prägte trotzdem den Alltag der Schweden. Das Leben aber musste weitergehen, und es ging weiter. Lars, Lindgrens Sohn, stand 1942 kurz vor seiner Konfirmation. Schweden feiert Christi Himmelfahrt. In Gedanken an ihren Sohn schreibt die verzweifelte Lindgren:
Übermorgen an Christi Himmelfahrt werden Lars und Göran konfirmiert. Kann, kann, kann denn dieser Krieg nicht bald ein Ende haben? Was für eine Zukunft erwarteten Jungen, die bald in die Welt hinaus wollen. Eine blutige, schreckliche, verwüstete, vergaste und in jeder Hinsicht elendige Welt zu erben, das ist hart. (182)

Wieder ein Kriegsjahr vergangen, und an der Lage habe sich noch immer nichts verändert. Astrid Lindgren hofft ganz verzweifelt als stille Beobachterin weiterhin auf ein baldiges Ende. Sie beschäftigt sich mit französischer Kriegsliteratur, geschrieben von Jacques Agabits. Der Autor beschreibt die Situationen französischer Kriegsgefangener, die in einem deutschen Lazarett behandelt werden:
Das ganze Buch ist voller Blut und Eiter, und ich bin so fed up, was Kriege betrifft, dass es keine Worte dafür gibt. Und wie mag es erst in den Ländern sein, wo sie all diese Schrecken täglich vor Augen haben. (241)

Sie liest Remarque, Im Westen nichts Neues, und leidet mit ihm mit. Dabei denkt sie an Lars, an ihren Sohn, welches Glück sie hat, dass ihr Sohn nicht eingezogen wurde.

Als ich es las, bin ich abends unter die Bettdecke gekrochen und habe vor Verzweiflung geweint (…) Und ich erinnere mich, dass ich dachte, wenn es noch einmal einen Krieg geben und Schweden daran teilnehmen würde, ich auf Knien zur Regierung rutschen und sie beschwören würde, die Hölle nicht losbrechen zu lassen. Lars würde ich selber erschießen, dachte ich, lieber das, als ihn in den Krieg ziehen zu lassen. Wie müssen sie leiden, die armen Mütter auf diesem wahnsinnigen Erdball. Als ich an die Besatzung der >>Ulven<< dachte und als ich Agapits Buch las, versuchte ich mir vorzustellen, Lars sei in dem gesunkenen U-Boot (…) Oder mit Fieber und Eiterwunden in einem Lazarett, und allein die Vorstellung reichte, um eine unerträgliche Seelenqual in mir hervorzurufen. Wie mag es erst für jene sein, für die es nicht nur eine Vorstellung, sondern grausame Wirklichkeit ist? Wie ist es möglich, dass die Menschheit solche Qualen durchleiden muss, und warum gibt es Krieg? Bedarf es wirklich nur weniger Menschen wie Hitler und Mussolini, um eine ganze Welt in Untergang und Chaos zu stürzen? Möge, möge, möge es jetzt bald ein Ende haben, jedenfalls mit dem Blutvergießen;

Astrid Lindgren leidet enorm unter diesen Kriegsqualen, obwohl sie ihnen nicht ausgesetzt ist. Tagtäglich setzt sie sich mit dem Krieg auseinander. Liest viel, hört Nachrichten, und verfolgt die Reden verschiedener Politiker, soweit die Sender dies zulassen: der Krieg beeinflusst weiterhin den Alltag:
Dann kommt ja noch all das andere Elend, das auf einen Krieg folgt. Großmutter ist in diesen Tagen so gesund und munter und optimistisch. Sie glaubt, dass wieder Fried´ und Freud´ herrscht, wenn der Krieg nur vorbei ist. Sie glaubt vermutlich, die Menschheit wird glücklich, sobald es nur wieder Kaffee gibt und die Rationierungen aufgehoben sind, hier wie im Ausland, aber die unaussprechlich entsetzlichen Wunden, die der Krieg geschlagen hat, werden nicht mit ein bisschen Kaffee geheilt. Der Frieden kann den Müttern nicht ihre Söhne zurückgeben, Kindern nicht ihre Eltern, den kleinen Hamburger und Warschauer Kindern nicht das Leben. Der Hass ist nicht zu Ende an jenem Tag, an dem der Frieden kommt, jene, deren Angehörige in deutschen Konzentrationslagern zu Tode gequält wurden, vergessen nichts, nur weil Frieden ist, und die Erinnerung an Tausende von verhungerten Kindern in Griechenland wohnt immer noch in den Herzen ihrer Mütter, falls die Mütter selbst überlebt haben. Alle Invaliden werden weiter herumhumpeln, auf einem Bein oder mit einem Arm, alle, die ihr Augenlicht verloren haben, sind noch genauso blind, und jene, deren Nervensystem durch die unmenschlichen Panzerschlachten zerstört wurde, werden auch nicht wieder gesund, nur weil Frieden ist. Trotzdem, trotzdem - möge bald Frieden werden, damit die Menschen allmählich wieder zur Vernunft kommen. (242)

Das Ende des Krieges, wie soll man sich das Ende vorstellen? Oder der Frieden? Astrid Lindgren stellt sich viele Fragen und findet nicht so leicht eine Antwort.
Und dennoch - wie soll der Frieden aussehen, was aus dem armen Finnland werden? Und wird der Bolschewismus mit allem, was er an Terror und Unterdrückung beinhaltet, freien Spielraum in Europa bekommen? Die, die ihr Leben bereits im Krieg verloren haben, sind womöglich die Glücklicheren. (243)

Sie schreibt über eine Rede von Goebbels:
>>Wir glauben an den Sieg, weil wir den Führer haben! Wenn mir heute auf den Führer schauen, so sehen wir gerade in ihm die Garantie dieses kommenden Endsieges. Wir wissen ganz genau, dass die weltentscheidende Auseinandersetzung dieses Krieges zwischen dem nationalsozialistischen Reich und der bolschewistischen Sowjetunion fallen wird.(…) So wollen wir in dieser dramatischen Stunde unseres Gigantenkampfes gegen unsere alten Feinde nur die eine Bitte an den Allmächtigen richten: uns den Führer gesund und voll von Kraft und Entschlussdeutlichkeit zu erhalten! Wir wissen, dass wir dann alle Gefahren überwinden und am Ende Sieg und Frieden erringen werden. So rufe ich denn dem Führer im Namen des ganzen deutschen Volkes für den schwersten Kampf um unsere äußere Freiheit unsere alte Parole als Bestätigung unserer zu allem entschlossenen Bereitschaft zu: Führer, befiel, wir folgen! (315)


Mein Fazit zu dem Buch?

Der Titel Die Menschheit hat den Verstand verloren hat es voll getroffen. Es kann niemals der gesunde Menschenverstand sein, der Kriege befürwortet ... 
Wenn ich die Politik heute mit der von damals vergleiche, dann bekomme ich schon ein wenig Gänsehaut, dass sich so eine Lage wiederholen könnte. Früher schrie die Mehrheit der Menschen, Deutschland müsse judenfrei werden, heute schreit sie, Deutschland müsse islamfrei werden. Viele haben gar nicht verstanden, dass es nicht der Islam ist, der die Probleme unter den Menschen verursacht, sondern die Fundamentalisten, die sogar ihre eigenen Landsleute in Lebensgefahr bringen, wenn sie nicht deren religiösen Ideologien befolgen. Ist der Mensch in Deutschland auch heute nicht in der Lage, zu differenzieren? Das hoffe ich nicht. Aber wenn ich nach Österreich schaue, und heute sogar nach Holland, in dem ein neuer Ministerpräsident gewählt wurde, dann haben sich die meisten NiederländerInnen doch gegen den Rechtspopulisten Geert Wilders und für den rechtsliberalen Mark Ruppe entschieden. Das macht mir Hoffnung. Auch in Österreich gewann 2016 völlig unerwartet Alexander Van der Bellen die Bundespräsidentenwahl ... 

Ich stellte mir wiederholt beim Lesen die Frage, welche Auswirkungen es in Deutschland und in Europa gehabt hätte, wenn Hitler als Sieger aus den Kriegen geschieden wäre? Ich werde niemals eine Antwort darauf finden, aber ich kann hoffen, dass es nie wieder einen Weltkrieg geben wird, und dass es in allen Ländern, in denen gerade Bürgerkriege herrschen, diese dort bald ihr Ende finden werden.

Astrid Lindgren war zu dieser Zeit, als sie ihr Kriegstagebuch geschrieben hat, noch keine Schriftstellerin, wobei die Figur Pippi Langstrumpf durch die Tochter Karin in hohem Fieber schon geboren wurde. Dass Astrid Lindgren begabt ist zu schreiben, zeigt schon dieses Tagebuch, das neben ihrem Intellekt auch zusätzlich mit so viel Seele gefüllt ist.

Ich vergebe diesem Buch zehn von zehn Punkten.

Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung.
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Dienstag, 7. März 2017

Astrid Lindgren / Die Menschheit hat den Verstand verloren

Tagebücher von 1939-1945


Lesen mit Anne


Klappentext
»Man muss daran verzweifeln, wie wenig die Menschheit in den vergangenen Jahrtausenden gelernt hat.« Astrid Lindgren Astrid Lindgren hat unsere Kindheit geprägt. Mit Pippi Langstrumpf und Wir Kinder aus Bullerbü hat sie unseren Blick auf die Welt verändert. Ihre Geschichten handeln von Mut, Hoffnung, Liebe und Widerstand. Jetzt liegen zum ersten Mal die Tagebücher vor, die sie während des Zweiten Weltkriegs geführt hat. Schon früh ist ihr klar, dass danach nichts mehr so sein wird wie zuvor. Ein faszinierender Einblick in die entscheidenden Jahre der berühmten Schriftstellerin.


Autorenporträt
Astrid Lindgren (1907-2002) ist die wichtigste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts, Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und Die Brüder Löwenherz sind Klassiker, die bereits von mehreren Generationen von Kindern und Eltern gelesen wurden. Sie überwinden mühelos die Grenzen von Alter, Geschlecht, Herkunft und Politik. Astrid Lindgrens Bücher wurden in über 96 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als 150 Millionen Mal verkauft. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin hat sie sich stets für Rechte von Kindern eingesetzt. 


Weitere Informationen zu dem Buch

Ich besitze die gebundene Ausgabe, aber mittlerweile gibt es schon die Taschenbuchausgabe.

·         Internationale Literatur
·         Taschenbuch
·         Broschur
·         592 Seiten, 14,00 €
·         Krigsdagböcker 1939–1945
·         Aus dem Schwedischen übersetzt von Angelika Kutsch, Gabriele Haefs.
·         ISBN-13 9783548288697
·         Erschienen: 18.11.2016


Und hier geht es auf die Ullstein-Verlagsseite.


Montag, 6. März 2017

Marcel Proust / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (BD7) (1)

Die wiedergefundene Zeit

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe es nun geschafft; ich bin durch mit Proust. Alle sieben Bände, und der siebente Band war aus meiner Sicht gesehen der beste. Ich habe so viele Blättchen zwischen den Seiten kleben, dass ich schauen muss, für welche Themen ich mich entscheiden werde …

So sprachgewaltig, mit so vielen philosophischen Gedanken, mit so vielen Bildern, in die Proust seine Gedanken hineingepackt hat, bin ich in diesem Band konfrontiert und bereichert worden. Der Marcel, der Icherzähler, wirkt auf mich viel reifer, der endlich auch mal in der Lage ist, sich selbstkritisch zu hinterfragen ...

Auch hier erlebte ich den Icherzähler Marcel als einen großen Leser verschiedenartiger belletristischer Literatur, V. Hugo, H. Balzac , etc. Er schreibt selbst auch literarische Artikel für den Figaro, wobei der Figaro nicht wirklich ein anspruchsvoller Zeitungsverleger ist, und zu vergleichen ist er heutzutage mit der deutschen Bildzeitung. Interessant fand ich aber, dass dieser Marcel die Figuren aus seinen gelesenen Büchern immer mit irgendwelchen Leuten verband, die er charakteristisch aus seinem Personenkreis her kannte. Dies erinnerte mich an meine eigene Lesezeit in meinen zwanziger Jahren. Auch ich verband fiktive Figuren aus den Romanen mit Personen aus meiner Lebenswelt, auf die ich herabschaute. Das hat sich glücklicherweise gewandelt, bin aus meiner eigenen inneren Blasiertheit herausgewachsen. 😈

Dieser Marcel hat auch in diesem Band nicht aufgehört, andere mit Worten zu zeichnen. Robert Saint-Loup und der Madame Guermantes hatte er nicht nur einen spitzen Vogelschnabel verpasst, nein, auch in Gefieder steckte er sie … Ich musste so lachen. Bloß keinen Proust begegnen, er porträtiert jeden Menschen mit einer peinlichen Visage ...

Aber diese Bilder finde ich trotzdem wunderschön, s. u. und sie charakterisieren exakt bestimmte Figuren im Roman.
(…) und wenn sich dieser zu einem Vogel gewordene Lichtschimmer in Bewegung, in Aktion setzte, wenn ich zum Beispiel Saint-Loup aus einer Soiree erscheinen sah, die ich selbst besuchte, hatte er eine Art, den mit dem goldenen Reiherbusch seines etwas gelichteten Haars gekrönten Kopf seidenweich und stolz aufzurecken und Halsbewegungen zu machen, die weit geschmeidiger, anmaßender und koketter waren als solche, wie Menschen sie zeigen, dass man sich in einer Mischung aus Neugier und halb mondän, halb zoologisch bestimmter Bewunderungen bei seinem Anblick fragte, ob man sich im Faßberg Saint-Germain oder im Jardin des Plantest (zoologischer Garten, Anm. d. Verfasserin) befinde, ob man einen vornehmen Herren oder einen Vogel einen Salon durchqueren oder in seinem Käfig promenieren sehe. Diese ganze Rückkehr jedoch zu der gefiederten Eleganz der Guermantes mit dem spitzen Schnabel und den stechenden Augen wurde für sein neues Laster nutzbar gemacht, indem er sich ihrer bediente, um eine gewisse Haltung aufrechtzuerhalten. (…) Mit etwas Fantasie könnte man den Gesang nicht minder als das Gefieder auf diese Weise deuten. (16)

Mittlerweile sind die Figuren alle älter geworden, und einige vertraut gewordene Namen findet man am Grabstein wieder … Vereinzelt aber sind Figuren im Zweiten Weltkrieg gefallen, im Kampf zwischen Frankreich und Deutschland.

Man findet hier nochmals ein paar wenige Szenen zu Marcels früherer Geliebten Albertine, die ihn damals verlassen hatte, und er sich soweit verändert hat, dass er es nicht mehr nötig habe, Madame Bontemps Geld anzubieten, damit Albertine wieder zu ihm zurückfinden würde. Wieder eine Szene, in der Marcel sich Frauen mit Geld zu erkaufen versuchte. Nun sei er aber ein anderer geworden, und er von dieser Liebe sich mit der Zeit als geheilt betrachten konnte.

Auf den ersten zweihundert Seiten stehen die Kriegsthemen im Vordergrund. Marcel wurde nicht einberufen, da er Asthmatiker ist. Die Unmenschlichkeit des Krieges wird auch hier deutlich gemacht, auch wenn eine Regierung gefallene Soldaten zu Helden auszeichnet ... In Frankreich war es verboten, bei gefallenen Soldaten Trauerkleider zu tragen, sonst wurden, vor allem bei jungen Soldaten, die Eltern von der Trauerfeier ausgeschlossen.
Wenn ihm (dem Vater, Anm. d. Verfasserin) auch der General sagte, es sei alles für Frankreich und sein Sohn habe sich wie ein Held bewährt, schlug der arme Mann, der sich von dem Leichnam seines Sohnes gar nicht trennen konnte, daraufhin nur umso mehr. Schließlich -und deshalb muss man sich an dieses >keiner kommt hier durch< und so weiter gewöhnen - haben doch eben alle diese Leute (…) die Deutschen am Durchkommen gehindert. Du findest vielleicht, dass wir selbst nicht recht vorankommen, aber man darf nicht nach Vernunftgründen gehen, denn eine Armee fühlt sich siegreich aufgrund einer inneren Einsicht (...) Wir aber wissen, dass wir den Sieg erringen werden, und wir wollen es auch, um einen gerechten Frieden zu diktieren, ich meine damit nicht nur, gerecht für uns, wahrhaft und wirklich gerecht für die Franzosen, sondern auch für die Deutschen gerecht. (91)

Wie kann ein Krieg dies leisten? Aber ich finde den Gedanken nicht schlecht, wobei Marcels Haltung nicht immer klar ist. Manchmal zeigt er patriotische Züge und manchmal scheint er davon losgelöst zu sein. Manchmal verachtet er Kriegsverweigerer, die sich nicht für das Vaterland einsetzen, und manchmal zeigt er Verständnis.

Was in diesem Band erhalten ist, sind die vielen Intrigen und Geläster innerhalb jener gehobenen Gesellschaft. Bestimmte Figuren haben sich weiterhin das Maul über Homosexuelle aufgerissen und den Ruf vor allem von Monsieur de Charlus in Misskredit gebracht und damit Schaden angerichtet. Besonders Madame Guermantis und Madame Verdurin waren ganz versessen darauf, über andere Menschen zu lästern. Gegenüber Monsieur de Charlus nahmen die Lästereien durch den Ausbruch des Krieges eher zu, da Charlus Mutter eine aus Bayern stammende Herzogin sei. Aber das fuchste de Charlus nicht, er war sich selbst genug, als dass er sich die Laune habe verderben lassen.

Marcel, der sonst an den Lästereien auch immer beteiligt gewesen war, denn, auch er litt an Vorurteilen gegenüber Menschen, die andersgeartet sind, kommt Charlus gegenüber zu neuen Erkenntnissen:
Zu einer vorurteilslosen Haltung vermochte ich gar nicht zu gelangen. Monsieur de Charlus hingegen hatte das fertiggebracht. In seiner Eigenschaft als bloßer Zuschauer musste ihn nun alles veranlassen, germanophil zu sein, insofern er, wie wohl nicht wirklich Franzose, in Frankreich lebte. Er war sehr feinsinnig; in jedem Land aber sind die Dummköpfe in der Überzahl; hätte er in Deutschland gelebt, hätten ihn zweifellos die deutschen Dummköpfe gereizt, jene, die mit törichten und leidenschaftlichen Argumenten eine ungerechte Sache verfochten. (122)

Madame Verdurin lästerte zudem über den Journalisten Brichot. Im Folgenden ein kleiner Dialog zwischen Madame Verdurin und Cottard, der von Beruf Arzt ist:
Madame Verdurin begann niemals einen Artikel von Brichot zu lesen, ohne sich im Voraus an seinen Lächerlichkeiten zu delektieren, und las ihn mit größter Aufmerksamkeit, damit ihr keine einzige entging. Leider hoffte sie nun vergeblich. Man wartete aber nicht einmal, bis man sie gefunden hatte. Das geglückteste Zitat eines allerdings wenig bekannten Autors - oder aus einem wenig bekannten Werk, auf das Brichot sich bezog -wurde als Beweis der unerträglichsten Pedanterie angeführt, und Madame Verdurin wartete mit Ungeduld auf die Stunde des Abendessens, um bei ihren Gästen Lachstürme zu entfesseln.>>Man muss ihm allerdings lassen, dass seine Artikel sehr gut geschrieben sind.<<
>>Wie? Sie finden das gut geschrieben? (…) Ich persönlich finde, er schreibt wie ein Schwein.<< (146ff)

Diese Szenen sollten nur ein Beispiel sein, mit welchen Lächerlichkeiten diese vornehmen Leute sich ihre Zeit vertreiben. Und Marcel verpasste nie eine Gelegenheit, sich daran zu beteiligen.

Interessant fand ich aber auch, wie Marcel mit den Schlagzeilen umgeht, die Haltung zu dem tobenden Krieg. Ich erlebe ihn hier sehr kritisch gegenüber dem Journalismus und dessen Schlagzeilen:
Die Wahrheit ist, dass die Leute alles durch die Brille ihrer Zeitungen sehen, und wie könnte es anders sein, dass wir persönlich weder von den betreffenden Persönlichkeiten noch von den Ereignissen wissen! (…) Die Leute hassen jetzt Franz Josef, weil ihre Zeitung es ihnen nahelegt. Über König Konstantin von Griechenland und den Zaren von Bulgarien hat die Meinung des Publikums mehrmals zwischen Abneigung und Sympathie geschwankt, weil es abwechselnd hieß, sie würden sich auf die Seite der Entente, oder auf die der Gruppe, Zentralmächte, stellen. (…) (138ff)

Auch Monsieur des Charlus geht kritisch mit den Schlagzeilen um:
>>Erstaunlich ist<<, sagte er, >>dass dieses Publikum, das die Menschen und Dinge des Krieges immer nur nach seiner Zeitung beurteilt, gleichwohl der Ansicht ist, es bildet sich eine Meinung aus eigener Kraft.<< (142)

Das könnten meine Worte gewesen sein, im Umgang mit den Medien, denn das ist ja noch heute so, dass wir LeserInnen stark von den Medien manipuliert werden, ob das Bücher sind, die man unkritisch in sich aufnimmt, oder Zeitungen, die undifferenziert zur nationalen und zur internationalen Problemlage schreiben. Es gibt Länder, die ewig schlecht bei Journalisten abschneiden, das Gute bleibt verborgen, während andere Länder dagegen immerzu von der besten Seite gezeigt werden, und hier bleibt das Schlechte verborgen …

Jetzt habe ich doch so viel geschrieben, ohne dass ich auf den Kern der Frage eingegangen bin. Was ist denn nun mit der wiedergefunden Zeit? Marcel Proust schreibt hier über so viele interessante Dinge, er schreibt nicht nur über Literatur, nicht nur über die Architektur, nein, es sind viele philosophische Gedanken zum Alter und zum Tod, etc. dass ich es so schade finde, nicht alle Weisheiten herausschreiben zu können. Um aber zur Kernfrage zurückzukehren; Ja, er hat erkannt, dass er viel Zeit in der Gesellschaft zugebracht hat, aber aus meiner Sicht war dies nötig, weil er in der Gesellschaft Stoff für seine Bücher sammeln konnte. Vielleicht kann man dies mit einer empirischen Feldstudie vergleichen, in der Icherzähler der Beobachter ist, nur leider nicht immer neutral. Er selbst war ziemlich versnobt und nicht selten beurteilte er andere Menschen von oben herab, weshalb er mir sechs Bände lang unsympathisch war.

Verduris, Guermantes, etc. waren alles Menschen, die für ihr Geld nicht arbeiten mussten, aber vielleicht täte ihnen Arbeit gut, weil sie zu viel Zeit vergeudet haben, über andere herzuziehen. Marcel selber war daran beteiligt, er mochte keine Juden, und auch keine Homosexuellen, er mochte keine Menschen, die anders lebten.  Demnach war er auch nicht immer frei von Vorurteilen. Aber am Ende erkennt er dies, die Zeit, die er in dieser Gesellschaft zugebracht hat und sehnt sich nach seinem Schreibtisch zurück, um an seinem Buch zu arbeiten.

Hier beschäftigt er sich auch mit der Frage, ob er sich zum Schriftsteller eigne?

Dazu kommt er zu interessanten, kritischen Selbsterkenntnissen, die meine Theorien zu dem erzählenden und geschwätzigen Marcel ein wenig untermauern:
Anstatt aber zu arbeiten, hatte ich in Trägheit, in Zerstreuung durch Vergnügen, in Krankheit dahingelebt, mich selbst und meine Manien gepflegt und unternahm mein Werk (…), ohne irgendetwas von meinem Metier zu verstehen. Ich fühlte nicht mehr die Kraft in mir, meinen Verpflichtungen gegen die anderen Menschen noch meinen Pflichten gegen mein Denken und mein Werk, noch weniger aber beiden zugleich gerecht zu werden. (517)
An dieser Textstelle finde ich Marcel wieder, wie ich ihn in seinen anderen Werken charakterisiert hatte. Seine Selbstreflektion ziehen ihn zurück an den Schreibtisch, um endlich mit dem Schreiben zu beginnen.
Ja, es sei nun an der Zeit, mich an dieses Werk zu begeben - das sagte mir jene Vorstellungen von der Zeit, die ich mir soeben gebildet hatte. Es war höchste Zeit; aber, und das rechtfertigt die Angst, die sich meiner gleich beim Eintreten in den Salon bemächtigt hatte, als die geschminkten Gesichter mir den Begriff der verlorenen Zeit vermittelten, war es wirklich noch Zeit, und war ich selbst noch imstande dazu? Dem Geist sind Landschaften gegeben, deren Betrachtung ihm nur eine Zeitlang gestattet ist. (508)

Auf den letzten Seiten findet eine intensive Auseinandersetzung statt zu dem Leben des Icherzählers und weiterhin die dringende Absicht, unbedingt ein Buch darüber zu schreiben. Seine Ausdrucksweise finde ich geradezu genial, weshalb ich sie fast ungekürzt hier festhalten möchte:
Wie viel mehr erschien es mir jetzt so, da ich meinte, dass dieses Leben, das man im Dunkel lebt, aufgehellt und zur Wahrheit dessen, was es war, zurückgeführt, dass dieses Leben, das man unaufhörlich fälscht, in einem Buch verwirklicht werden könnte! (Ebd)
Und nun feilt er seine Gedanken zu dem werdenden Buch in wunderschöne Metaphern aus, wobei er hier von dem Schriftsteller an sich spricht, in idealisierter Form:
Wie glücklich würde der sein, dachte ich, der ein solches Buch zu schreiben vermöchte, doch welche Arbeit liegt auch vor ihm! Um davon eine Vorstellung zu geben, müsste man Vergleiche aus den höchsten und verschiedenartigsten Künsten entnehmen; denn dieser Schriftsteller, der außerdem bei der Gestaltung jedes Charakters, um ihn plastisch darzustellen, die entgegengesetzten Seiten aufzuzeigen hätte, müsste sein Buch sorgfältig unter unaufhörlicher Umgruppierung der Kräfte wie eine Offensive vorbereiten, es ertragen wie die Qual der Ermüdung, wie eine Ordensregel auf sich nehmen und wie eine Kirche erbauen, ihm folgen wie einer ärztlichen Weisung, es überwinden wie ein Hindernis, erobern wie eine Freundschaft, hegen und pflegen wie ein Kind, es schaffen wie eine Welt, ohne jene Geheimnisse außer Acht zu lassen, die ihre Erklärung wahrscheinlich nur in anderen Welten finden, deren erahntes Sein jedoch das ist, was uns im Leben und in der Kunst am tiefsten zu bewegen vermag. In solchen großen Büchern aber gibt es ganze Partien, die aus Mangel an Zeit im Zustand der Skizze geblieben sind und zweifellos auch nicht fertiggestellt werden können, weil der Plan des Baumeisters zu großartig war. Wie viele gewaltige Kathedralen bleiben unvollendet! Man nährt ein solches Werk, man verstärkt seine schwachen Teile, man erhält es, doch dann ist es dieses Werk, das wächst, das unser Grab bezeichnet, es vor Gerüchten und eine Zeitlang vor dem Vergessen bewahrt.(Ebd)

Nun folgen interessante Gedanken zu seinem Buch und zu seinen Lesern, und ich mich sogar angesprochen gefühlt habe, da ich mich recht kritisch in meinen Buchbesprechungen Marcel gegenüber auseinandergesetzt hatte. Seine Ausdrucksweise hatte mir wieder sehr imponiert:
Um aber auf mich selbst zurückzukommen, so dachte ich bescheidener an mein Buch, und es wäre sogar ungenau zu sagen, dass ich an die dachte, die es lesen würden, an meine Leser. Denn sie würden meiner Meinung nach nicht meine Leser sein, sondern die Leser ihrer selbst, da mein Buch nur etwas wie ein Vergrößerungsglas sein würde, ähnlich jenen, die der Optiker in Combray einem Käufer über den Ladentisch reichte - mein Buch, durch das ich ihnen ermöglichen würde, in sich selbst zu lesen. So würde ich auch nicht von ihnen erwarten, dass sie mich loben oder mit Tadel bedenken, sondern nur, dass sie mir sagen, ob es wirklich so ist, ob die Worte, die sie in sich selbst lesen, die gleichen sind wie die, die ich niedergeschrieben habe (wobei die möglichen Abweichungen im Übrigen nicht immer daher rühren müssen, dass ich mich getäuscht habe, sondern vielleicht zuweilen auch darauf zurückzuführen sind, dass die Augen des Lesers nicht zu denen gehören, für die mein Buch das geeignetere Mittel ist, um in sich selbst lesen.) 504


Mein Fazit zu dem Buch?

Am Ende kommt der Icherzähler zu seinem inneren Frieden, er wirkt auch viel ausgeglichener, doch um seine interessanten Gedanken etwas abzukürzen, damit auch ich zum Schluss komme, dazu ein letztes Zitat, das so schön geschrieben ist, dass ich eigene Worte dazu nicht weiter benötige: 
Immerhin würde ich es zuallererst nicht unterlassen, wenn die Kraft mir lange genug erhalten bliebe, mein Werk zu vollenden, darin die Menschen, auf die Gefahr hin, dass sie dann monströsen Wesen glichen, als Figuren darzustellen, die neben dem so beschränkten Platz, der ihnen im Raum reserviert ist, einen anderen, beträchtlichen, im Gegensatz zum ersten nahtlos in die Länge gezogenen Platz einnehmen, da sie ja, wie in die Tiefe der Jahre getauchten Riesen, gleichzeitig so weit voneinander entfernte Epochen berühren, die sie durchlebt haben und zwischen die sich so viele Tage geschoben haben - einen Platz in der Zeit. (527f)

 Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch

D: 17,00 € 
A: 17,50 € 
CH: 24,50 sFr
Erschienen: 29.11.2004
suhrkamp taschenbuch 3647, Broschur, 641 Seiten
ISBN: 978-3-518-45647-7
Und hier geht es auf die Verlagsseite von Suhrkamp. 
Und hier auf Zeit-online gibt es einen interessanten Artikel zu Marcel Proust, geschrieben von einem meiner LieblingsautorInnen Stefan Zweig.

Wie geht es nun weiter mit meinem Marcel Proust-Leseprojekt? 

Ich habe noch die beiden Bände mit Proust-Briefen im Regal stehen, die im letzten Herbst im Suhrkamp-Verlag herausgekommen sind. Und eine Biografie werde ich mir auch noch anschaffen, sodass das Leseprojekt weitergeführt werden kann. 
______
In jedem Land sind die Dummköpfe in Überzahl.
(Marcel Proust)

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