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Montag, 7. Oktober 2019

Sinnwidrigkeiten zu Ruskin-Übersetzungen

Weiter geht es von der Seite 312 bis 321. 

Auf den folgenden Seiten gibt es drei Briefe, die mich noch weiter beschäftigen werden. Im ersten Briefwechsel scheint Proust mit seiner Mutter einen schweren Konflikt auszufechten, der doch eher psychologisch bedingt ist. Ich habe noch nicht erfassen können, aus was dieser Konflikt besteht. Die Mutter scheint ein nettes Verhältnis zu ihrem Sohn zu haben, wenn er erkrankt ist. Warum?

Im nächsten Brief steht Proust im Austausch mit seinem Freund Bibesco, dem er schreibt, dass er sich im Beruf nicht ausreichend ausgefüllt fühlt und schüttet ihm sein Herz aus.

Im darauffolgenden Brief wird Proust, was seine Ruskin-Übersetzungen betreffen, von seinem Verleger mit heftiger Kritik konfrontiert, dass seine Englischkenntnisse miserabel seien. Eine schwere Kränkung für Proust, der aber wieder alles gibt, sich dem Kritiker mit triftigen Gegenargumenten zu widersetzen. Trotzdem stellt sich hier die Frage, wie Proust es nur geschafft hat, trotz fehlender Englischkenntnisse Ruskin zu übersetzen? Mit Worten lässt sich ja vieles erklären, solange, bis es passt. Die Antwort bietet der Brief, der an den Verlagsdirektor geht.

Um die Reihenfolge einzuhalten, beginne ich mit dem Brief an die Mutter. Ich versuche, noch immer herauszufinden, was das ist, was Proust in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn so sehr gequält hat. Mal schauen, im zweiten Lesedurchgang erfasst sich mir besser die Problematik. Was wirft die Mutter dem Sohn vor? Ich bin auf Annes Meinung noch gespannt.

An Jeanne Proust
6. Dezember 1902, Marcel Proust ist hier 31 Jahre alt
Ma petite Maman,da ich Dich nicht sprechen kann, schreibe ich Dir, um Dir zu sagen, dass ich Dich einigermaßen unbegreiflich finde. Du weißt doch (…) dass ich, kaum heimgekehrt, alle meine Nächte weinend verbringe, und das nicht ohne Grund; und Du sagst mir den ganzen Tag lauter Dinge wie: >>Ich habe vergangene Nacht nicht schlafen können, weil die Dienstboten um elf zu Bett gegangen sind.<< Ich wollte, es wäre nur das, was mich am Schlafen hindert! Heute, als ich keine Luft bekam, habe ich den Fehler begangen, nach Marie zu läuten (weil ich etwas zum Rauchen brauchte), nachdem sie mir gesagt hatte, sie habe gerade zu Mittaggegessen, und daraufhin hast du mich sofort bestraft, indem du, kaum dass ich mein Trional eingenommen hatte, den ganzen Tag hämmern und lärmen ließest. Durch Deine Schuld war ich in einen so nervösen Zustand geraten, dass ich, als der arme Fénelon mit Lauris kam, auf eine allerdings sehr unangenehme Bemerkung hin mit Faustschlägen über Fénelon herfiel. Ich wusste nicht mehr, was ich tat, ergriff seinen neuen Hut, den er sich gerade gekauft hatte, zertrampelte und zerfetzte ihn und riss schließlich das Innere heraus.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust diesen Wutanfall im dritten Band der Recherche verarbeitet hat. Obwohl ich alle sieben Bände gelesen habe, kann ich mich an diese Details nicht mehr erinnern, obwohl mir damals schon klar war, dass Proust viele Lebenserfahrungen in seinem großen Roman hat einfließen lassen.

Fénelon scheint ein Freund zu sein. Weiter geht es im Brief:
Da Du glauben könntest, dass ich übertreibe, lege ich diesem Brief ein kleines Stück von dem Hutfutter bei, damit Du siehst, dass es stimmt.

Das finde ich eine merkwürdige Szene, dass er mit dem Stoff beweisen muss, dass er seinen Groll tätlich an einem Freund ausgelassen hat? Reichen die Worte dafür nicht aus? Stellt Proust sich damit in den Mittelpunkt, frage ich mich, um mit dieser peinlichen Szene die Aufmerksamkeit seiner Mutter einzufordern? Aber klar ist, dass die Schläge eigentlich der Mutter galten und nicht dem Freund.
Aber Du darfst es nicht wegwerfen, weil ich Dich eventuell bitten muss, es mir für den Fall, dass er noch Verwendung dafür hat, zurückzugeben.

In welcher Form noch Verwendung finden können? Leuchtet mir nicht ein. Kann man einen Hut mit solch einem Fetzen Stoff wieder herstellen?
Nach alldem fühlte ich mich so erhitzt, dass ich mich nicht mehr ankleiden konnte und bei Dir anfragen ließ, ob ich hier zu Abend essen solle oder nicht. Bei dieser Gelegenheit glaubst Du dem Personal ein Vergnügen zu bereiten und gleichzeitig mich zu bestrafen, indem Du mich mit Acht und Bann belegst und sagst, man solle auf mein Läuten nicht kommen, mich nicht bei Tisch bedienen usw. (313)

Nochmals gefragt; was ist der Konflikt? Die Mutter scheint den Sohn mit Entzug der Bediensteten zu bestrafen. Aber warum? Für mich als Außenstehende schwer nachzuvollziehen.
Du täuschst Dich sehr. Du weißt nicht, wie verlegen Dein Kammerdiener heute war, weil er mich nicht bedienen durfte. Er stellte alles in meine Reichweite und entschuldigte sich, indem er sagte: >>Madame befiehlt mir, es so zu machen. Ich muss mich daran halten. (Ebd)

Und so weiter und so fort. Ein schwerer Vorwurf an die Mutter folgt am Ende des Briefes.
Die Wahrheit ist, dass Du, sobald ich mich wohlbefinde, alles zerstörst, bis es mir abermals schlecht geht, weil das Leben, das mir Besserung verschafft, Dich verärgert.

Das sind ja böse Anschuldigungen, aber Proust scheint eine Mordswut auf die Mutter zu haben. Es scheinen schwere psychologische Probleme zwischen Mutter und Sohn zu bestehen.
Es ist nicht das erste Mal. Heute Abend habe ich mich erkältet; falls das Asthma umschlägt, was sich, bei jetziger Lage, bald einstellen wird, dann besteht kein Zweifel, dass Du von Neuem nett zu mir sein wirst, wenn ich in denselben Zustand geraten sollte wie letztes Jahr um die gleiche Zeit. Aber es ist traurig, dass ich nicht gleichzeitig Gesundheit und Zuneigung haben kann. Hätte ich beides in diesem Augenblick, so wäre es gerade recht, mir im Kampf gegen einen Kummer zu helfen, der vor allem seit gestern Abend (…) zu stark wird, als dass ich noch weiter gegen ihn ankämpfen könnte. (Ebd)

Diese wohlwollende Beziehung zwischen Mutter und Sohn scheint sich zum Schlechten hin verändert zu haben. Ich vermisse in letzter Zeit die fürsorgliche und verständige Mutter, die zu ihrem Sohn hält, statt ihn unter Druck zu setzen. Ich bin sehr neugierig, ob sich die Lage zwischen ihnen beide noch entspannen wird.

Doch trotz Unstimmigkeiten liest Madame Proust jeden Brief von Marcel, der mit den Verlagspartnern zu tun hat.

An Antoine Bibesco
Dezember 1902

Antoine Bibesco kennen wir aus den letzten Briefen. Ein Freund, dessen Mutter gestorben ist, und Bibesco durch die Trauer eine Wesensveränderung durchmachte, auf die Proust sehr sensibel reagierte.

In diesem Brief geht es wieder um Reisepläne, auf die ich nicht eingehen möchte, weil es immer so ein Hin- und Her ist, dauert lange, bis Proust sich ausgesprochen hat, um zum nächsten Thema überzugehen. Was für mich interessant war, ist, dass er mit seiner Arbeit sehr unzufrieden und frustriert zu sein scheint. Die langjährige Übersetzungsarbeit scheint ihn nicht ganz auszufüllen. Er schreibt an seinen Freund:
Und die scheinbare Arbeit, an die ich mich wieder gemacht habe, fällt mir in vielerlei Hinsicht schwer. Ganz besonders in dieser: Alles, was ich tue, ist keine wirkliche Arbeit, sondern nur Dokumentation, Übersetzung usw. Es ist dazu angetan, meinen Appetit darauf, etwas zu schaffen, zu wecken, aber es stillt ihn natürlich in keiner Weise. Seit dem Augenblick, da ich nach jener langen Zeit der Erstarrung zum ersten Mal den 1. Blick auf mein Inneres gerichtet habe, auf mein Denken, fühle ich die ganze Nichtigkeit meines Lebens, hundert Romanfiguren, tausend Ideen flehen mich an, ihnen Gestalt zu geben, wie jene Schatten, die Odysseus darum bitten, ihnen ein wenig Blut zu trinken zu geben, um sie zum Leben zu erwecken, und die der Held mit einem Hieb seines Schwertes verscheucht. Ich habe die schlafende Biene geweckt, und ich spüre mehr ihren grausamen Stachel als ihre ohnmächtigen Flügel. (316f)

Wow, das finde ich wieder so schön ausgedrückt, dass ich beim Lesen dabei zergehen könnte. Ich kann Proust so nachfühlen, wie traurig es ist, sich mit Arbeiten zu befassen, die nicht seinen Wünschen entsprechen. Auch den Satz oben, den Figuren Blut zu trinken zu geben, damit sie lebendig werden, finde ich wunderbar, wie er dieses Zitat auf seine Situation umzulegen weiß. Ich kann ihm nachfühlen, dass ihm durch seine Erkrankungen und durch seine Übersetzungsarbeiten wenig Zeit bleibt, sich literarisch, sich seiner eigenen Schreibkunst, hinzugeben.
Ich hatte meinen Geist meiner Ruhe unterworfen. Indem ich seine Ketten gelöst habe, glaubte ich einen Sklaven zu befreien, aber ich habe mir einen Herrn geschaffen, dessen Anforderungen ich körperlich nicht gewachsen bin und der mich töten wird, wenn ich ihm nicht widerstehe. (317)

Im nächsten Brief geht es wieder um den Ruskin. Proust muss sich hier schwere Vorwürfe gefallen lassen, dass sein Englisch zu schlecht sei für die Übersetzung. Erstaunlich, mit wie viel Kraft er es immer wieder schafft, sich der Kritik, die nicht ganz unberechtigt ist, zu stellen. Immerhin hat Proust viele andere Fremdsprachen gelernt, aber keineswegs Englisch. Interessant, wie er vorgibt, Kompetenzen entwickelt zu haben, auch ohne Englischkenntnisse den Ruskin zu übersetzen. Wie wir aber wissen, ist es die Mutter, die ihm dabei unter die Arme greift, wobei ihre Englischkenntnisse auch nicht ausreichend dafür sind.

An Constantin de Brancovan, Verlagsdirektor (der Mercure?)
Januar 1903

Lt. Google ist Constantin de Brancovan Verlagsdirektor, der Proust ganz ungeschminkt vorwirft, dass Proust kein Englisch könne. Seine Übersetzungen seien sinneswidrig. Teile davon wurden schon veröffentlicht, obwohl die Texte vom Verleger Alfred Vallette auch schon angezweifelt wurden, siehe letzte Buchbesprechung.

Weiter geht es im Brief, in dem Proust sich vehement der Kritik widersetzt. Erneut fällt mir auf, dass Proust fast jeden, mit dem er im Briefkontakt steht, als seinen Freund bezeichnet. Vielleicht war das damals die gängige Art, Floskeln zu verbreiten, oder es war ganz typisch für Proust, sich so auszudrücken, sich vielleicht auch einzuschmeicheln?
Chér ami,
Sie wissen, wie sehr ich sie schätze – und ausgerechnet in dem Moment, da Sie so nett zu mir und meinen Ruskins waren, will ich nicht den Eindruck erwecken, Ihnen Vorwürfe machen zu wollen, aber ich finde es schon allerhand, wenn man bedenkt, dass ich seit vier Jahren an einer Übersetzung der Bible d´Amiens arbeite, dass diese Übersetzung in Kürze erscheinen wird, dass sie mir viel Mühe bereitet hat und ich ihr große Bedeutung beimesse, wenn man also all das bedenkt, finde ich es allerhand, dass Sie im Beisein von Lauris (Prousts Freund, M. P.) (…) sagen, wie eben noch geschehen:
>Eigentlich können Sie ja kein Englisch. Das Ganze wird voller Sinnwidrigkeiten stecken.< Ich weiß sehr wohl, dass Sie das nicht aus Boshaftigkeit gesagt haben, (…). Aber jemand, der mich hasst, und mit einem Wort das Ergebnis von vier anstrengenden Jahren zunichtemachen wollte, einer Arbeit, die auch inmitten der Krankheit fortgeführt wurde, jemand, dem dran gelegen wäre, dass niemand meine Übersetzung liest und sie als null und nichtig angesehen wird – was könnte dem noch Schlimmeres einfallen, wenn ich mir die bescheidene Frage erlauben darf. Sie brauchen das nur vor drei Personen zu wiederholen, und ich hätte mir schon die erste von tausend Stunden Arbeit (…), die mich dieses Werk gekostet hat, sparen können. – Was die Sache selbst betrifft, so wissen Sie, dass ich nicht dazu neige, mich selbst zu überschätzen, noch, die Welt mit meinen Hervorbringungen zu belästigen. Aber ich glaube, dass diese Übersetzung, nicht meines Talents wegen, das mir vollkommen abgeht, wohl aber ob meiner Gewissenhaftigkeit, die keine Grenzen kannte, eine Übersetzung sein wird, wie es nur wenige gibt, eine wahrhafte Wiederherstellung.

Ich frage mich, wie Proust das beurteilen kann? Wenn er ohne Englischkenntnisse ein Buch übersetzt, fehlt ihm jegliche Kompetenz eines Profis, eine Arbeit dieser Art zu bewerten. Proust zitiert einen Freund, der ihm mündlich attestiert hatte, dass er ein besseres Englisch könne als ein Engländer. Schwer vorstellbar, ob der Freund das ernst gemeint hat oder ob er Proust nur schmeicheln wollte? Aber Proust gibt selbst zu, dass der Freund sich getäuscht hat, denn …
Ich verstehe kein Wort gesprochenes Englisch, und lesen kann ich es auch nicht gut. Aber seit ich vier Jahre mit der >Bible d`Ameniens< verbracht habe, kenne ich sie zur Gänze auswendig, sie hat für mich jenen Grad an vollständiger Anwandlung, an absoluter Transparenz erreicht, in der sich nur noch die Nebelschleier halten, die nicht der Insuffizienz unseres Auges geschuldet sind, sondern der nicht weiter hintergehbaren Obskurität des betrachteten Denkens.

Später im Brief zitiert Proust seinen Freund Antoine Bibesco:
>Ich hätte nicht gedacht, dass es möglich ist, jemanden so gut zu übersetzen<.

Ich denke, dass auch Bibesco aufgrund der Freundschaft nicht objektiv genug sein kann, Prousts Arbeiten zu bewerten. Außerdem ist auch Bibesco nicht vom Fach. Weiter Proust:
Es ist schon etwas komisch, dass ich Ihnen all diese Referenzen anführe, aber es war wohl nötig, nicht wahr? Das schließt nicht aus, dass, wenn Sie mich auf Englisch um etwas zu trinken bitten, ich Sie nicht verstehen werde, denn ich habe Englisch während meines Asthmas gelernt, als ich nicht sprechen konnte, habe es also mit den Augen gelernt und weiß nicht, wie man die Wörter ausspricht, und würde sie auch nicht wiedererkennen, wenn ich sie hörte.

Dennoch kann ich mir ganz schwer vorstellen, wie das möglich ist, dass Proust mit diesen schwachen Englischkenntnissen eine Profiarbeit hervorbringen kann.
Ich bilde mir nicht ein, Englisch zu können. Ich bilde mir ein, Ruskin zu kennen. Und Sie wissen, dass ich mir nicht viel einbilde. Vielleicht bleiben Sie vom Gegenteil überzeugt, und meine Übersetzung ist eine Ansammlung von Unsinn. Aber dann, um unserer Freundschaft willen, sagen Sie es niemandem, und lassen Sie es das Publikum ganz allein herausfinden. (319)

Das waren meine Zitate, die mir wichtig erscheinen.

Meine Meinung
Ich habe immer noch nicht kapiert, woraus der Streit zwischen Proust und seiner Mutter besteht. Warum bestraft sie ihn? Ich bin auf Annes Meinung noch immer gespannt.

Der Brief an den Verlagsdirektor hat mich ganz besonders gepackt. Wie viel Selbstbewusstsein muss ein Mensch haben, ein fehlerhaftes Buch zum Druck rauszugeben? Es ist schon mehreren Menschen aufgefallen, dass Prousts Englischkenntnisse dürftig sind. Ich erinnere mich sehr gut an vergangene Briefe. Ich glaube, so etwas schafft nur ein Marcel Proust, der mit seiner versierten Muttersprache Menschen bewusst oder unbewusst zu beeinflussen schafft. Den meisten wäre es peinlich gewesen, ein Buch zu übersetzen, dessen Sprache sie nicht mächtig sind. 
Proust bezeichnet viele Menschen als seine Freunde, und so frage ich mich erneut, ob ihm dies eine Hilfe war, seine Kritiker von seiner Meinung zu überzeugen.

Ich finde es ein wenig dreist, auf die Veröffentlichung zu pochen, trotz inhaltlicher Sinnfehler und es den Lesern zu überlassen, wie sie sein Machwerk beurteilen, in der Hoffnung, dass die Übersetzungsfehler nicht auffallen. Er muss die Leser für dumm halten, und außerdem zahlen die Leser für das Buch viel Geld. Dies wäre hier bei uns in Deutschland ein absolutes No Go. Und nur schade, dass John Ruskin nicht mehr am Leben ist. Ich glaube, der würde sich über die Übersetzung im Grabe umdrehen.

Aber wie kommt es, dass Proust, selbst wenn die Arbeit fehlerhaft ist, dass er trotzdem sich hat englisch ausdrücken können? Wahrscheinlich hat er sich in seiner langen Krankenperiode Englisch autodidaktisch beigebracht, wie oben zu entnehmen ist.

Aus der Fußnote geht hervor:
In der Tat hat Proust niemals Englisch gelernt. In der Schule standen Latein, Griechisch und Deutsch auf dem Stundenplan. Für die Ruskin-Übersetzungen lieferte (…) seine Mutter die Vorlagen, die er stilistisch aufpolierte. Zusätzlich holte er sich bei einer Reihe von Freunden und Spezialisten Rat, was einige Sinnfehler in der Bible d´Amiens nicht ausschloss. Georges Lauris schreibt im Vorwort zu seiner Ausgabe von Prousts Briefen an ihn (Marcel Proust, Á un ami, Paris 1948, S. 22): >Der Prince de Brancovan, der zu dieser Zeit noch die >Renaissance Latine< herausgab, fragte ihn (Proust) eines Tages: >Wie machen Sie das nur, Marcel, wo Sie doch gar kein Englisch können?< Tatsächlich kannte er nur das Englisch John Ruskins, dies aber in allen Nuancen. In Gesellschaft von Engländern wäre er arg in Verlegenheit geraten und wohl auch bei der Bestellung eines Koteletts in einem Restaurant.< Mit dem Abstand der Jahre machte Proust sich übrigens selbst lustig über seine Arbeit als Ruskin-Übersetzer.

Darüber musste ich selbst schmunzeln. Was einem anderen peinlich wäre, ist Proust es, der über sich und über seine eigenen Schwächen stehen kann, solange er seinen fulminanten französischen Ausdruck besitzt, womit sämtliche Ausdrucksfehler und inhaltliche Fehler irgendwie richtig klingen.
In seinem von Philip Kolb auf das Jahr 1909 datierten Ruskin-Pastiche (…) heißt es über den >Übersetzer< des vorliegenden Textes, einen gewissen Monsieur Proust, dieser sei sich seiner Fehlgriffe nicht bewusst gewesen, denn mehrfach danke er, in äußerst zahlreichen Fußnoten, überschwänglichst einem Theaterdirektor, einem Telefonfräulein, und zwei Mitgliedern der Société des Steeple-Chase dafür, ihm einige Passagen erhellt zu haben, die ihm dunkel geblieben seien. (320)

Ich freue mich, dass meine Frage, die sich ja auch Profis gestellt hatten, wie geht das, mit unzureichenden Englischkenntnissen ein Buch zu übersetzen, beantwortet wurde.

Mailaustausch mit Anne
Auch Anne konnte nicht explizit erklären, woraus der Konflikt zwischen Proust und seiner Mutter besteht, sodass ich doch denke, dass dies auf beiden Seiten psychische Probleme sein könnten. Vielleicht werden wir in den nächsten Briefen eines Besseren belehrt.

Im Folgenden die Dialoge zwischen Anne und mir:

Anne: Über seine Mutter habe ich auch viel nachgedacht. Besonders Dein Zitat:

"Die Wahrheit ist, dass Du, sobald ich mich wohlbefinde, alles zerstörst, bis es mir abermals schlecht geht, weil das Leben, das mir Besserung verschafft, Dich verärgert." gab mir sehr zu denken. Braucht sie es vielleicht, dass er krank ist und sich nicht gut fühlt, damit sie als diejenige dastehen kann, die ihm helfen kann? Und warum muss er ihr das überhaupt schreiben. Leben sie nicht zusammen?

Mira:  Das ist ein interessanter Gedanke, Anne. Mir fehlt es noch an Konkretem. Was hat Marcel angestellt, dass seine Mutter ihn wie einen kleinen Jungen bestrafen musste? 

Anne: Das habe ich auch nicht rausfinden können. 

Mira: Dann müssen wir es noch offen lassen. Auf Deine Frage hin: Marcel schreibt ihr, weil sie gerade nicht anwesend ist. Es scheint in dem Hause Proust außerdem üblich zu sein, sich über einen Briefverkehr auszutauschen, selbst wenn alle Anwesenden beisammen sind. 

Anne: Dass er sich über die Kritik wegen seines schlechten Englisch so echauffiert, da musste ich schallend lachen.
Ich habe eine englische Biografie meiner Lieblingsschriftstellerin Helene Hanff. Da kann ich mir ja ein Englisch-Deutsch-Wörterbuch nehmen, diese übersetzen und verkaufen.

Mira lacht: Genau, sowas Ähnliches hatte ich mir auch vorgestellt. Wie groteskt. Irgendwie schafft Proust es immer wieder, mit Worten seiner Muttersprache alles geradezubiegen, was gerade zu biegen ist. Das hat starke manipulative Tendenzen, Menschen gegenüber, weil er es doch immer wieder schafft, dass sie auf ihn eingehen. Auch der Verleger aus den letzten Briefen hatte seine Übersetzung erst abgelehnt, dann durch Prousts Einwand hat er die Ablehnung wieder rückgängig gemacht. Ich wiederhole; das wäre bei uns in Deutschland niemals möglich gewesen. Hier steht die Perfektion für die Veröffentlichung eines Sachbuches ganz oben. Dies ist man auch den Leser*innen schuldig, die für ein Buch Geld bezahlen.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 321 - 330.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 15. September 2019

Marcel Proust und Leonardo da Vinci

Weiter geht es mit Proust-Briefen von Seite 280 - 301. 

Da ich am kommenden Dienstag, 17.09.19, für sechs Tage verreise, und ich mich nächstes Wochenende in Stockholm befinde, haben Anne und ich die zehn Seiten noch vorgezogen, sodass wir uns mit zwanzig Seiten befasst haben. Nach dem Lesen hatten wir uns Gesternabend schon rege am Telefon ausgetauscht.

Auf diesen Seiten sind recht lange Briefe abgedruckt und wieder jede Menge geistreiche Gespräche waren zu entnehmen. Dadurch, dass uns die Schriftsteller, über die gesprochen wird, unbekannt sind, kamen uns die Gespräche sehr abstrakt vor, weshalb ich über diese Briefe nicht so viel schreiben werde. Die Details sind dadurch dem Buch zu entnehmen.

Schön fanden wir, dass der Schriftsteller Fernand Gregh in seinem Gedichtband in Prosa ein Gedicht geschrieben hat, das er Proust gewidmet hat, worüber er sich sehr gefreut hat. Das geht aus einem Brief vom Ende November 1901 hervor. Mon amitié avec Marcel Proust, meine Freundschaft mit Marcel Proust, (Anm. M. P.)

Aus der Fußnote geht hervor:
Gegen Ende des Bandes (…) findet sich unter den Prosagedichten eines mit dem Titel >Les Cloches sur la mer< [Glocken über dem Meer], das mit der Widmung >á Marcel Proust< versehen ist. Gregh widmete Proust diese kleine Arbeit in Erinnerung an einem gemeinsamen Aufenthalt in der Villa >Les Fremonts< (…) im September 1892, als sie eines Abends genau zur Stunde des Angelus-Gebets die alte Kirche Sainte-Catherine in Honfleur betreten hatten. (282)
In einem anderen Brief geht es um ein Synonym für die Homosexualität, das ich herausschreiben möchte, damit man die späteren Briefe vielleicht besser verstehen kann. Anne und ich hatten schon vor längerer Zeit den Verdacht geschöpft, dass Proust sich mit seinen sexuellen Partnern über einen Code austauschen würde.

An Antoine Bibeso
April 1902, Proust war hier 31 Jahre alt

In diesem Brief erfährt man, dass Leonardo da Vinci, (*1452, gest. 1519)  Prousts Lieblingsmaler war. Und auch Leonardo da Vinci soll ein Homosexueller gewesen sein. Weiter unten habe ich dazu aus der Fußnote ein Zitat hinzugefügt.

Entnommen haben wir auch, dass der Begriff >>Saläismus<< ein Synonym für Homosexualität stehen würde, wandelnd auf den Spuren von Leonardo da Vinci, wie auch aus der Fußnote hervorgeht. Proust schreibt:
Ich habe mir zum Saläismus recht profunde Gedanken gemacht, die ich Ihnen bei einem unserer nächsten metaphysischen Gespräche unterbreiten werde. Unnötig, Ihnen zu sagen, dass sie äußerst streng ausfallen. Aber es bleibt eine philosophische Neugier gegenüber den Menschen. Dreyfusard, Anti-Dreyfusard, Saläist, Antisaläist, das sind ungefähr die einzig interessanten Dinge, die man über einen Dummkopf wissen muss. (284)
Aus der Fußnote geht hervor:
>Saläismus< (sowie >Saläist< bzw. >saläistisch<): Im Sprachgebrauch Prousts und seiner Freunde Antoine Bibesco, Bertrand de Fénelon, und anderer ein Synonym für >Homosexualität<. (…) Eine andere interessante, aber weniger wahrscheinliche Geschichte schlug erst Alan Garric in seinem Blog >Libellules< auf der Internetseite der Zeitung Le Monde vor (…). Jean-Paul und Raphäel Enthoven habe sie in ihrem Dictionaire amoureux de Marcel Proust, Paris 2013, (…) übernommen. Demzufolge ließe sich die Spur zurückverfolgen bis zu Gian Giacomo Caprotti, genannt >Saläi< oder auch >Andrea Saläi< (ca. 1480-1524), einem Schüler (seit seinem 15. Lebensjahr) – und wohl auch Geliebten – Leonardo da Vincis. Dass Proust mit biographischen Details aus dem Leben Leonardos vertraut war, darf angenommen werden (Leonardo war der Lieblingsmaler des jungen Proust). Aber Sala scheint hier doch – buchstäblich näher zu liegen als Saläi. (285f)

Im nächsten Brief hat uns erneut Prousts Krankheit beschäftigt.
Marcel Proust lässt in jedem Brief verkünden, wie krank er war, sodass ich darüber nicht mehr schreiben wollte. Seine Krankheiten aufzuzählen finde ich langsam langweilig, auch wenn er mein Mitgefühl hat. Aber in dem folgenden Brief, der an die Mutter gerichtet war, brachte er mich und Anne erneut zum Nachdenken, denn nun war es auch die Mutter, die Prousts Erkrankungen infrage gestellt hat, so scheint uns, und jede Menge Druck auf ihn ausgeübt haben muss, ohne es vielleicht zu wollen. Aber der Sohn ist versiert, weiß sich zu wehren. Er schreibt:

An Jeanne Proust
August 1902, Proust ist 31 Jahre alt
Du sagst mir hierzu, dass andere Leute genauso viel Beschwerden haben und dabei arbeiten müssen, um ihre Familien zu ernähren. Das weiß ich wohl. Auch wenn dieselben Beschwerden nicht unbedingt dieselben Leiden bedeuten. Denn bei alldem muss man zwei Dinge beachten: die Materialität des Faktums, welches die Leiden auslöst. Und die seiner jeweiligen Natur geschuldete Leidensfähigkeit eines Menschen. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die genauso und noch mehr leiden und dennoch arbeiten. Aber man hört auch von anderen, die diese oder jene Krankheit hatten und denen man jede Arbeit untersagt hat. Zu spät, während ich es lieber zu früh getan habe. Und ich habe recht daran getan. Denn es gibt diese Arbeit und jene Arbeit. Die literarische Arbeit ruft ständig die Empfindungen ab, die mit dem Leiden verknüpft sind (>Wenn mit so viel anderen Fesseln Du an Deinen Schmerz dich kettest<). (299)
Aus der Fußnote geht hervor, dass Proust aus dem Gedicht Don Paez zitiert hat. Details sind dem Buch zu entnehmen.

Meine Gedanken 

Ich freue mich immer, Neues durch Proust zu lernen. Dass Leonardo da Vinci sexuell auch männerorientiert gelebt hat, das hatte ich bis dato nicht gewusst.

Was Prousts lebensbedrohliche Erkrankung betrifft, hat mich zudem erschreckt, dass Jeanne Proust ihren Sohn dermaßen unter Druck gesetzt haben muss, dass er anfing, auch der Mutter seine Erkrankungen mit Rechtfertigungen zu erklären. Was diese Vergleiche mit anderen Menschen immerzu sollen, leuchtet mir einfach nicht ein. Man kann Menschen nicht mit anderen Menschen vergleichen. Und doch tut man dies immerzu. Selbst in unserer heutigen Zeit. Man wird dem allerdings niemals gerecht werden können, denn jeder Mensch ist nur mit sich selbst vergleichbar, weil jeder Mensch durch seinen eigenen Charakter und durch seine Herkunft ein anderer ist. Und Proust hat recht getan zu sagen, ich höre lieber früher auf zu arbeiten, bevor es zu spät ist. Wie ich schon andernorts geschrieben habe, haben Asthmatiker mit jedem neuen Anfall permanent den Tod vor Augen …

Wir werden sehen, wie sich Proust noch weiter entwickeln wird. Wir sind gespannt.

Hier mache ich nun Schluss und freue mich, nach meinem Urlaub wieder mit Anne weiter zu lesen. Anne dagegen freut sich auf eine Proust-Pause, was ich durchaus verstehen kann, denn sie hat auch noch andere Projekte am Laufen, denen sie sich an den Wochenenden widmen möchte. Aber Anne macht Proust auch Freude, so wie mir.

Übernächstes Wochenende geht es weiter von der Seite 301 bis 312.

Bis dahin gibt es bei mir nun eine kleine Blog Pause. 
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Montag, 2. September 2019

Politische Ansichten und neues Schreibprojekt

Weiter geht es mit den Proust - Briefen von Seite 260 bis 271. 

Auf den folgenden elf Seiten geht es um Freundschaft, um Politik, und um den  beruflichen Werdegang.

Die ersten Zeilen des ersten Briefes an die Mutter brachten mich zum Lachen ...

An Jeanne Proust
Oktober 1899
Ma chére petite Maman,von Mitternacht bis eine Viertelstunde nach Mitternacht habe ich vor Deiner Tür Wache gestanden und gehört, wie Papa, sich schnäuzte, nicht aber, dass er Zeitung las, sodass ich es nicht gewagt habe, einzutreten. (260)

Diese Szene erinnerte mich nämlich an den kleinen fiktiven Marcel aus der Recherche von BD 1 als er zu fortgeschrittener Abendstunde von der Mutter ohne einen Gutenachtkuss ins Bett geschickt wurde, da die Familie Proust Gäste hatte ... Der kleine Marcel konnte nicht einschlafen und hoffte insgeheim, seine Mutter würde doch noch in sein Zimmer kommen, um ihm den ersehnten Gutenachtkuss zu geben. Die Mutter kam aber nicht. Also stieg der Marcel aus seinem Bett und stellte sich an das Treppengeländer und lauschte, ob die Gäste nicht endlich gegangen waren. Aber sie waren noch da. Er ging wieder zurück ins Bett, er konnte aber nicht schlafen, obwohl es schon sehr spät war.
Der Abend war mittlerweile schon um und die Nacht längst eingebrochen, als die Gäste sich von ihren Gastgeber*innen verabschiedet hatten. Marcel lauschte in seinem Bett noch immer mit seinen großen Kinderohren, und er hörte, als die Eltern endlich die Treppen hochgelaufen kamen, um selbst auch ins Bett zu gehen. Marcel rief daraufhin seine Mutter, um schließlich doch noch zu seinem Gutenachtkuss zu kommen. Die Eltern sind überrascht, dass der kleine Kerl noch nicht eingeschlafen ist. Als die Mutter schließlich nach ihm schauen wollte, war es der Vater, der sie zurückhielt, um den Sohn nicht zu arg zu verweichlichen. Somit gingen die Eltern zu Bett, ohne Marcel einen Gutenachtkuss verpasst zu haben.

Dieses Lauschen finde ich so phänomenal, dass Proust vor verschlossener Türe sehr genau bestimmen konnte, was die Eltern im Bett so alles trieben. Doch er hätte auch anklopfen können …

Es gibt neue Berufspläne. Auf die Anregung seiner Mutter probiert sich Proust für die nächsten fünf Jahre als Übersetzer aus. Als Schriftsteller scheint er finanziell auf keinen grünen Zweig zu kommen, obwohl er nichts anderes tut als schreiben. Er ist gezwungen, seine Romanprojekte erst mal einzustellen. Übersetzen möchte er die Werke von John Ruskin. John Ruskin ist ein britischer Schriftsteller, der 1819 – 1900 in England gelebt hat. Zudem war er auch Kunsthistoriker und Sozialphilosoph. Übersetzen wollte Proust Die sieben Leuchtern; im Original, The seven Lamps of Architecture. Proust interessiert sich für die Studien, die Ruski über die französischen Kathedralen betrieben haben soll. In der Nationalbibliothek findet er Teile von Ruskins Buch in französischer Übersetzung vor.

Aus der Fußnote geht hervor:
Das Resultat dieser Arbeit allerdings ist, dass Proust das Romanprojekt endgültig fallen lässt und sich stattdessen, ermutigt und unterstützt von seiner Mutter, die nächsten fünf Jahre seinen beiden Ruskin-Übersetzungen widmen wird. (268)

In dem Brief an die Mutter bittet er sie um Übersetzungshilfen und gibt dazu gewisse Anweisungen vor.

Wie aus den nachfolgenden Briefen hervorgeht, wirkt Proust auf mich von seinem Gemüt her ein wenig gedrückt. Wiederholt macht er auf seine Erkrankungen aufmerksam, die ihn dermaßen schwächen würden, dass er keine Kraft findet, weiter zu schreiben. Andererseits zeigt er aber auch Probleme mit seinen Schriftstücken, weil er zwar viel ausprobiert hat, aber nichts fertigstellen konnte.

Der nächste Brief wird wieder politisch, die Dreyfusaffäre scheint trotz Begnadigung in der französischen Gesellschaft noch nicht ausgestanden zu sein.

An Pierre d`Orleans
November 1899
Mon cher ami,ich habe Ihnen nicht früher geantwortet, weil ich ziemlich schwer erkrankt war. Sie fragten mich, ob sich all das Schlechte und Gute, das ich im Regiment (1889/1890, Anm. d. Verf.) versprach, bewahrheitet habe. Zwei Dinge zumindest haben sich nicht geändert. Meine Gesundheit hat sich nach und nach bis ins Unerträgliche verschlechtert, und Tage, an denen ich nicht leide, sind eine große Seltenheit. (261)

Pierre d´Orleans muss ein alter Freund aus dem Militärdienst gewesen sein. Viele junge Männer, Rekruten, verachten das strenge Klima in der Wehrmacht, anders Proust, der vorgibt, sich dort wohlgefühlt zu haben. Weiter schreibt er:
Das Gefühl der Zuneigung, das ich jedem einzelnen meiner Vorgesetzten, die so gut zu mir waren, entgegenbringe, empfinde ich auf abstrakte Weise für die ganze Armee. Im Laufe meiner geistigen Entwicklung bin ich nach und nach dahin gekommen, sie als die Lebensform zu betrachten, für die ich die meisten Sympathien aufbringe. Ich bedauere, dass meine Gesundheit mir nicht gestattet hat, in der Armee zu bleiben. (262)

Mich wundert, wie vielen Leuten Proust schon seine stärkste Sympathie bekundet hatte. Meint er auch, was er so schreibt?
Und wenn ich höre, wie sie (die Armee, M. P.) auf dumme und hässliche Weise angegriffen wird, erfüllt mich das mit Zorn und Trauer. (Ebd.) 

Auch von diesem Freund wird Proust mit der Dreyfussaffäre konfrontiert, in welcher Beziehung er zu dieser stehen würde. Proust bekennt sich schließlich ehrlich zu Dreyfus, wo er sich anfangs eher mit seiner Meinung zurückhielt.
Nein, in der Affäre (ich spreche nicht von dem, was um die Affäre herum eine Rolle gespielt hat, vom Militarismus oder Antimilitarismus, Antiklerikalismus usw., denn noch einmal: mir [sic!] graut vor dem Antimilitarismus wie vor dem Antiklerikalismus), in der Justiz-Affäre, war und bin ich Dreyfusard, ich glaube an Dreyfus`Unschuld, ich bewundere die Selbstlosigkeit von Oberst Picquart.

Oberst Marie Georges Picquart, siehe strammstehender General auf dem Gemälde oben, war als französischer Offizier und Kriegsminister bekannt. Außerdem war er Dozent an der Kriegsakademie. Alfred Dreyfus war ein Schüler von ihm. In der Dreyfusaffäre war er Dreyfus-Gegner, später aber, als er Beweise zu dem wahren Täter findet, setzt er sich für die Unschuld Dreyfus´ein, was bei seinen Vorgesetzten nicht gern gesehen wird, und Picquart mit harten Konsequenzen rechnen musste.

Der Spiegel schreibt dazu:
Im März 1896 entdeckt der neue Geheimdienstchef, Oberstleutnant Georges Picquart, bei Überarbeitung des Dreyfus-Dossiers etwas Sensationelles: Die Fetzen eines nicht abgeschickten Telegramms, das als "petit bleu" in die Geschichte eingehen wird. Absender ist der deutsche Militärattaché Schwartzkoppen, Empfänger ein Major im französischen Generalstab namens Charles Ferdinand Walsin-Esterhàzy.Und Picquart entdeckt weiter: Die Handschrift Esterhàzys ist deckungsgleich mit der Handschrift auf dem "bordereau". Doch der Generalstabschef de Boisdeffre will davon nichts hören,Picquart wird als Regimentskommandeur nach Tunesien abgeschoben. Er hatte ursprünglich wie fast alle Militärs an die Schuld des Hauptmanns Dreyfus geglaubt, doch jetzt weiß er: Esterhàzy ist der Täter. Er gelobt: "Ich werde dieses Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen." Und er duelliert sich mit Henry.Inzwischen ist ein Verfahren gegen Esterhàzy in Gang gekommen. Ein Militärgericht spricht ihn unter großem Applaus des Publikums frei, obwohl er einen üblen Ruf als Spieler, Börsenspekulant und Bordellbesitzer hat. Für die Rechtspresse ist er ein "Opfer der Juden".Jedoch, im selben Jahr 1898 werden einige der Fälschungen des Oberst Henry entdeckt, der gesteht und wird verhaftet. Im Gefängnis wird er mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Drumonts "Libre Parole" ruft zu Spenden für seine Witwe auf. 25 000 Franzosen zeichnen, unter ihnen 1000 Offiziere und 300 Priester. Die gewaltigste publizistische Bombe der Affäre explodiert am 13. Januar 1898: In der Tageszeitung "L'Aurore" schleudert der Schriftsteller Emile Zola seinen berühmten "Offenen Brief an den Präsidenten der Republik" in die Welt. Schlagzeile des sechsspaltig aufgemachten Artikels: "J'accuse" (Ich klage an). Es ist nach den Worten eines französischen Politikers "der größte revolutionäre Akt des Jahrhunderts". (Spiegel-Online, Juli 2006)

Proust sorgt sich, dass man ihn wegen seiner politischen Meinung ablehnen könnte und bittet seinen Freund um Loyalität und Toleranz.
Und wie kann ein mir unerklärliches Phänomen der Massenpsychologie, die uns doch dabei helfen soll, bislang geheimnisumwitterte Epochen zu verstehen, bewirken, dass man sehr wohl verschiedener Meinung in Dingen der Religion, der Moral, der Kunst, der Politik sein kann, ohne dabei die Freundschaft zu opfern, aber eine unterschiedliche Auffassung von der Schuld eines Menschen – die eine Frage der Tatsachen und keine prinzipielle Frage ist – zu einem unüberwindlichen Hindernis in den Herzen wird. Dies allein hat das Antlitz der ganzen Gesellschaft verändert, es ist das einzige Zeichen, die einzige Parole, mit der man sich zu erkennen gibt, die die Menschen vereint oder trennt. (263)

Wie recht er hat. Allerdings denke ich gerade über unsere aktuelle politische Lage nach, da bei uns immer mehr Wähler rechts wählen. Von Protestwählern kann keine Rede mehr sein. Ich könnte mit keinem rechten Wähler befreundet sein, der die demokratischen Grundwerte verstößt und Menschen ablehnt, die nicht in deren Menschenbild zu passen scheint. Da ist Proust doch zu wenig wählerisch, und hinterlässt bei mir den Eindruck, bei jeden beliebt und akzeptiert sein zu wollen. Wie kann ich mit einem Menschen befreundet sein wollen, der das Ziel hat, einem anderen Menschen schaden zu wollen? Die Mitglieder einer rechten Partei gaben in unserem Land vor ein paar Jahren öffentlich zu bekennen, sie würden sogar Flüchtlingskinder an der deutschen  Grenze abknallen ... Wie sehr die Dreyfusaffäre die Französische Gesellschaft spaltet, zeigt Proust an folgendem Gedanken:
Ist ein ruhmreicher General Dreyfusard, wird er von der Aristokratie verstoßen, ist ein Priester Dreyfusard, beschimpfen ihn die Katholiken. Ist hingegen ein Zivilist ein Dreyfus-Gegner, so gereicht ihm das schon zu einer Art von militärischer Ruhmestat; gibt sich ein Radikaler als Dreyfus-Gegner zu erkennen, wird er von allen Klerikalen gewählt, ist ein Jude Dreyfus-Gegner, genießt er den Schutz der Antisemiten (…). Das ist es, und es gibt nichts anderes mehr als das. >Ist man´s oder ist man´s nicht, das ist hier die Frage. < (263f)

An Marie Nordlinger
Dezember 1899

Marie Nordlinger ist uns aus den letzten Briefen bekannt. Sie ist eine deutsche Cousine von Reynold Hahn, und die Proust hilft, Ruskin zu übersetzen. Sie ist Jahrgang 1876, also fünf Jahre jünger als Proust, und lebte bis 1961. Sie pendelt häufig zwischen Frankreich und Deutschland.

Proust macht wieder großzügig Komplimente, beklagt, dass Marie Nordlinger aktuell nicht in Paris weilt, wenn er schreibt:
… und was für ein Jammer, dass wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, als sie hier waren, und ich nur so wenig von Ihnen gehabt habe. Denn Briefe wie derjenige, mit dem Sie mich letzthin beehrt haben, rufen etwas ganz anderes als Dankbarkeit hervor, nämlich wahre Sympathie. (266)

Wieder sehr glamourös und wohlwollend ausgedrückt. Wer würde hier nicht weich werden? Weitere Lobpreisungen, auf die ich wegen der Überlänge nicht eingehen möchte, sind dem Brief zu entnehmen.
Und die Sympathie verlangt nach dem Umgang mit den Menschen und begnügt sich nicht mit der reinen Vorstellung. Sie ist nicht so weise wie Sie, wenn Sie sagen: >Ich weiß nicht, ob ich Freunde unter den Lebenden habe.<

Proust moniert, dass M. N. nicht einmal die Bücher als Freunde betrachten könne. Dazu schreibt er: 
Mit Büchern als Freunden gibt sie sich nicht zufrieden. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen scheinbar widerspreche. Sie selbst geben mir diese anspruchsvollere und weniger leicht zu befriedigende Sympathie ein, die, hervorgerufen durch ihre schöne Sprache und Ihre ausgesuchte Zuvorkommenheit, es nicht bei sich selbst belässt, sondern sich auf ihre Person richtet. (Ebd.)

Später schreibt er weiter, dass er selbst aufgrund seiner Erkrankungen zu schwach sei fürs Schreiben, und dass sogar seine Fantasie darunter zu leiden habe. Hier wirkt Marcel depressiv, ein so junger Mensch, der sich ständig mit seinen Krankheiten durchzuschlagen hat, und er dadurch stark am Schreiben gehindert wird.
Ich arbeite schon seit Langem an einem Werk, das einen sehr langen Atem erfordert, habe aber nichts fertiggestellt. 

Aus der Fußnote geht hervor, dass mit dem noch unvollendeten Werk Jean Santeiul gemeint sein könnte. Dafür gebraucht Proust ein wunderschönes Bild, in dem er alle seine unvollendeten Schriften eher als Ruinen betrachtet. Entlehnt ist dieses Gleichnis einem Roman Middlemarch, geschrieben von Georg Eliots. (266)
Seit ungefähr zwei Wochen beschäftige ich mich mit einer kleinen Arbeit, die vollkommen anders ist als das, was ich normalerweise treibe, einer Arbeit über Ruskin und bestimmte Kathedralen. Wenn es mir, wie ich hoffe, gelingt, sie in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, werde ich sie Ihnen gleich nach Erscheinen schicken. Hätte ich etwas anderes veröffentlicht, hätte ich es Ihnen geschickt, aber bislang habe ich nur meine Schubladen vollgestopft. (267)

An Marie Nordlinger
Kurz nach dem 21. Januar 1900

Und dennoch hat diese Übersetzungsarbeit auch einen Haken, so berichtet Proust darüber.
Hat Reynaldo Ihnen gesagt, dass dieser böse Ruskin verboten hat, seine Werke ins Französische zu übersetzen, sodass meine bescheidenen Übertragungen unveröffentlicht bleiben werden? Aber in den Studien, die ich über ihn schreibe, werde ich lange Auszüge daraus anführen. (269)

Abwarten, ich bin gespannt, wie sich diese Arbeit noch entwickeln wird, denn wie aus der Fußnote hervorgeht, stirbt Ruskin am 21 Januar 1900 im Alter von 81 Jahren an einer Influenza.

An Marie Nordlinger
Anfang Februar 1900

Wie ich in meinen Recherchen im Internet entnehmen konnte, wird es Marie Nordlinger sein, die ihm später bei den Übersetzungsarbeiten von Ruskins Studien weiterhin behilflich sein wird. Diese Hilfe wird auch schon im nächsten Brief vom Februar 1900 deutlich. Marie Nordlinger habe ihm diverse Zeitungsartikel und Skripte von Ruskin zukommen lassen. Weitere Details sind dem Brief im Buch zu entnehmen.


Meine Gedanken zu Proust

Diese Briefe haben mich innerlich so ziemlich aufgewühlt. Proust hat mein Mitgefühl, weil ich diese Art von Schreibstress sehr gut selbst kenne. Ehemals hatte auch ich viel ausprobiert, bis ich ganz aufgehört hatte, literarische Texte zu verfassen, weil mich dieser Druck innerlich so penetrant genervt hatte. Immerhin hat Proust mit seiner siebenbändigen Recherche ein Lebenswerk geschaffen, das ihm so schnell keiner nachmachen kann. Erfolglos war er nicht. Nur lebt es sich in einer Gesellschaft einfacher, wenn man für sein Einkommen selbstständig aufkommt, ohne von anderen abhängig zu sein. Zu viele Ideen im Kopf, zu viele Gefühle in der Seele, diese können einen richtig ausbremsen. Erst recht, wenn man wie Proust mit noch verschiedenen Erkrankungen fertig werden muss. Deshalb bin ich auf seine weitere Entwicklung gespannt. Und es ist schön, zu wissen, dass er eine verständige Mutter hat, die zu ihrem Sohn steht und ihn weitestgehend zu unterstützen bereit ist.

Ich erinnere mich an das letzte Telefonat mit Anne, als wir darüber gesprochen hatten, dass Proust in seinem Alter noch von den Mitteln der Eltern abhängig ist. Und in diesen Briefen an die Mutter und an die Freundin Marie Nordlinger finden wir die Antwort darauf. Proust ist einerseits wirklich zu krank, um in Ruhe arbeiten zu können, und andererseits ist er dermaßen produktiv, dass er von zu vielen Schreibideen sich selber zu blockieren scheint. Leistungsstress ist ein Killer, ein Krafträuber, der führt im schlimmsten Fall zu einem physischen und geistigem Burn-out. Ich hoffe, dass Proust mit seinem Supertalent noch auf seine Kosten kommen wird, in der Form, dass er vom Schreiben zu leben in der Lage ist.

Telefongespräch mit Anne
Anne hat mir von einem Erlebnis mit ihrer Freundin berichtet, die eine sehr komplizierte politische Meinung hätte, die häufig recht diskriminierend ausländischen Menschen gegenüber wäre. Sehr undifferenziert, sehr verallgemeinernd, sodass Anne irgendwann die Freundschaft lösen musste, weil die politische Haltung der Freundin immer extremer wurde. Als Anne diese Szene zwischen Proust und Pierre d`Orleans gelesen hatte, musste sie sich an diese Freundin zurückerinnern und hinterfragte ihr Verhalten. Nein, ich finde, dass Anne sich der Freundin gegenüber richtig verhalten hat, meine Meinung dazu habe ich oben schon geäußert. Proust ist, ich wiederhole, einfach zu wenig wählerisch. Politisch betrachtet konnte mir Anne zustimmen, auch sie fand einen Zusammenhang zwischen den politischen Problemen heute und denen aus Prousts Zeiten. Einen oder mehreren Menschen Schaden zu fügen, ist eine Gesinnung, die ich niemals unterstützen würde. 

Und was Prousts Schreiben betrifft, so wurde es auch für Anne durch diese Briefe deutlich, weshalb er vom davon einfach nicht leben konnte.

Und meine persönlichen Gedanken, die ich zu Proust geschrieben habe, fand Anne sehr interessant. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 271 – 280.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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