Mittwoch, 2. Januar 2013

Irvin D. Yalom / Das Spinoza - Problem




Klappentext
Der jüdische Philosoph Spinoza und der nationalsozialistische Politiker Alfred Rosenberg – nicht nur Jahrhunderte liegen zwischen ihnen, auch ihre Weltanschauungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine ein unbeugsamer Freigeist, der wegen seiner religionskritischen Ansichten aus der jüdischen Gemeinde verbannt wurde und heute als Begründer der modernen Bibelkritik gilt. Der andere ein verbohrter, von Hass zerfressener Antisemit, dessen Schriften ihn zum führenden Ideologen des nationalsozialistischen Regimes machten und der dafür bei den Nürnberger Prozessen zur Rechenschaft gezogen wurde. Und trotzdem gibt es eine Verbindung zwischen ihnen, von der kaum jemand weiß, denn bis zu seinem Tod war Rosenberg wie besessen vom Werk des jüdischen Rationalisten, als dessen »entschiedenster Verehrer« sich kein geringerer als Johann Wolfgang von Goethe bezeichnet. Fesselnd erzählt der große Psychoanalytiker Irvin D. Yalom die Geschichte dieser beiden unterschiedlichen Männer und entführt seine Leser dabei in die Welt der Philosophie und gleichzeitig auch in die Tiefen der menschlichen Psyche.

Autorenportrait
Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.

 Ich habe von Irvin Yalom alle Bücher gelesen, mit Ausnahme des vorliegenden, das erst kürzlich herausgekommen ist.

Alle seine Bücher haben mich gefesselt, so auch dieses Buch, aus dem ich fünfzig Seiten gelesen habe. Er schreibt viel aus seiner psychoanalytischen Praxis, aber mit einer großen literarischen, schriftstellerischen Begabung. Alles andere als trockene Theorien. Ich liebe ihn... .

Und ich bin nach Abschluss eines jedem von ihm gelesenen Buches immer mit ein bißchen mehr Wissen herausggangen... .
Er hat zu verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbilder geschrieben, wie z.B. über die Persönlichkeitsstörung Borderline, und er hat zu verschiedenen Berühmtheiten Biografien, wie z.B. Als Nietsche weinte, verfasst, mit dem Schwerpunkt der psychischen Erkrankung.


Carlos Ruiz Zafón / Der Schatten des Windes (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Die junge Frau Clara, die blind ist, hat durch ein einziges Buch ihr Wesen verändern können. Ich zitiere:

Dieser Roman hat mich gelehrt, dass ich durch Lesen mehr und intensiver leben, dass Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat mir dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.

Der Roman hieß Das rote Haus und wurde von Julián Carax geschrieben  Das Buch schrieb nur eine sehr geringe Verkaufsquote, weshalb nur wenige Bände im Umlauf waren. Von Carax ist auch Der Schatten des Windes geschrieben worden, das sich nun in den Händen eines zehnjährigen Jungen befindet.

Carax verbrennt Bücher, hauptsächlich seine, als wolle er alles Leben darin vernichten... . Ein Leben, in dem er und seine Geliebte betrogen worden sind... .

Bis auf den letzten hundert Seiten war ich mit Rätselraten beschäftigt, und glaubte, dass eine bestimmte Romanfigur aus Der Schatten des Windes sich verselbständigt und sich aus dem Buch geschlichen hat. Eine ominöse Figur mit einer Lederhaut, eine durch schwere Verbrennungen erworbene Lederhaut, die besessen ist, das letzte Buch, das es noch von ihm gibt, an sich zu reißen, um es zu verbrennen.  Ich tippte auf Carax selbst. Daniel Sempere, die Hauptfigur dieses Romans, gehörte einst dieses letzte Buch, das er an Clara weitergeschenkt hatte, und diese an ihren Musiklehrer. Ursprünglich hatte Daniel seinem Vater versprochen, das Buch keinem anderen Menschen weiterzureichen, nicht mal für viel Geld, er sollte stattdessen das Buch adoptieren. Er hatte es sich aus der Galerie selbst ausgesucht. Das Buch stammt aus dem Friedhof vergessener Bücher. An diesem Ort, wo die Bücher nach Verwesung,  nach dem Tod riechen, nach Verlassenheit, Bücher, die in Vergessenheit geraten sind, da sie verwaist sind, herrenlos sozusagen,  und Daniel durfte sich ein Buch aussuchen und für es sorgen, es neu beseelen, nachdem er an diesem Ort eingeweiht wurde:

Was du hier siehst, Daniel, ist ein geheimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele ist dessen, der es geschrieben hat, und die Seelen derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedes Mal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedes Mal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten lässt, wächst sein Geist und wird stark.

Dieses Zitat hat mir sehr, sehr gefallen. Ich selbst hatte schon wiederholte Male den Eindruck gehabt, dass manche Bücher beseelt seien. Man kann es nicht erklären, wie sich so etwas anfühlt, es ist ein Gespür. Es ist, als würde das Buch zur Leserin sprechen... .

Daniel befindet sich in Gesellschaft von Clara, und Clara ist die Tochter eines Buchhändlers. Clara hat selbst jede Menge Erfahrungen mit Büchern gesammelt, da der Vater eine Bibliothek von etwa vierzehntausend Bänden besitzt. Clara tauscht sich mit Daniel aus, teilt ihm ihre Erfahrungen mit den Büchern mit:

Dieser Roman hat mich gelehrt, dass ich durch Lesen mehr und intensiv erleben, dass Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.

Neben mehrere verzwickte Liebesgeschichten beinhaltet das Buch auch starke, politische Anteile, zum Teil aus dem Bürgerkrieg, aus der Franco-Regierung, und den zweiten Weltkrieg bis 1945. Korruption im Militär und Polizei. In dem Kampf zwischen Gut und Böse fiel ein Zitat, das mir auch gut gefallen hat:

Sündigen Menschen die Seele mit Salmiak putzen, *lol*. 

Also, manchmal muss man einfach Geduld haben mit den Büchern. Ich war wohl auf der richtigen Spur. Erstens: Daniel entdeckt immer mehr Parallelen in seinem Leben, die mit Carax identisch sind.
Zweitens: Es ist tatsächlich so, dass Carax aus den Seiten seines geschriebenen Buches entwicht ist. Und es gibt noch andere, echte Personen, die als eine Romanfigur im Der Schatten des Windes existierten. Doch Carax selbst sagt von sich, dass alle Figuren aus Der Schatte des Windes Teile von ihm selbst seien. Jede Figur sei er selbst.

Das Leben im Der Schatten des Windes verlangt nach einer Auflösung, zu dem es durch widrige Umständen und Intrigen
nicht kommen konnte. Erst Daniel, der sich zu dem Buch hingezogen fühlt, setzt die Geschichte fort, lebt den Inhalt des Romans weiter, er lebt den Roman zu Ende, ohne dass er es selbst weiß. Daniel beendet sozusagen das, was in Carax´ Leben in dem Buch noch offen geblieben ist. Daniel gerät dadurch in einen tiefen Strudel von ernsthaften  existentiellen Gefahren und Intrigen... . Gefahren mit der korrupten Polizei, Intrigen mit der Liebe.

Ich hatte mich gefragt, ob Daniel selber eine Figur aus dem Buch ist, nur dass er davon selbst nichts weiß????? Meine Antwort erhielt ich zum Ende hin; Ja, sie ist es. Julián und Daniel lernen sich kennen, und das Buch wurde erst später zu Ende geschrieben, als sich alle Wogen geglätten haben. Daniel, Bea u.a.m. gehören mit zu diesen Literaturfiguren, und alle hatten ihre Aufgaben und Lebensprüfungen zu bestehen... . Alle diese Figuren, gute oder böse, waren wie ein Band miteinander verknüpft.

Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat.

Dieses ZITAT bestätigt meine Theorie. Ich bin der selben Ansicht. Deswegen schreibe ich viel lieber über die Eindrücke meiner gelesenen Bücher, statt Rezis, in denen es hauptsächlich um Fakten geht. Denn die Eindrücke sind meine, die die Bücher aus meinem Inneren hervorholen.
Und ein Spiegel war das Buch auch für Daniel, der quasi in Julián Carax´Fußstapfen getreten ist, und sein unvollständiges Leben fortgesetzt hat.

Penélope ist ein junges Mädchen, die den ganzen Tag nur BÜCHER liest. Menschen, die viel lesen, wurden als Faulpelze bezeichnet, die nichts tun würden... . Solche Leute gibt es heute immer noch... .
Und es gibt einen Sigmund Freud - Anhänger, der seine Kameraden psychoanalytisch unter die Lupe nimmt und immer richtig lag mit seinen Charakterisierungen. Penelope büßte ein tragisches Ende, da sie durch Julián, ihren Geliebten, beim Koitus erwischt wurde. Für Julián, der seine Penelope nicht vergessen kann, beginnt ein schweres Leben. Erst sechzehn Jahre später erfährt er von ihrem Tod durch den Vater... . Eine tragische Geschichte  aber nicht nur zwischen diesen beiden jungen Menschen.

Daniel besucht mit seinem Freund Fermin zusammen ein Seniorenheim, um bei der damaligen Kinderfrau von Penelope gewisse Dinge auszukundschaften, was die Romanfigur Julian Carax betrifft. Er weiß noch nicht, dass Penelope nicht mehr lebt und ist auf Spurensuche. Erkenntnisse zu alten Menschen:

Das Alter lässt die Menschen alle lammfromm aussehen, aber hier gibt es ebenso viele Schweinehunde wie draußen, wenn nicht noch mehr. Die da gehören nämlich zu denen, die überlebt und die anderen ins Grab gebracht haben.
Der letzte Satz des obigen Zitats hat mich recht nachdenklich gestimmt, weshalb ich ihn aufschreiben musste.

Das Buch beinhaltet eine Fülle an Geschichten. Größtenteils dramatische Geschichten. Die vielen Details der vielen Figuren halte ich für eine geistige Herausforderung, positiver Art.

Das Buch war nicht ganz leicht zu lesen. Vorhandene komplizierte und komplexe Strukturen in den Figuren und im Alltag des Romans. Durch die vielen erzählten Geschichten musste man immer wachsam sein und sich die Figuren merken, die man hauptsächlich nur aus den Erzählungen kannte... .  Jede Menge Ecken und Kanten, und gerade das ist es, was die Lektüre lesenswert gemacht hat. Der Autor hat sich wirklich viel einfallen lassen..


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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

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Samstag, 29. Dezember 2012

Carlos Ruiz Zafón / Der Schatten des Windes


Taschenbuch: 855 Seiten

Suhrkamp Verlag; Auflage: 2 (30. Juli 2007)


ISBN-10: 3518459023


12,90 €





Klappentext


An einem dunstigen Sommermorgen des Jahres 1945 wird der junge Daniel Sempere von seinem Vater an einen geheimnisvollen Ort in Barcelona geführt - den Friedhof der Vergessenen Bücher. Dort entdeckt Daniel den Roman eines verschollenen Autors für sich, er heißt >Der Schatten des Windes<, und er wird sein Leben verändern ... Carlos Ruiz Zafón eroberte mit seinem Buch die Herzen leidenschaftlicher Leser rund um den Globus. >Der Schatten des Windes< bildet den Auftakt eines einzigartigen, fesselnden und berührenden Werks, er ist der erste von vier Barcelona-Romanen um den Friedhof der Vergessenen Bücher und die Buchhändler Sempere & Söhne. Auf >Der Schatten des Windes< folgten >Das Spiel des Engels< und >Der Gefangene des Himmels<.


Autorenportrait

Carlos Ruiz Zafón wurde am 25. September 1964 in Barcelona geboren und besuchte dort die Jesuitenschule Sarrià. Beruflich war er später zunächst in einer Werbeagentur tätig. 1993 erhielt der damals 29-Jährige für seinen ersten Roman El príncipe de la niebla (dt. Der Fürst des Nebels, 1996) einen Jugendliteraturpreis. Mit seinem Roman La sombra del viento (dt. Der Schatten des Windes) katapultierte er sich an die Spitze der Bestseller-Listen. Seit 1994 lebt er in Los Angeles, arbeitet als Drehbuchautor und schreibt für die spanischen Tageszeitungen El País und La Vanguardia.

Der Autor ist mir nicht unbekannt, habe von ihm das Buch Marina, gelesen, dessen Inhalt ich mir behalten habe, obwohl es mir nicht besonders gut gefallen hatte. Man sollte einem Autor trotzdem nochmals eine zweite Chance geben. Das obige Buch wurde zudem auch unter Bücherfreunde hoch gelobt, so dass ich von deren Begeisterung ein wenig angesteckt wurde.

Der Suhrkamp hat das Buch in Großdruck herausgegeben, was die hohe Seitenzahl erklärt. 


Freitag, 28. Dezember 2012

Abdel Sellou / Einfach Freunde (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Zu Philippe Pozzo di Borgos Band Ziemlich beste Freunde habe ich nicht so viele schönen Eindrücke wiedergeben können, anders zu dem Band von Abdel Sellous Einfach Freunde.
Das Buch habe ich im Vergleich dazu mit großem Interesse gelesen, während Pozzo ich einfach langweilig fand. Nun bin ich doch motiviert, mir auch die Verfilmung anzusehen.

Zwar ist Abel in seiner Jugend ein Großkotz gewesen, lebte kriminell, ab seiner Volljährigkeit hatte die Justiz keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen müssen. Er saß wiederholte Male im Knast, und er beschrieb den Knast fast wie ein Fünfsterne Hotel, aber Kost und Logis frei. Bei diesem Gelabere bekam ich ein wenig Gänsehaut, ich musste an Dickens, Fallada, an Dumas denken, sie alle haben über die Gefängnisse ihrer Zeit geschrieben und ihnen ist es sicher mitzuverdanken, dass die Menschen nicht mehr in dunkle, feuchte Kellerlöcher eingebuchtet werden. Ihnen habe wir es mit zu verdanken  dass die Inhaftierten heute ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden und da kommt so ein Abdel Sellous daher und lässt diese Sprüche ab. Es gibt genug Politiker, die diese Meinung auch vertreten und da wäre ich vorsichtig mit solchen Äußerungen... .

Also mich schreckt das Gefängnis kein bisschen. Wenn's dort wirklich so schlimm wäre, würden sich die Häftlinge nach ihrer Entlassung doch gleich eine ehrliche Arbeit suchen, um nie wieder eingelocht zu werden. Ich kann mir mein Sandwich in aller Ruhe schmecken lassen, kein Grund zur Panik.  (…). Zehn Monate Gefängnis also, nicht mal ein Jahr. Das Urteil bringt mich nicht aus der Ruhe. Fast bin ich erleichtert, wie der Obdachlose, der auf freie Unterkunft und Verpflegung aus ist. (…)
Willkommen im Erholungsheim. (...) Die Riegel schnappen auf. Ich strecke und lehne mich, massiere mir den Nacken, gähne ausgiebig. Bald wird der Kaffee serviert, im Flur rollt der Wagen immer näher. Ich strecke meinen Becher aus, greife mir das Tablett, lege mich wieder hin. (…) Frühstückt im Bett, was will das Volk mehr? Ein bisschen Ruhe vielleicht.

Es geht immer weiter so, die Beschreibung aus seinem Knast, assoziiert mit einem Erholungsheim.

Abdel Sellou ist in Algerien geboren und wurde zusammen mit seinem um ein Jahr älteren Bruder mit vier Jahren nach Paris geschickt, zu seiner Tante und seinem Onkel, die seine neuen Eltern werden, ohne Adoptionsverfahren. Für Abdel ist es ganz normal, dass Eltern ihre Kinder fortschicken, ist in seiner Kultur weit verbreitet. Während Schulpsychologen den Elternverlust als Verlust bezeichnen, der zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt habe, bagatellisiert Abdel sein Erlebnis. Ich kann mir selbst auch vorstellen, dass die beiden Kinder einen Kulturschock erlitten haben... .
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit gerade mal vier Jahren schon sagen kann was gesellschaftlich  normal und was nicht normal ist.

Abdel belustigt sich über die Kindererziehung in Frankreich. Während französische Kinder an der Leine geführt werden würden, werden afrikanische Kinder recht früh losgelassen, um eigene Erfahrungen zu machen.

Ich konnte mich nicht in andere Menschen rein versetzen. Ich kam nicht mal auf die Idee, es zu versuchen. Hätte mich einer gefragt, wie sich wohl ein Junge fühlt der gerade ausgeraubt wurde, wäre ich in ein hämisches Kichern verfallen. Da an mir alles abprallte, musste es den anderen zwangsläufig ähnlich ergehen, erst recht diese Muttersöhnchen, die mit einem Silberlöffel im Mund auf die Welt gekommen waren.

Die Polizei selbst besaß Kinder und Jugendlichen gegenüber eine recht hohe Toleranzgrenze. Immer, wenn Abdel beim Stehlen erwischt und auf des Revier gebracht wurde, war er innerhalb kürzester Zeit wieder auf der Straße. Grenzen habe er auch von den Polizisten bis zum seinem achtzehnten Lebensjahr nicht wirklich erfahren.

Seine neuen Eltern mischten sich nicht in die Entwicklung des Kindes ein, da ihre Kultur vorschreibt, dass Kinder heranwachsen sollen, indem sie ihre eigenen Erfahrungen machen sollen. Als die Eltern gemerkt haben, dass Abdels Entwicklung immer mehr mit kriminellem Potential behaftet war, war es schon zu spät. Kinder brauchen Grenzen und diese Grenzen hat Abdel nie zu spüren bekommen.

Die Psychologin versuchte Kontakt mit Abduls Eltern aufzunehmen:

Madame Sellou, Monsieur Sellou, ich darf Sie daran erinnern, dass sie für diesen Jungen die Verantwortung tragen, und zwar bis zu seiner Volljährigkeit, die in Frankreich mit 18 Jahren erreicht ist. Bis dahin müssen sie ihn beschützen, auch gegen seinen Willen. Ein Kind bedeutet keine Last, sondern eine Aufgabe, die Eltern zu erfüllen haben.

Die Eltern waren zwar gewillt etwas zu verändern, doch, wie schon gesagt, es war zu spät, Abdel ging weiterhin seinen eigenen Weg.
Und eigentlich ist es Abdel gewesen, der den Eltern sagte, was sie zu tun und was sie zu lassen haben. Die Eltern hielten es für ein Zeichen von Liebe, wenn sie ihren Kindern alles durchgehen lassen. Selten haben sie Verbote ausgesprochen, weil sie nicht wussten, dass diese zu der Erziehung dazugehören. Abdel bezeichnete es so, als fehlten den Eltern für die Kindererziehung die Gebrauchsanweisung.

Abdel lernt Philippe Pozzo di Borgo kennen, als er vom Arbeitsamt die Stellenbeschreibung in die Hand gedrückt bekommt. Pozzo ist ein Tetraplagiker, und er sucht einen Intensivpfleger. Erst konnte Abdel nichts mit dieser Stellenbeschreibung anfangen, ein Großkotz, der jetzt zu sozialem Denken und Handeln herausgefordert wird. Pozzo hatte viele Bewerber, aber er entschied sich ziemlich schnell für Abdel. Abdel, ein Krimineller, daraus machte er kein Geheimnis, hoffte, ihn damit abzuschrecken, doch Pozzo ließ sich nicht abschrecken. Pozzo war in der Lage, tief in Abdels Seele zu schauen, und entdeckten dort ein großes Herz. Nachdem Abdel sich mit dieser Pflegestelle angefreundet hatte, er schlug eine Probezeit vor, weil er sich für diese Stelle als absolut ungeeignet vorkam,  war sein Lebensmotto immer wieder, Menschen müssen in der Not zusammenhalten, schließlich wären Menschen keine Tiere.

Beide Menschen lernen voneinander  es entsteht eine tiefe Freundschaft. Mir hatte auch Pozzo imponiert, dass er diesem Menschen von Abdel unbedingt eine Chance geben wollte. Was Abdel nicht wusste, wusste Pozzo, dass Abdel genau der richtige Mann für ihn war. Mittlerweile konnte auch Abdel diese freundschaftliche Entwicklung mit seinem Patienten nicht mehr aufhalten. Mit viel Humor, Fantasie und Kreativität konnte er Pozzo zehn lange Jahre begleiten und Abdel selbst reifte zu einem Mann heran, der nun weiß, was Verantwortung bedeutet, sich selbst und seinem Gefährten gegenüber. Zur Abwechslung konnte Abdel auch richtig philosophisch werden:

Aber wer bin ich, um über das Leiden zu sprechen, über Scham und Behinderung? Ich habe bloß etwas mehr Glück gehabt als die große Masse der Blinden, die nichts gesehen hatten, bevor sie ziemlich beste Freunde gesehen haben.

Zum ersten Mal erlebe ich Abdul als jemanden, der einen anderen Menschen achten konnte, ihn mit Respekt anzupacken wusste.

Von Monsieur Pozzo schließlich und vor allem, Monsieur Pozzo mit großem M, großem P und allem anderen auch groß von der Intelligenz und dem Banksafe :D bis zur Demut. (…).

Ich reihe nun einen letztes Zitat an, das mir auch gut gefallen hat, weil es die Perspektive zeigt, die plötzlich wie vertauscht zwischen Pozzo und Abdul eine andere wird:

Pozzo hat mir seinen Rollstuhl wie eine Krücke angeboten, auf der ich mich abstützen konnte. Ich benutze sie noch heute.

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Mittwoch, 26. Dezember 2012

Abdel Sellou / Einfach Freunde


Ullstein Verlag

TB, 256 Seiten € 9,99 [D]
Erschienen: 12.03.12
SBN-10: 354828518X


Klappentext
In Ziemlich beste Freunde hat er die Zuschauer verzaubert – jetzt erzählt Abdel Sellou, das reale Vorbild für den Pfleger Driss, zum ersten Mal seine eigene Geschichte.
„Letztes Jahr sind Philippe und ich die Helden eines fabelhaften Films geworden: Ziemlich beste Freunde. Plötzlich will jeder mit uns befreundet sein! Alles, was die beiden im Film machen – Verfolgungsjagden im Luxusschlitten, Gleitschirmfliegen, Nachtspaziergänge durch Paris –, haben wir wirklich erlebt. Aber da ist noch viel mehr …“
Mit einem Nachwort von Philippe Pozzo di Borgo.


Autoreportrait im Klappentext
Abdel Yasmin Sellou wurde 1971 in Algier/ Algerien geboren. Er kam im Alter von vier Jahren nach Paris, wo er schon bald auf die schiefe Bahn geriet. Mit Anfa ng zwanzig stellte ihn Philippe Pozzo di Borgo als Pfleger ein – der Beginn einer großen Freundschaft, die beide Männer bis heute verbindet. Heute ist Sellou verheiratet und Vater dreier Kinder, er lebt in Algerien und Paris.

Auf das Buch bin ich aufmerksam gemacht worden über ein Literaturforum, worüber viele so sehr geschwärmt hatten.  Aber mir hat das erste Buch Ziemlich beste Freunde von Philippe Pozzo, die Freundschaft aus seiner Sicht geschrieben, gar nicht gefallen. Ich war ein wenig enttäuscht, was der Grund war, weshalb ich das vorliegende Buch nun als letztes zum lesen aus meinem kleinen SuB ausgewählt habe. Dieser Band dagegen liest sich anders. Ich habe gestern Abend ein wenig darin gelesen, um auf den Vorgeschmack zu kommen, und diesmal bin ich positiv überrascht worden. Mir gefällt das Buch ganz gut..
Mal schauen, ob es auch so bleibt.



Heide Koehne / Der Buchladen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen. Es ist nicht so abgehoben gewesen aber trotzdem interessant. Habe mir ein paar Textstellen markiert, die ich hier nun füllen möchte. Die Protagonistin des Romans sollte eigentlich Irma Schrei sein, für mich aber ist es die kleine Tochter Gertrud. Für mich ist sie die Heldin dieser Geschichte. Das Buch spricht aus der Ich-Perspektive, Gertrude, die Tochter von der Buchhändlerin, die erzählt.

Die junge und alleinstehende Irma eröffnet mit Anfang zwanzig eine Leihbücherei, die auch recht gut läuft. Ich wusste nicht, dass es früher so eine Art von Bücherei gab, wo die LeserInnen Kunden waren, die für jedes ausgeliehene Buch eine Gebühr zu entrichten hatten. Es gab sogar Verlage, die ausschließlich Bücher für Leihbüchereien publizierten. Irma war in ihrem Wesen ein recht introvertierter Mensch, der sich in die Bücher ihres Buchladens vertiefte. Sie las ein Buch nach dem anderen, wenn keine Kunden im Laden waren. Die Kunden schätzen sehr ihre ruhige und kenntnisreiche Art, weshalb sich viele Kunden zu ihr hingezogen fühlten. Viele kamen, um sich bei ihr auszusprechen, und Irma hörte zu, ohne viel sprechen zu müssen...

Irma bekommt ein Kind, es ist das Kind eines Buchlieferanten namens Hans Schrei, den sie geheiratet hatte. Hans arbeitete und wohnte in Frankfurt Main, recht weit weg von seiner Familie, während Irma aus dem hohen Norden Niedersachsen kommt, so blieb Hans meist über das Wochenende bei seiner Familie. Eigentlich der ideale Mann für Irma Reich, hätte Hans da mitgespielt.. .

Mich hat dieses Kind so sehr berührt. Gertrud wurde auf eine warme Decke gelegt, am Boden neben dem Schreibtisch ihrer Mutter. Das Kind passte sich der Stille ihrer Mutter an, indem es sich auch still verhält. Kinder haben in dem Alter schon soviel Einfühlvermögen, dass sie sehr genau spüren, was die Mutter braucht, damit sie glücklich ist. Das Kind weiß unbewusst, dass es selbst auch nur glücklich sein kann, wenn die  Mutter glücklich ist. Als es krabbeln konnte, krabbelte es zu den Vorhängen am Fenster, versteckte sich dahinter und hoffte, ihre Mutter würde sie vermissen und nach ihr suchen. Die Mutter, vertieft in ihrem Buch, vermisste das Kind nicht, also blieb dem Kind nichts anderes übrig, als sich ohne viel Lärm wieder zurück auf ihre Decke zu krabbeln.

Ich denke dabei an die Psychoanalytikerin Alice Miller, an das von ihr geschriebene Buch Das Drama des begabten Kindes, wo sich Kinder schon recht früh in die Bedürfnisse ihrer Eltern begeben und vielmals auch deren Bedürfnisse erfüllen, während die eigenen Bedürfnisse auf der Strecke bleiben und sich das Kind emotional nicht weiter entwickeln kann wie es sollte.

Wenn die Ladenglocke ging und Kunden den Laden betreten hatten, pflegte meine Mutter ihr Buch umgekehrt auf den Tisch zu legen und widmete sich ihnen anfangs mit einem leicht abwesenden Gesichtsausdruck, als sei sie immer noch eine der Figuren aus ihrem Buch und lebe nun dort ihr eigentliches Leben.

Die Ehe mit Hans Reich scheiterte, da er ein Mensch war, der oft das Gespräch zu seiner Frau suchte, seine Frau allerdings auf taktlose Art die Gespräche blockierte, da sie auf Konversationen einfach keine Lust verspürte. Auch Gertrud hatte wenig Bezug zu ihrem Vater... .

Wenn der Vater während des Essens ein bisschen von diesem oder jenem erzählte, wie es seine Art war, hat niemand von uns auch nur das Gesicht verzogen geschweige denn selber etwas erzählt, der Vater hatte immer nervöser und das Schweigen, das ihn umgab, hinein gesprochen, bis ihn die Mutter schließlich unterbrochen und gesagt hat, er solle nicht so viel reden, sonst wird das Essen kalt. Dann verstummte der Vater sofort, und obwohl er, um die Fassade zu wahren, den Mund zu einem gleichen Lächeln verzog, half ihm das nicht viel. Denn wir, die Mutter und ich, durchschauten ihn trotzdem - die Mutter sowieso und ich, weil ich war wie sie: Mutters kleiner Schatten.

Hans suchte keinen Streit, sondern zog sich klammheimlich zurück, kam an den Wochenenden nicht mehr nach Hause... .
Am nächsten Morgen, wenn ich aufwachte, war der Vater bereits wieder fort.Ich kann nicht sagen, dass die Mutter traurig gewirkt hat, wenn sie wieder allein war. Sie hat sich zumindest nichts anmerken lassen. Außerdem: wirklich allein war sie nicht, wenn der Vater wieder fort war. Sie hatte ja ihren Buchladen und ihre Bücher. Und dann hatte sie auch noch mich.
Hans Reich ließ sich nicht mehr blicken und suchte sich eine neue Frau, von der er bereits mittlerweile auch ein Kind hatte. Erst ein paar Jahre später erhält Irma und Gertrud wieder Post von ihm. Hans wollte sich scheiden lassen und erwähnte auch darin, dass ihm Gertrud leid täte bei einer Mutter wie Irma aufzuwachsen. Irma war recht erstaunt und auch traurig darüber. Sie verweigerte somit die Scheidung.

Warum ist Gertrud die Heldin? Sie kümmerte sich um die Bedürfnisse ihrer Mutter. Recht früh übernahm sie Haushaltspflichten, kochte zweimal am Tag für sich und für ihre Mutter, und brachte die Küche immer wieder auf Vordermann. Sie konnte der Mutter alle Wünsche von den Augen ablesen... . Sie wurde auch schon recht früh mit einem Einkaufszettel losgeschickt. Als sie eingeschult wurde, konnte sie keinen rechten Bezug zu ihrer Lehrerin finden. Die Lehrerin ignorierte sie. Gertrud war von ihrer Statur her eher ein großes Kind, wirkte dadurch auch älter. Ihre Lehrerin hatte mehr ein Faible für die ganz kleinen und schüchternen Kinder in ihrer Klasse. Gertrud litt darunter, dass sie nicht beachtet wird. Auch ihre Schulkameraden passten sich unbewusst dem Verhalten ihrer Lehrerin an, so dass Gertrud ein Sonderling in ihrer Klasse wurde, niemand wollte mit ihr zu tun haben. Ihre Leistungen waren nicht einmal mittelmäßig, wobei ich der Meinung bin, dass es an dem Verhalten ihrer Lehrerin als auch an ihrer Mutter lag, dass Gertrud eine der schlechteste Schülerin ihrer Klasse war. Mit der Zeit wurde sie auch fettleibig. Ihre Mutter war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, so dass Gertruds Entwicklung kognitiver und physischer Art sich eher in die falsche Richtung sich verselbständigte. Gertrud wirkt aber alles andere als unglücklich. Für sie wurde es zur Selbstverständlichkeit, ganz für die Mutter dazu sein, indem sie ihre eigene Bedürftigkeit unbewusst zurücksteckte.

Dies ist der Grund, weshalb für mich die kleine Gertrud die eigentliche Protagonistin für mich ist. An dieser Stelle empfehle ich jedem, der oder die sich für diese Thematik interessiert das Buch von Alice Miller Das Drama des begabten Kindes. Auswirkungen und Probleme entstehen meist erst im erwachsenen Alter.

Es ist noch einiges mehr passiert, verweise aber auf das Buch... .


Hier das Buch:



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Sonntag, 23. Dezember 2012

Heide Koehne / Der Buchladen


Verlag: Berlin University Press
2011, 19,90 €
Seitenzahl: 167
ISBN-10: 386280013X


Klappentext

Gertruds Mutter ist 21 Jahre alt, als sie drei Jahre nach Ende des Krieges in einer kleinen Wohnstraße in einer Stadt am Rand der Lüneburger Heide einen Leihbuchladen eröffnet. Die Romane, die sie über einen Leihbuchverlag erhält, ¿waren auf dickem, weißem Papier gedruckt in einer großen, gut leserlichen Schrift. Die Umschläge der Romane erinnerten die Mutter an die Filmplakate, die in den Schaukästen der Kinos hingen. Alle Buchumschläge waren in schwarz-weiß gedruckt und hatten einen leichten Gelbstich, so wie der Himmel aussieht, bevor es ein Gewitter gibt.¿
Gertrud erzählt aus der Sicht einer Elfjährigen von ihrem Leben im Schatten einer ungewollt lieblosen Mutter, von Einsamkeit und Wut unter einer stillen Oberfläche, von ihrem Leben als Außenseiterin; von ihrem Vater, der schon früh wieder aus ihrem Leben verschwindet, von Fräulein Lakaschus, der Nachbarin, und schließlich von Ludwig Herz, der großen Liebe ihrer Mutter ... 

Autorenportrait
 Heide Koehne geboren 1948 in Papenburg, Schauspielerin, seit mehreren Jahren Mitarbeiterin im Spiegel-Verlag. „Der Buchladen“ ist ihr vierter Roman.

Ich selbst kenne die Autorin nicht, das Buch ist mir durch meine Buchfreundin Anne zugekommen, die es mir schenkte. Eigentlich wollte ich das Buch schon längst gelesen haben. Dadurch, dass ich dünne Bücher mir aufhebe für Zeiten die stressig sind, hatte sich für mich die Gelegenheit aus verschiedenen Gründen nicht ergeben.

Nun ist es das zweitletzte Buch aus meinem kleinen SuB, das ich mir nun vornehme.