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Sonntag, 31. Dezember 2017

Daniel Kehlmann / Tyll Ulenspiegel (1)

Lesen mit Tina und Sabine

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Meine persönlichen Eindrücke 

Dieses Buch haben wir zu dritt gelesen, Sabine hat sich uns, Tina und mir, noch angeschlossen, wobei Sabine in der Hörbuchfassung vertieft war. Sabine ist ein Mitglied aus dem Bücherforum Watchareadin. Dort haben wir uns alle drei zu unterschiedlichen Zeiten kennengelernt.

Mir hat das Buch ein wenig Probleme verschafft, aber in der Runde mit meinen beiden Bücherfreundinnen hat es richtig Spaß gemacht, es zu lesen. Das Buch haben wir zwar lesend beendet, aber was bleibt, sind die schönen unterschiedlichen Leseerfahrungen, die wir zu dritt machen durften. Unterschiedlich? Tina und Sabine gaben dem Werk die Höchstzahl 5 Sterne mit einem zusätzlichen Plus. Ich selbst vergebe Punkte bis zu 12 in der Höchstzahl, und Kehlmann hat von mir 11 von 12 erhalten, also eher einen Punktabzug, siehe Punktetabelle am Schluss.

Und nun zum Buch:

Als ich die ersten Seiten Probe gelesen hatte, habe ich Tina mitgeteilt, dass das Buch mich stark an das Mittelalter erinnern würde, und ich nicht glauben würde, dass es mein Genre sei. Inquisition, Hexenverbrennung, Aberglaube, hohe Kindersterblichkeit, um ein paar Schlagwörter zu gebrauchen. Aber als ich weitergelesen habe, hat mich das Buch unerwarteterweise wieder gepackt. Zur Mitte hin hat es bei mir allerdings wieder gekippt. Es wurde mir zu anstrengend, bedeutende Figuren im Internet nachzuschlagen, da mein Lesefluss unterbrochen wurde. Es ist ein historischer Roman über den Dreißigjährigen Krieg, der aber vom Konzept her nicht chronologisch gegliedert war. Schwer getan habe ich mir auch mit den vielen Themen/Handlungs- und Zeitsprüngen, sodass ich mich gefragt habe, ob dies ein Kunstfehler war? Nicht, dass mir dieser Schreibstil fremd wäre, nein, hier waren es mir definitiv zu viele Sprünge, und ich dadurch die historischen Fakten nicht richtig zusammenhalten konnte. Die Kapitel wirkten auf mich manchmal zusammenhanglos. Und hier war ich ein wenig überfordert, und so wollte ich mich aus der Leserunde wieder ausklinken, aber Tina und Sabine haben ermunternd auf mich eingeredet, dran zu bleiben. Und darüber bin ich froh, habe die Kurve schließlich doch noch bekommen, auch wenn ich nicht dieselbe Begeisterung wie sie teilen kann. Nun haben wir ja Tina, die verglichen zu mir die Geduld aufgebracht hat, um bedeutende Namen im Internet professionell zu recherchieren, und sie dadurch für sich eine Lesestruktur hat aufbringen können, die mir gefehlt hat. Am Ende dieser Buchbesprechung verlinke ich Tinas Besprechung mit meiner. Sie kann so wunderbar auch über die Bücher schreiben, die von der Struktur her so schwierig zu lesen sind …

Mir hat in diesem Roman die Gewalt so zugesetzt, dieser lange Krieg; wirtschaftliche, religiöse Kriege; Kriege zwischen den unterschiedlichen Ständen, und die Zusammenhänge waren für mich dadurch schwer zu durchschauen, da ich den Eindruck bekam, dass jeder gegen jeden Kriege geführt hat. Könige, Kaiser, Soldaten, etc., obwohl Kehlmann diese nicht sooo blutrünstig beschrieben hat, aber mir hat es trotzdem gereicht, da Gewalt auch ohne Blutvergießen grausam sein kann. Manche anderen grausamen Episoden wiederum wurden nur in Ansätzen beschrieben, aber das lesende Hirn fügt den fehlenden Rest recht selbstständig hinzu ...

Die Figuren, an die man sich gewöhnt hat, verschwanden wieder recht schnell von der Bildfläche, weshalb mich viele Figuren mit wenigen Ausnahmen recht kalt gelassen haben. Außerdem habe ich manchmal gerätselt, wer in dem Roman denn der Protagonist ist?, da Tyll oftmals wieder in den Hintergrund geraten ist.

Das Buch ist aber recht verständlich geschrieben. Man kann, abgesehen von den oben aufgeführten Kritikpunkten, gut folgen. Ich hätte das Buch sonst abbrechen müssen.

Der Schluss hat mich wieder ausgesöhnt, denn er hat mir recht gut gefallen, als die überhebliche und unterkühlte Königin Liz ihren Sitz und somit ihre Macht verliert, versucht sie trotzdem noch ihre politischen und gesellschaftlichen Ansprüche geltend zu machen, obwohl sie alles verloren hat. Eine Monarchin ohne Krone ist für mich so nackt, so nackt, wie ein Mensch nur sein kann. 

Ein Historiker wird an diesem Buch sicherlich seine Freude haben.

Das Cover hat mich nicht angesprochen, aber es passt wunderbar in diese Zeit.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte (Konzept und Aufbau der Handlungen, Figuren und Geschichte)
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Elf von zwölf Punkten.

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
·         Verlag: Rowohlt; Auflage: 5 (9. Oktober 2017)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3498035673

   Und hier geht es zur Rezension von Tina.

Sabine führt keinen Blog.
___________
Es gibt nur eine Aufgabe,
und die besteht darin,
die Liebe zu vermehren.
(Leo Tolstoi)

Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Mittwoch, 27. Dezember 2017

John Fante / Der Weg nach Los Angeles (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Spannende Eindrücke in der Leserunde, interessant, sich mit anderen LeserInnen auszutauschen, wenn man nur genug Zeit für einen Austausch dieser Art hat. Ich werde am Ende dieser Buchbesprechung die Leserunde mit meinem Blog verlinken. Damit ich nicht alles nochmals schreiben muss, habe ich meine Argumente hier reinkopiert. Die späteren Argumente sind im Forum nachzulesen … 

... denn die Leserunde ist noch nicht abgeschlossen. Es lohnt sich also, dort immer wieder vorbeizuschauen. 

Wir waren uns in der Leserunde alle einig. Der 18-jährige Protagonist und Icherzähler Arturo Bandini ist uns total unsympathisch. Tina war die Einzige, die versucht hatte, Verständnis für den jungen Menschen aufzubringen. Revolte und Protest seien völlig normal in diesem Alter, doch später konnte ihm Tina auch keine Sympathie mehr abgewinnen.

Doch zuerst gebe ich erneut den Klappentext rein:
Anfang der dreißiger Jahre, ein Vorort von Los Angeles: Nach dem Tod seines Vaters muss sich der 18-jährige Arturo Bandini in einer heruntergekommenen Fischfabrik sein Brot verdienen. Doch er hat den Alltag und den endlosen Kleinkrieg zu Hause satt. Er liest Schopenhauer und Nietzsche und träumt von Höherem: Er möchte Schriftsteller werden. Und dafür muss er nach Los Angeles gelangen. Schnell schließt der Leser diesen arroganten, bös-witzigen und doch so sehnsuchtsvollen jungen Mann in sein Herz. Und träumt seinen großen Traum mit ihm. Der Roman erschien nicht mehr zu Fantes Lebzeiten, zu provokant waren Thema und Sprache für das Amerika der dreißiger Jahre.

Arturo ist für mich nur ein Pseudointellektueller. Er steckt in einem Identitätskonflikt, da er jemand anderes sein möchte. Viel Wind für nichts. Ich kann ihn nicht wirklich ernst nehmen. Er rennt mit Büchern namhafter Autoren durch die Gegend, um jedem zu zeigen, was er für Bücher liest. Er zitiert sehr häufig Friedrich Nietzsche und dessen ZarathustraArturo ist demnach ein Mensch, ein potenzieller Tagträumer, der nicht in seiner Welt lebt.

Er lehnt wie Nietzsche auch sämtliche Religionen ab, er lehnt auch Frauen ab. Aber Arturo ist dadurch auch sehr widersprüchlich in seiner Lebensart … Und er ist ein Kotzbrocken. Er beschimpft Gott, die Welt und seine Familie, die aus seiner Mutter, seiner 16-jährigen Schwester und einem Onkel besteht.

Er versucht unbewusst in die Identität von Friedrich Nietzsche zu schlüpfen und nimmt sich dabei viel zu wichtig. Doch manche Äußerungen sind zum Wegschießen, dreist- und lustig zugleich …

Er führt Krieg mit Krebstieren und mit Insekten. Er tötet diese Tiere in einer sehr sadistischen Form. Grauenvoll, diese Szenen möchte ich nicht wiedergeben …  

Onkel Frank ist auch eine merkwürdige Kreatur. Er bezeichnet Arturo als Hurensohn; in dieser Beziehung fand ich es gut, wie sich Arturo gegen diese Äußerung auflehnt, in der Art, dass, wenn er der Sohn eine Hure sei, müsse der Onkel der Bruder der Hure sein ...

Aber Arturo gebraucht selbst auch anderen Menschen gegenüber diesen und andere vulgäre, primitive Ausdrücke ...

Arturos Vater ist verstorben, und nun muss er als das Familienoberhaupt für seine Mutter und seine Schwester sorgen. Er hält die Jobs nicht aus, und kündigt immer wieder, oder er wird gekündigt und seine Rolle als Arbeiter ist für ihn nicht hinnehmbar, da viel zu bieder, er habe etwas Besseres verdient.

Ich versuche, mich diesbezüglich in seine Lage hineinzuversetzen. Arturo hat die High-School mit Abschluss verlassen, ist 18 Jahre alt und zu der damaligen Zeit war man mit 18 Jahren noch minderjährig. Es stört mich, dass er die Familie versorgen muss. Eigentlich müsste die Mutter, die sehr einfach gestrickt zu sein scheint, arbeiten gehen, aber sie macht sich vom Sohn und von den Almosen ihres Bruders, Arturos Onkel, abhängig. Mich nervt ihre Abhängigkeit, und dass sie sich zum schwachen Geschlecht macht. Sie könnte sich auch auf den Weg machen, einen Job zu finden, um für sich und für ihre beiden minderjährigen Kinder zu sorgen. Auch damals gab es schon Frauen, die arbeiten gingen. Und so wird die gesamte Verantwortung dem Sohn übertragen, weil er der Mann im Haus ist, sodass er gar keine Möglichkeit hätte, sich weiterzubilden bzw. eine berufliche Ausbildung zu absolvieren.
Doch Arturo könnte auch eine Abendschule besuchen aber dafür zeigt er auch keinen Elan, außer, dass er sich von Beruf als Schriftsteller ausgibt, allerdings ohne einen Text verfasst zu haben. Ein Traumtänzer, der in anderen Sphären lebt, und in Konflikten gerät, wenn beide Welten, Traum und Wirklichkeit, aneinander geraten.

Auf den späteren Seiten zeigt Arturo Autoaggressionen, verletzt sich selbst am Daumen, erkennt aber, dass der Schmerz der Einsamkeit größer sei. Auf Seite 161 versucht er zu beten, hält seine innere Krise schwer aus. Ein stark ambivalentes Verhalten, zwischen Auf- und Abwertung sich selbst gegenüber ... Auf der Seite 163 spricht er von seinen inneren Kämpfen mit sich selbst ... Niemand sei in der Lage, in sein Inneres zu dringen. Wie denn auch, er tut alles Mögliche, die Menschen von sich fernzuhalten.

Ein Lügenbold, erzählt zu Hause, er habe sich in der Fabrik verletzt und bezeichnet sich als Sklave, er opfere sich für die Familie, doch eigentlich habe er kein Leben in der Fischindustrie verdient, sondern er sehnt sich nach einem Leben im Land des Arkadien, in dem Milch und Honig fließen ... Arkadien, eine literarische Metapher, in dem die Menschen für das süßliche Leben nichts tun müssen, außer den Mund aufzutun. Alles fließt von selbst in den Mund.

Ziemlich dreist belügt er auch seinen Chef in der Fischfabrik in voller Länge, der die Lüge nicht durchschaut und so wird Arturo durch Mitleid für mehre Wochen freigestellt …

Zu Hause findet er seine Schwester lesend vor. Er reißt ihr das Buch aus den Händen und zerreißt es in tausend Stücken, als sie sich geweigert hatte, den Buchtitel preiszugeben. Doch was war es denn für ein Buch? Welchen Titel hatte es? Das hätte mich wirklich brennend interessiert. Ich hätte mir den Buchtitel vor dem Zerreißen angeschaut.
>>Ich ernähre deinen Leib. Da habe ich wohl das Recht zu erfahren, womit du deinen Geist fütterst. << (170)
Es ist ganz klar, dass Arturo Vorbilder sucht, und seine Vorbilder sind namhafte Schriftsteller. Der schlechte Umgang mit Frauen, den muss er sich auch von Nietzsche abgeguckt haben. Er zitiert viel aus Zarathustra. Nietzsche als der große Atheist und Nietzsche, der kein Freund von Frauen war. In meiner Jugend hatte ich den Zarathustra selber gelesen und erinnere mich vage, dass auch Nietzsche etwas gegen Frauen hatte ... Einerseits war Nietzsche von Frauen abhängig und andererseits fühlte er sich von den Frauen angewidert.

Unser Held Arturo behandelt die Frauen wie Insekten …

Ich habe mal gegoogelt, und tatsächlich war Nietzsches Frauenbild negativ besetzt, habe es also richtig in Erinnerung.

Arturo kommt hin und wieder dazu, sich selbst zu reflektieren, nur leider nicht besonders lange. Er gibt schließlich selber zu, dass er keine Lust habe, über sich groß nachzudenken.

Aber eine Wende gibt es schließlich doch noch, er hat sich endlich ans Schreiben gemacht und schreibt über eine männliche Figur, die auf der Suche nach seiner Traumfrau ist ...

Ich hatte mich gefragt, was uns denn der Buchtitel mitteilen wollte? Die Antwort kommt im Buch zum Schluss.

Es sind für mich viele Fragen offengeblieben. Ich hänge immer noch an der Frage fest, was Arturo zu dem gemacht hat, was er geworden ist? Schade ...

Das Nachwort von Alex Capus fand ich sehr lesenswert. Aber dass Bukowski Fante zu den besten Autoren Amerikas zählt, ist mir ein Rätsel. Noch scnlimmer, er betrachtete Fante als seinen Gott unter den Schriftstellern ... Ich habe schon bessere Bücher gelesen.

Mein Fazit?
Viel zu einseitig erschienen mir die Erzählperspektiven. Immer aus Arturos Sicht. Das war mir zu wenig. Ich hätte gerne mehr von seiner Mutter und der Schwester Mona erfahren. War Mona wirklich so religiös? Wollte sie wirklich ins Kloster? … Monas Sichtweisen haben mir definitiv gefehlt. Und Arturo war mit seinem Größenwahn richtig frech, hat überall Menschen beleidigt, kritisiert, und Ausländer wie Mexikaner und Latinos hat er von oben herab behandelt. Dass ihm keiner eine reingehauen hat, das kann ich nicht glauben. 

Deshalb drei Punktabzüge.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
1 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Neun von zwölf Punkten.

Und hier geht es zur Leserunde von Watchareadin.

Weitere Informationen zu dem Buch

Ich möchte mich recht herzlich beim Aufbau/Blumenbar-Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken. Auch bei Helmut Pöll, dem Forumsbetreiber von Watchareadin, ein großes Dankeschön für die Mühe, sich bei dem Verlag für die Leseexemplare eingesetzt zu haben.

·         Gebundene Ausgabe: 268 Seiten
·         Verlag: Blumenbar; Auflage: 1 (4. Dezember 2017)
·         Sprache: Deutsch, 20,00 €
·         ISBN-10: 3351050453

Und hier geht es auf die Verlagsseite von AUfbau/Blumenbar.
___________
Wenn du die Wahl hast, ob du recht behalten oder freundlich sein sollst,
wähle die Freundlichkeit.
(Dr. Wayne D. Dyer aus dem Buch Wunder)

Gelesene Bücher 2017: 58
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Gelesene Bücher 2011: 86


Montag, 4. Dezember 2017

Haruki Murakami / Mister Aufziehvogel (1)


Lesen mit Tina

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mal eine ganz andere Form von Buchbesprechung …

Wir, Tina und ich, haben 1,5 Wochen für das Buch gebraucht. Das Buch ist so grausam, dermaßen düster und gewaltträchtig, sodass es mich ein wenig an Kafka von der Düsterkeit und an Steven King von den Horrorszenarien erinnern lässt. Ich werde inhaltlich nicht viel schreiben können. Weil ich froh bin, dass ich mit diesem Buch durch bin, und möchte es am liebsten gleich wieder vergessen. Derzeit bin ich Murakamigeschädigt. Wenn ich mich davon nicht wieder erholen kann, dann war es das mit dem Leseprojekt. Ich habe gestern den ganzen Tag und den ganzen Abend dazu gebracht, das Buch endlich auszulesen. Ich wollte es hinter mich bringen, um keinen weiteren Tag damit zu verbringen. Neben Kafka am Strand ist Mister Aufziehvogel das heftigste Murakami-Buch, das ich bisher von den 12 Bänden gelesen habe, wobei Kafka am Strand von der Konzeption her einer logischen Struktur folgt, die uns in Mister Aufziehvogel einfach gefehlt hat. Uns ist irgendwann der rote Faden verloren gegangen, weil uns zu viele Details der vielen Figuren aufgedrängt wurden …

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein
In Japan nennen ihn konservative Kritiker und Schriftstellerkollegen "batakusai - nach Butter stinkender Wessi", die anderen halten ihn für den Literaturnobelpreisträger der Zukunft. Haruki Murakami polarisiert mit seinen Geschichten und Romanen. Wie seine Helden entzieht er sich der anonymen Masse. Seine Romanfiguren werden in der japanischen Gesellschaft, in der angepasstes Verhalten von existentieller Bedeutung ist, als einsame Wölfe gebrandmarkt. Der 30-jährige Toru Okada in "Mister Aufziehvogel" steigt aus einer Anwaltskanzlei aus und gerät bei der Suche nach seinem Kater mitten in Tokio in eine Traumwelt, in der ihn erotische Verlockungen, aber auch bösartige Intrigen erwarten. Der Brunnen, der Toru den Einstieg in die geheimnisvolle Unterwelt gewährt, ist Zugang zu Vergangenem und Verdrängtem.

Manche Szenen musste ich regelrecht überfliegen, weil sie mir an Grausamkeiten zu geladen waren. Immer wieder haben Tina und ich uns über Sprachnachrichten ausgetauscht. Manchmal versuchte ich Tina zu warnen, wenn ich an Seitenzahl weiter war als sie, sie darauf vorzubereiten, was auf den folgenden Seiten für qualvolle Szenarien folgen. Gestern Abend machte ich sie auf kannibalistische Vorgänge aufmerksam und heute Morgen schrieb mir Tina, dass sie diese schon gelesen habe. Merkwürdig, ich wusste heute Morgen gar nicht mehr, wie sich der Kannibalismus ausgewirkt hatte. Diese Szene hatte ich völlig aus meinem Bewusstsein verdrängt. Ich weiß sie nicht mehr. Ist auch gut so, und ich bat Tina, mich an diese Bilder nicht mehr zu erinnern, denn es zeigt mir, dass meine Verdrängungsmechanismen noch gut funktionieren.
Auch die Namen von den Figuren konnte ich nur oberflächlich verinnerlichen. Sie waren mir alle fremd. Tina war mir da im Vorteil, sie hat sich diese alle rechtzeitig rausgeschrieben …

Eigentlich begann die Geschichte recht harmlos. Es geht um ein junges Ehepaar, das schon seit sechs Jahren verheiratet ist. Der 30-jährige Toru Okada und seine Frau Komiko. Toru, studierter Jurist, schmeißt seinen Job aus einer Anwaltskanzlei, um sich beruflich neu zu orientieren. Komiko arbeitet in einem kleinen Verlag und kommt erst spät abends nach Hause ... Komiko kommt aus einer sehr wohlhabenden und gebildeten Familie, in der aber recht mysteriöse und kriminalistische Dinge geschehen … 

Toru und Komiko vermissen beide ihren Kater, da er nicht nach Hause gekommen ist und so alarmiert Komiko eine Frau mit okkulten Fähigkeiten, um den Kater aufzuspüren …

In der Zwischenzeit, während Komiko auf der Arbeit ist, passieren zu Hause ein paar ominöse Dinge. Toru wird telefonisch von einer wildfremden Frau angerufen, die Telefonsex betreibt. Wer ist diese Frau? Sie wurde später nicht mehr erwähnt.

Torus Frau begeht einen Seitensprung, verlässt eines Abends ganz unverhofft ihren Mann. Sie schreibt ihm einen Abschiedsbrief, dass sie mit einem Mann eine Beziehung angefangen habe, den sie eigentlich gar nicht lieben würde. Sie bittet Toru, sie zu vergessen, da sie nicht vorhabe, wieder zu ihm zurückzukehren. Toru begibt sich auf die Suche nach seiner Frau, die so plötzlich aus der Welt verschwunden ist. Es beginnt eine abenteuerliche Suche nach Innen, oder nach Außen? Eigentlich beides.

Später macht Toru Bekanntschaft mit weiteren merkwürdigen Frauen … Die Handlung beginnt recht real und im Laufe der Geschichte vermischen sich erneut reale und surreale Handlungen, Traum und Wirklichkeit werden eins… Menschen verschwinden hinter Wänden … Toru, der zum Nachdenken in einen trockenen Brunnen steigt, und damit sein Leben riskiert ... Dann gibt es noch eine sechzehnjährige May, die in ihrem Verhalten ebenso Extremitäten aufweist, die ihrem Freund auf einem fahrenden Motorrad von hinten mit ihren Händen die Augen zuhält, der dadurch tödlich verunglückt, während sie den Unfall überlebt …

Da dies auch ein politisches Buch ist, bekommt man grausame Szenen aus dem Krieg zwischen Japan, China und Russland im Zweiten Weltkrieg zu lesen. Mir ist bewusst, dass diese grausamen Szenen durchaus real sind … Aber diese perverse Gewalt spielt sich nicht nur innerhalb der Kriegsereignisse ab …

Keine Figur scheint irgendwie normal zu sein. Und jede Figur kommt mit ihrer eigenen Story, man bekommt zu jeder Persönlichkeit sehr detaillierte Geschichten erzählt, sodass wir irgendwann Probleme hatten, diese vielen Informationen, die vielen Charaktere noch auseinanderzuhalten. Selbst am Schluss fragten wir uns, was es mit manchen Figuren auf sich hatte? Man hätte ruhig ein paar davon weglassen können, das hätte dem Roman keinen Abbruch getan. Und mit weniger Gewalt hätte der Roman auch leben können …


Mein Fazit?

Psychologisch wirkt die Geschichte recht fundiert. Murakami ist ein Tabubrecher. Er zeigt in seinem Roman die Abgründe eines jeden Menschen. Mir scheint, als risse er ihnen die Fassade von den Gesichtern. Toru war die Figur, die sich dem gestellt hat, hat sich auf die Suche begeben, seine Probleme erst Mal symbolisch zu lösen. Was ist Wahrheit und was ist Traum? Ist das die Wahrheit, was wir mit den menschlichen Augen sehen können; ist Wahrheit das, was uns Menschen bewusst ist? Und was ist die Unwahrheit? Ist die Unwahrheit das, was man mit den Augen und mit den Händen nicht zu fassen bekommt und trotzdem existiert?
Alles hing miteinander zusammen, jedoch auf so kompliziertere Weise wie ein dreidimensionales Puzzle (…) in dem die Wahrheit nicht unbedingt real sein musste und das Reale nicht unbedingt wahr. (591)

Ein sehr symbolträchtiges Buch, das mit vielen Metaphern arbeit.

Und zu der Gewalt sind Tina und ich der Meinung, dass diese vielen Aggressionen in dem Buch die Aggressionen des Autors sind, die er in sich trägt, und sie nach außen auf das Papier gepackt hat.

Meine Bewertung?

Es hat zu viel des Guten ... 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
1 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

... deshalb Punktabzüge und nur neun von zwölf Punkten.

 Und hier geht es auf Tinas Buchbesprechung. Wir hatten am Abend ein sehr ausführliches Telefongespräch. 

Weitere Informationen zu dem Buch


  • Gebundene Ausgabe: 684 Seiten
  • Verlag: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; Auflage: 2 (1. April 2014)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 383214479X

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Gelesene Bücher 2017: 54
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
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Samstag, 28. Oktober 2017

Klaus Cäser Zehrer / Das Genie (1)


Eine Romanbiografie 

Lesen mit Tina


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch ist sehr vielversprechend. Es bietet ungeheuer viel Stoff zum Nachdenken und zum Weiterspinnen und es besteht auf jeden Fall hoher Gesprächsbedarf.

Das Buch schreit regelrecht nach Menschlichkeit. Es zeigt, wie der hochintelligente Protagonist William James Sidis sich nach einem ganz gewöhnlichen Leben sehnt, und von der sensationsgierigen Presse so richtig gemobbt wird. Aber bevor es dazu kommt, bevor man in das Leben des William James Sidis' gerät, wird man erst mal mit dem Leben beider Elternteile vertraut gemacht.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Boston, 1910. Der elfjährige William James Sidis wird von der amerikanischen Presse als »Wunderjunge von Harvard« gefeiert. Sein Vater Boris, ein bekannter Psychologe mit dem brennenden Ehrgeiz, die Welt durch Bildung zu verbessern, triumphiert. Er hat William von Geburt an mit einem speziellen Lernprogramm trainiert. Durch Anwendung der Sidis-Methode könnten alle Kinder die gleichen Fähigkeiten entwickeln wie sein Sohn, behauptet er. Doch als William erwachsen wird, bricht er mit seinen Eltern und seiner Vergangenheit. Er weigert sich, seine Intelligenz einer Gesellschaft zur Ver­fügung zu stellen, die von Ausbeutung, Profitsucht und Militärgewalt beherrscht wird. Stattdessen versucht er, sein Leben nach eigenen Vorstel­lungen zu gestalten – mit aller Konsequenz.

Während des Lesens stellten sich mir als Leserin jede Menge Fragen, die später, fast am Ende des Buches, größtenteils auch beantwortet werden.

Zu Beginn lernen wir den Vater des Helden kennen, der, noch keine zwanzig Jahre alt, seine Heimat aus politischen Gründen verlässt, und emigriert nach Amerika. Boris Sidis spricht mehr als zwanzig Muttersprachen und ist ein geistiges Multitalent. Man glaubt, dass es kaum eine Wissenschaft gibt, die er nicht beherrscht. Als ein ukrainischer Immigrant wird er in seiner Wahlheimat mit vielen Vorurteilen und mit Rassismus konfrontiert. Man sieht ihm seine Bildung nicht an … Schnell macht Boris die Erfahrung, dass man in Amerika, in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, vielen Grenzen ausgesetzt ist. Von Amerika recht schnell desillusioniert muss er sich trotzdem durchschlagen, wenn er nicht wieder zurück in die Heimat will, dort, wo es sich noch schlimmer als in Amerika leben lässt. In der Ukraine wurde er ins Gefängnis gesperrt, nur weil er seinen Landsleuten Unterricht erteilt hatte …

Dann lernen wir Sarah kennen. Auch Sarah ist ein außergewöhnlicher Mensch. Sie kommt aus einer kinderreichen ukrainischen Familie. Die Mutter hatte 15 Kinder geboren. Sarah ist das älteste Kind, sodass sie im Alter von zwei Jahren lernen musste, für sich selbst zu sorgen, da die Mutter keine Zeit für sie hatte. Man muss sich vorstellen, dass sich die Kleine am Abend sogar selbst ins Bett gebracht hat. Zudem musste Sarah als die ältere Tochter im Haushalt und in der Verpflegung ihrer Geschwister wie eine Mutter mithelfen. Für keine familiäre Arbeit war sie zu jung. Sie hatte keine Zeit, eine Schule zu besuchen. Sie besaß nicht einmal ein Abschlusszeugnis von der Grundschule. Als sie größer wird, muss sie sogar eine externe Arbeit antreten, um das Einkommen des Vaters mitaufzustocken. Eines Tages wandert der Vater zusammen mit Sarah nach Amerika aus, und nach und nach wird die Familie nachgezogen.

Hier lernt Sarah Boris kennen, zwei außergewöhnliche Menschen mit außergewöhnlichen Leistungen und beide vermählen sich. Boris wirkt sehr unsympathisch, empathielos und hat wenig Geduld mit seinen Mitmenschen. Er stellt sich wahrheitsliebend gegen jegliche gesellschaftliche Normen und eckt damit überall an.  …

Sarah macht trotz der bürokratischen Hürde ihre Schulabschlüsse an Abendschulen in Amerika nach, Dank Boris, der ihr das Lernen beibringt. Sarah schafft es bis zu einem Medizinstudium und erwirbt im Anschluss daran sogar noch ihren Doktor. Sarah und Boris bekommen beide ihr erstes Kind. Das Kind William James wird geboren, an dem die Eltern ihr Erziehungsexperiment durchführen und nennen es die Sidis-Erziehungsmethode, mit dem Leitbild, dem Kind das Lernen als Spiel erfahrbar zu machen. Sie erzielen mit ihrem Erziehungsexperiment große Erfolge. Der Junge bringt schon im Säuglingsalter außergewöhnlichen Leistungen zustande. Mit acht Jahren denkt er schon ans Bücherschreiben. Er sucht nach einem wissenschaftlichen Thema, über das noch keiner vor ihm geforscht hat. Von dem Vater bekommt er zum Geburtstag ein Mikroskop geschenkt und so wendet sich William den Ameisen zu, die er in einer Streichholzschachtel sammelt, in der Hoffnung, eine unentdeckte Art zu finden, die er als Formica sidisi bezeichnen würde ...

Die Eltern fühlen sich bestätigt und verfolgen das Ziel, mit ihren Erziehungsmethoden an die Öffentlichkeit zu gehen, um sämtliche Bildungseinrichtungen komplett zu reformieren, denn aus allen Kindern mit einer durchschnittlichen Intelligenz sollten Hochbegabte herangebildet werden. Die Sidis fordern alle Lehrer auf, das Beste aus ihren Schülern hervorzulocken. Sie hegten tatsächlich Ziele, dass alle öffentliche Bildungsanstalten in Sidis-Kindergärten, in Sidis-Schulen, in Sidis-Universitäten umgewandelt werden ... Wenn alle Menschen Genies wären, erst dann könne man die Menschheit vor der Sklaverei des Kapitalismus befreien. Auch müsse dann niemand mehr niedrige Arbeiten verrichten, das würden alles Maschinen übernehmen, und der Mensch wäre in der Lage, seine gesamte Lebenszeit bis zum Lebensende sinnvoll zu gestalten. Eine Welt besser machen, in dem alle Menschen auf einer Stufe stehen würden. Es gäbe keine Armen mehr, und keine Reichen, die die Armen ausbeuten … Und auch der Weltfrieden wäre sichergestellt, denn die Menschheit würde aufhören, sich durch Indoktrination beeinflussen und beirren zu lassen. Niemand würde noch in den Krieg ziehen wollen.

Diese politischen und philosophischen Ideen fand ich sehr lesenswert. Und doch hat man sich als Leserin gefragt, wo denn die Herzensbildung bleibt? Werden dem Kind auch soziale Kompetenzen beigebracht? Kann das Kind in seinem Einzelstatus überhaupt gesellschaftlich bestehen? Bleibt die Kindheit nicht auf der Strecke? Als William James im Säuglingsalter viel schreit, zeigt sich der Vater ungeduldig, plärrt seine Frau an; stell das ab, stell das ab. Das hat mich geschockt …

Ich muss schon sagen, mir war William James sympathischer als der Vater, am Ende konnte ich sogar die Mutter nicht mehr ausstehen und ich hatte totales Verständnis für William, der nicht nur bei den Medien auf Missachtung stößt, unter seinen Altersgenossen war er auch vielen Neidern ausgesetzt … William entwickelte sich als Erwachsener zu einem radikalen Pazifisten ... Auch sein Sprachjargon ist hochtrabend, verwendet keine einfachen Worte. Im Hörsaal versucht er die weiblichen Studenten von seiner Vorlesung rauszuschmeißen mit der Begründung, die männlichen Studenten hätten nur eines im Kopf, sie würden nur ans Koitieren denken, das halte vom Unterricht ab. Dass darüber jeder lacht, und seine Abmahnung von den StudentInnen ins Lächerliche gezogen wird, ist für mich als Leserin gut vorstellbar gewesen, denn so spricht kein Mensch, außer William …

William gehört keiner Kirche an, wählt trotzdem eine zölibatäre Lebensform, aus dem Grund, dass Beziehungen nur vom Eigentlichen ablenken würden. Dass die Welt auf die Fortpflanzung zur Erhalt der Menschenrasse angewiesen ist, darüber schien sich William keine Gedanken gemacht zu haben ...

Im späteren erwachsenen Alter flüchtet William vor seinen Verfolgern und gerät in eine große Selbstfindungsstörung. Er versucht in die soziale und gesellschaftliche Isolation abzutauchen und gerät auch mit den Eltern in eine schwere Krise und bricht den Kontakt zu ihnen ab …

… denn schon früh wird William von den Medien erfasst und viel zu jung kommt er ins Rampenlicht. Sensationsgierige Journalisten liefern in ihren Zeitungen ein recht abfälliges und triviales und polemisches Bild von William ab.  Man muss sich einen elfjährigen Jungen vorstellen, der wie ein Erwachsener mit einer Kinderstimme oben auf dem Podest steht, und wissenschaftliche Vorträge hält, mit 16 Jahren an der Uni doziert. Mit neun Jahren schon seine ersten unveröffentlichten Bücher geschrieben hat …

William James geht gerichtlich vor, und klagt die Zeitung New York Times an wegen Verletzung der Privatsphäre und wegen Rufmord. Ich habe richtig mit William gebangt, und ihm einen Sieg gegönnt. Halte mich hierzu weiter bedeckt.

Was ich nicht erwähnt habe, ist, dass es noch eine viel jüngere Schwester von William gibt, die aber aus Zeitnot eine ganz gewöhnliche Erziehung erhält ... 

Mehr möchte ich nun nicht verraten. Ich kann nur jedem raten, das Buch nicht alleine zu lesen, sondern mit jemandem zusammen, damit man die Möglichkeit hat, auch über den Inhalt zu diskutieren.


Mein Fazit?

Ich persönlich zweifle an der Sidis-Erziehungsmethode. Wie kann man von einem Fall auf alle schließen? Für mich ist William definitiv ein Einzelfall, der aus einem hochbegabten Elternhaus stammt, dem es leicht fällt zu lernen, wobei mir auch bewusst ist, dass an normalen Schulen viele Kinder mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz sitzen, die auffällig werden, weil sie nicht richtig gefördert werden, und sie sich stattdessen im Unterricht langweilen. Im schlimmsten Fall landen viele Hochbegabte sogar in Sonderschulen. Trotzdem scheint mir diese außergewöhnliche Lernmethode sehr einseitig und zu kopflastig. Aber wer weiß, vielleicht bringt  das Buch die Pädagogen zum Nachdenken, vor allem erst mal an den Universitäten, wo dort das eine oder andere weiter erforscht werden kann, ohne die Herzensbildung zu vernachlässigen, wobei an den Universitäten schon viel getan wird, aber es scheitert oftmals an der Umsetzung in der pädagogischen Praxis. Reformpädagogen hat es schon immer gegeben, ohne dass sie Einfluss nehmen an den gewöhnlichen öffentlichen Schulen. Angewendet wird diese Praxis an Privatschulen, die sich nicht jeder leisten kann, aber ursprünglich für Kinder aus der unteren Schicht entwickelt wurden (Montessori, Steiner, Binet etc.) Und so landen immer noch viel zu viele Kinder aus den Unterschichten auf Sonder- oder Hauptschulen, selbst wenn es heute mehr Abiturienten gibt, als vergleichsweise noch vor vierzig Jahren. In dieser Hinsicht bin ich mit den Sdis einer Meinung; jedes Kind sollte bestmöglich gefördert werden, denn jedes Kind bringt Stärken mit. Ein Reichtum, von dem nicht nur Kinder profitieren, sondern später sogar die gesamte Gesellschaft. Mit unserem Schulsystem produziert der Staat aus meiner Sicht weiterhin Versager, die im Erwerbsalter auf Grundsicherung angewiesen sind. Alle Kinder zu fördern wäre viel billiger, als die Leistung einer Grundsicherung, die sich Sozialhilfe nennt. 

Tolles Buch, superrecherchiert, sehr authentisch geschrieben, sehr schöne Sprache.

Da Tina und ich den Autor schon auf der Buchmesse gesehen und gehört haben, habe ich nun keine Lust, alles nochmals zu wiederholen, weshalb ich noch einmal auf meine Notizen von der Buchmesse´17 verweise.

Hier der Link, der zu meinen Notizen führt. Bitte auf der Seite bis zu der Lesung von Zehrer runterscrollen.

Mit Tina findet noch ein Telefongespräch zu dem Buch statt, das ich dann später hier nachtragen werde.

Telefongespräch mit Tina, Mo. 30.10.2017, 18:10 Uhr

War wieder mal schön, mit Tina telefoniert zu haben. Wir waren nicht gerade unterschiedlicher Meinung, da wir doch ähnliche Beobachtungen, Fragen und Gedanken entwickelt haben, die ich jetzt hier nicht wiederholen muss. Wir haben uns fast täglich Sprachnachrichten geschickt, kurze Gedanken aufgesprochen ... Neben dem Schriftlichen nochmal die Möglichkeit zu haben, sich auch mündlich auszutauschen, finde ich eine riesen Bereicherung. Interessant fand ich, dass Tina auch mit William so Mitleid entwickelt hatte, wo uns doch der Vater des Jungen, Boris, so furchtbar unsympathisch war, obwohl wir die Ansichten der Gesellschaft gegenüber nicht falsch fanden, sie waren nur zu radikal. Eine etwas absurde Lebensweise. Einerseits setzt sich Boris für Menschlichkeit für alle Menschen ein und merkt aber nicht, mit welcher Unmenschlichkeit er seine Ideale vertritt. Tina hat noch die Frage aufgeworfen, ob William ein Asperger-Autist gewesen ist. Aus meiner Sicht mag er Symptome haben, aber er ist kein Asp. Autist gewesen, da die Eltern das Kind zu einem Sonderling gemacht haben, der durch seine Lebensweise von anderen isoliert wurde. Das war sicher nicht die Absicht der Eltern. Bis zum Schluss war ihnen nicht einmal bewusst, dass sie den größten Beitrag dazu geleistet haben, dass William ein sehr unglücklicher Mensch geworden ist. 

Damit ihr auch Tinas Ansichten nachlesen könnt, verweise ich hier auf ihre Besprechung. 

Meine Bewertung zu dem Buch?

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 656 Seiten
·         Verlag: Diogenes; Auflage: 2 (23. August 2017)
·         Sprache: Deutsch, 25,00 €
·         ISBN-10: 3257069987
Und hier geht es auf die Verlagsseite von Diogenes.  
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Die Überheblichkeit ist die engste Freundin von der Ignoranz, 
man trifft die beiden stets gemeinsam an.
(Klaus C. Zehrer)

Gelesene Bücher 2017: 48
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