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Sonntag, 29. November 2020

Stefano Mancuso / Die unglaubliche Reise der Pflanzen (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein wunderbares, inspirierendes Sachbuch zur Pflanzenkunde, das mich sehr nachdenklich gestimmt und mein Bewusstsein zu dem Leben der grünen Gewächse noch weiter geschärft hat. Man bekommt es hier mit vielen neuen Erkenntnissen zu tun, von denen ich zuvor noch nichts gehört habe. Aber manches kannte ich schon durch die Bücher von Peter Wohlleben, nicht nur, dass Pflanzen in der Lage sind, untereinander zu kommunizieren, sondern sie wie die anderen Mitseelen auch, Individuen seien. Ein paar weitere wichtige Aspekte fand ich äußerst interessant, denn ich wusste nicht, dass Pflanzen ein Geschlecht haben und sie demnach auch geschlechtsfähig wären und sie sich durch sexuelle Fortpflanzung vermehren würden. Wie sie das machen, hat Mancuso sehr schön in seinem Buch geschildert. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Um was geht es in diesem Buch?
Im ersten Kapitel geht es um Pflanzen als Pioniere, als Kämpfer und Heimkehrer. Im zweiten Kapitel geht es um Flüchtlinge und Eroberer. Im nächsten Kapitel bezeichnet der Autor die Pflanzen als Kapitäne, dann als Einsiedler und als Anachronisten zum Schluss. In jedem Kapitel geht der Autor auf diverse Pflanzenarten ein und beschreibt sie in deren Unterschiedlichkeit und  Individualität.

Mancuso betrachtet die Pflanzen durch ihre Verwurzelung als sesshafte Wesen, die aber nicht unbeweglich seien. Er beschreibt recht anschaulich, wie diese Pflanzen es schaffen, sich trotz ihrer Verwurzelung überall auf der Welt zu verbreiten und zu vermehren.

Er geht auch auf Pflanzen ein, die in Asien ihren Ursprung haben, und sie es fertiggebracht haben bis ins 17 Jhd. auch in Europa anzukommen und sich hier anzusiedeln. Mancuso beschreibt diesen Prozess als eine Migrationsbewegung. Migrationsbewegung, damit hatte ich bisher immer Flüchtlinge oder Arbeitsmigrant*innen in Verbindung gebracht. Nein, hier sind nicht die Menschen gemeint, sondern die Pflanzen, die migriert sind. Verursacht durch Nachbarpflanzen wie die Bäume oder durch Winde, durch Blätter oder durch Tiere, die die Samen als Transportpartner verstreut bzw. weitergetragen haben. Selbst über Meere gelangten verschiedene Samen auf europäisches Festland, ohne dass sie durch das Salzwasser eine Zerstörung erfuhren.

Wenn man sich mit Migrationsbewegung befasst, genügt ein Blick auf die Pflanzen, um zu begreifen, dass es sich dabei um einen unaufhaltsamen Prozess handelt. Mithilfe von Spuren, Samen und allen verfügbaren Transportmitteln verbreiten sich die Gewächse von Generation zu Generation und erobern auf diese Weise neue Lebensräume. (202, 10)  

Der Autor zeigt auch auf, wie stark die Natur ist, dass selbst auf Ukrainisch kontaminiertem Boden durch das Reaktorunglück Tschernobyl zu beobachten sei, wie dort neue Pflanzen entstehen. Oder auf Fukushima in Japan. 2011 erlitt Fukushima durch ein Erdbeben einen Atomunfall, und dort sei ebenso zu beobachten, wie neue Pflanzen auf der kontaminierten Erde wachsen und sich auch Wildtiere ansiedeln.

In Fukushima überlebten drei Bäume das Reaktorunglück. An allen drei Bäumen soll jeweils eine Narbe zu sehen sein.

Es tröstet, dass die Natur symbolisch gedacht unser Desaster verzeiht. Aber wenn wir weiterhin achtlos mit der Natur umgehen und sie zerstören, dann zerstören wir in erster Linie uns. Und wir werden uns von der Zerstörung nicht erholen, die Pflanzen aber schon. Deshalb gilt es, achtsam mit der Natur umzugehen.

Anscheinend ist der Mensch noch um einiges tödlicher für Pflanzen als radioaktive Strahlung. Durch sein Fernbleiben wurde ungewollt ein riesiges Naturschutzgebiet geschaffen. Trotz der Strahlung ist die pflanzliche und tierische Vielfalt inzwischen größer als vor der Nuklearkatastrophe. Heute finden sich hier Luchse, Waschbären, Rehe, Wölfe (… ) unterschiedliche Vogelarten, Hasen und Eichhörnchen. Sogar der vor über einem Jahrhundert verschwundene Braunbär ist zurückgekehrt. (23) 

Macht dieses Zitat nicht nachdenklich? Dass der Mensch für die Umwelt gefährlicher ist als radioaktive Strahlen? Das bedrückt mich, wenn ich dies lesen muss.

Und die Pflanzen? Sie machten es sogar noch besser als die Tiere. Pripjad war eine Stadt mit etwa 50.000 Einwohnern, in der auch die meisten Mitarbeiter des nur drei Kilometer entfernten Kernkraftwerks lebten. Sie wurde unmittelbar nach dem GAU vollständig evakuiert. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, einen detaillierten Fotobericht über den heutigen Zustand Pripjad zu sehen. Es ist unfassbar, aber 30 Jahre nach der Katastrophe ist die ganze Stadt wie ein ukrainisches Angkor Wat mit Pflanzen bedeckt. Pappeln wachsen auf Dächern und Birken auf Terrassen, während Büsche aus dem Asphalt sprießen und sechsspurige Straße sich in grüne Flüsse verwandelt haben. (Ebd) 

Der Autor bezeichnet die Emigration der Pflanzen auch als Zeitreisende. Durch alle Zeiten reisten Pflanzen mithilfe von Transportpartnern durch den gesamten Erdball.

Zeitreisende existieren - zumindest solche, die aus der Vergangenheit zu uns in die Gegenwart gelangen. Sie sind überall zu finden und so zahlreich, dass wir sie schon gar nicht mehr wahrnehmen. Wer sind sie? Natürlich die Pflanzen - wer denn sonst? Einige Arten, vor allem Bäume, haben dank ihrer extremen Langlebigkeit, mit der kein Tier sich messen kann, ganze Epochen überdauert, um bis in die heutige Zeit zu überleben. Andere wiederum verwahren ihre Keimlinge in unglaublich widerstandsfähigen Samen und ermöglichen auf diese Weise ihren Nachkommen die Reise durch Raum und Zeit. (78)

Heimische Pflanzen? Gibt es sie?

Die meisten invasiven Tier - oder Pflanzenarten, die wir heute kennen, sind auf diese Weise zu uns gelangt. Und es gibt sehr viel mehr biologische Invasoren, als man meinen möchte. Tatsächlich sind zahlreiche Arten, von denen wir glauben, sie seien schon immer Teil unserer Umgebung gewesen, erst von mehr oder weniger langer Zeit eingewandert. Viele Pflanzen, die wir heute als Teil unseres kulturellen Erbes betrachten, waren ursprünglich Fremde, die sich inzwischen jedoch so gut integriert haben, dass wir sie nicht mehr als solche erkennen. (34)

Interessant fand ich auch die Genmanipulation verschiedener Pflanzenarten, deren Auswirkungen auf diese Pflanzen mir nicht richtig bewusst war. Man raubt ihnen dadurch nicht nur ihre Identität, sondern auch ihre Widerstandskraft. Die Genmanipulation durch die Lebensmittelindustrie birgt das Risiko, Pflanzen in ihrer Art auszurotten. Wer hat schon einmal eine Banane mit Samen gesehen? Ich zumindest nicht. Und bald wird es auch keine Trauben mit Kernen mehr geben und auch die Avocado ist auf bestem Weg, ihren Kern zu verlieren. Die Gefahr ist, dass diese Früchte, Tochterpflanzen genannt, anfällig sind für bestimmte Krankheiten. Sie sind nicht mehr resistent genug, diese abzuwehren. Eine Massenabfertigung ähnlich wie wir sie von der Tierhaltung aus der Landwirtschaft her kennen.

Beraubt man eine Pflanze jedoch die Möglichkeit, ihre eigenen Samen zu produzieren, degradiert man sie vom Lebewesen zum bloßen Produktionsmittel in den Händen an der Lebensmittelindustrie, die allein darüber entscheidet, welches Individuum sich wann, wo und wie vermehrt. Und das ist noch nicht alles. Eine kernlose Pflanze kann sich nicht mehr durch sexuelle Fortpflanzung vermehren, sondern nur noch vegetativ. Auf diese Weise werden einige wenige Individuen millionenfach reproduziert, Tochterpflanzen, die mit ihrer Mutterpflanze genetisch identisch sind. Die daraus resultierende geringere genetische Vielfalt birgt große Gefahren, denn ein einziger Parasit oder eine einzige Krankheit kann genügen, um ganzen Populationen den Garaus zu machen. (132f)

Dies waren nur ein paar Gedanken, die ich hier festgehalten habe. In dem Buch finden sich noch eine Reihe weiterer Gesichtspunkte, die nachzulesen mehr als interessant sind.

Zum Schreibkonzept
Ein sehr schöner, flüssiger Schreibstil. Das Buch ist auf 138 Seiten in sechs Kapiteln mit Unterthemen gegliedert und in jedem Kapitel behandelt der Autor verschiedene Pflanzenarten. Sehr schöne kontinentale Aquarellzeichnungen sind mitabgebildet. Das Buch ist Mancusos Eltern gewidmet. Zum Schluss findet man ein paar Anmerkungen.

Cover und Buchtitel  

Beides super gut getroffen. Vor allem der Buchtitel hält, was er verspricht. 

Meine Meinung
Es hat mir viel Freude bereitet, dieses Buch zu lesen und es weckt meine Lust, am Thema dran zu bleiben.

Mein Fazit
Ein sehr zu empfehlendes Sachbuch nicht nur für Botaniker oder Pflanzenliebhaber*innen. Auch für ganz gewöhnliche Leser*innen wie mich hilft es, die eigene Sichtweise zu unseren grünen Mitseelen zu hinterfragen und auch das eigene Konsumverhalten ein wenig zu revidieren.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Ich habe vor ein paar Jahren eine italienische Bücherfreundin auf Facebook  getroffen, die mitbekommen hat, dass ich viele Fachbücher zu Tieren lese und hat mir Mancuso ans Herz gelegt. Ja, den Pflanzen parallel zu den Tieren auch Aufmerksamkeit widmen zu sollen, habe ich als ihre Botschaft aufgefasst. Ich habe zwar Peter Wohlleben eifrig gelesen, aber wen kenne ich schon von Botanikern anderer Länder? Und schon gar nicht aus Italien. In den deutschen Buchläden finden sich immer belletristische Genres zur italienischen Literatur, die griffbereit in den Regalen stehen. Besonderheiten müssen bestellt werden. Aber wenn man einen Autor hier nicht kennt, so kann es auch nicht bestellt werden. Deshalb ein großes Dankeschön an Giovanna Calvo, die in Kalabrien lebt.

Schön fand ich auch, dass meine neue Bücherfreundin P. G. das Buch als Bibliothekarin für ihre Stadtbibliothek anschaffen konnte, nach dem sie es selbst gelesen hat. Genauso wie ich war sie von dem Buch sehr angetan.

Danke auch an P. G.

Hier geht es zu ihrer Buchbesprechung.

Meine Bewertung

Meine Bewertung Sachbuch

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck und Verständlichkeit
2 Punkte: Sehr gute Umsetzung der Thematik.
2 Punkte: Sehr gute aufklärerische und kritische Verarbeitung
2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden.
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.

________________

Das Leben findet immer seinen Weg.
(Stefano Mancuso)

Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Verstand und mit Herz!
Um die Welt, Menschen und die Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Montag, 23. November 2020

Raffaella Romagnolo / Dieses ganze Leben (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Was soll ich zu dem ausgelesenen Buch schreiben? Die Lorbeeren teile ich ganz gerne schon gleich in meinen ersten Zeilen meines Vorspannes aus. Aber dieses Buch hat mich eigentlich nach meiner Anfangseuphorie mehr ermattet. Zu viele komplexe Themen auf wenigen Seiten.

Als ich mich gestern Abend mit Anne über das Buch ausgetauscht hatte, Anne war damit längst durch, sind in mir tiefere Gedanken noch gar nicht zu greifen gewesen. Ich konnte sie erst am nächsten Tag, also heute, aus mir herauslocken, sodass ich sagen kann, dass ich das Buch im Nachhinein dennoch als relativ gelungen empfunden habe, wenn sich auch eine gewisse Differenziertheit an Personenbeschreibung vermissen ließ, wie ich dies später noch begründen werde.

Im unteren Teil habe ich eine kleine kritische Diskussion angeknüpft und dabei auch Romagnolo mit Ferrante verglichen. Immerzu ist aus mir heraus während des telefonischen Austauschs mit Anne ein Freudscher Versprecher herausgerutscht. Immer wieder vertauschte ich unbewusst Romagnolo mit Ferrante, bis ich mich hinterfragt hatte, was mir diese Versprecher sagen wollten? Tatsächlich konnte ich darauf eine hilfreiche Antwort finden, die ich anderen Leser*innen nicht vorenthalten möchte.

Wer nicht zu viel im Vorfeld über den Inhalt erfahren möchte, weil man das Buch selbst lesen möchte, so bitte ich, sich nur die Buchvorstellung oder die Handlung vorzunehmen. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
In dieser Handlung bekommt man es in retrospektiver Form mit einer italienischen Familie aus Piemont zu tun, die aus vier Genrationen besteht. Doch die Held*innen dieser gegenwärtigen Familiengeschichte sind Paola De Giorgi, 16 Jahre alt, deren jüngerer Bruder Ricardo aber auch deren Schulfreunde Antonio und Philippo Ferrari als Nebenfiguren. Paolo und Ricardos Eltern sind wohlhabend. Hier wird Geld verschwendet, wo anderswo hart dafür gearbeitet werden muss. Der Vater leitet eine Baufirma des Familienunternehmens seiner Frau Monica namens Costa Costruzione und ist von Beruf Bauingenieur. Paolas Mutter war eigentlich die Vorstandsvorsitzende dieses Betriebes, bis ihr Mann diese Rolle von ihrem Vater zugetragen bekommen hatte ... Beide Geschwisterkinder De Giorgi sind anders als der Durchschnitt der Kinder. Ricardo ist körperlich schwerbehindert und geistig etwas retardiert, obwohl dieses Kind Schach spielt. Auch zeigt er autistische Züge. Ricardos Behinderung passt nicht in dieses fadenscheinige Familienidyll. Und auch Paola scheint vor allem für die Mutter körperlich zu unattraktiv, zu plump, zu unperfekt zu sein, da sie nicht dem Schönheitsideal entspricht. Für ihr Alter und ihre Größe ist sie eigentlich noch normalgewichtig, aber ihre Mutter gibt ihr das Gefühl, fettleibig zu sein. Paoloa ist 1,74 m groß und wiegt 75 Kilo. Außerdem leidet sie unter ihrem Pferdegesicht ... Paola ist eine reflektierte Jugendliche, kommt dadurch mit ihren oberflächlichen Schulkameradinnen nicht zurecht. Auch bei ihren Eltern eckt sie durch viele Fragen an, stößt an Mauern, versucht, Tabus aufzubrechen, als z. B. plötzlich die Carrabinieri vor ihrer Haustüre steht ... Sie spürt, dass das Familienglück mit Geheimnissen und Lebenslügen überschattet wird. Sie vergleicht ihre Familie mit der von Antonio, der aus armen Verhältnissen kommt. Antonio wohnt in einem sozialen Brennpunkt, der sich Margeritensiedlung nennt. Diese Siedlung, die in Wirklichkeit PEEP (Piano, Edilizia Economica Popolare) heißt, verabscheut Paolas Mutter, was für die Jugendliche auf Unverständnis stößt ... Der Vater kommt abends spät nach Hause und zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück.

Das Hauptgeschehen spielt sich in der Gegenwart, im Zeitalter der sozialen Netzwerke wie Facebook und Co ab.

Ähnlich wie im Vorgängerbuch Bella ciao bekommt man es auch hier mit einer kühlen und liebesarmen Familie zu tun.

Zwischen Paola und Antonio entwickelt sich eine leise Liebesbeziehung ... Paola fühlt sich zu ihm hingezogen, da er anders ist als ihre anderen Schulkamerad*innen.

Die Autorin reißt in ihrem Buch recht sprunghaft viele Problempunkte an, die ich mal aufgelistet habe, weil ich unmöglich auf alle Themen eingehen kann, ich es aber gerne würde. Sie behandelt darin:

-   Häusliche Gewalt gegen Frauen in der ersten und zweiten Generation

-   Patriarchisches Gesellschaftssystem bis zur dritten Generation / Ungleiche Verteilung der Geschlechterrollen

-   Korruption

-   Illegale Geschäfte mit der Giftmüllentsorgung

-   Gegensätze Armut / Reichtum und Standesunterschiede aus den verschiedenen Generationen

-   Identitätsprobleme der jungen und der älteren Generation

-   Tabus

-   Fehlgeleiteter, gesellschaftlicher Wandel

-   Realitätsverzerrung / Realitätsflucht

-   Jugendliebe aus der zweiten und der vierten Generation mit Standesunterschieden

-   Sozialrassismus und patriotischer Rassismus

Eine zu starke Überfrachtung von Problempunkten, die vom Schreibstil her nicht bis zum Schluss ausgehalten wurden.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Das waren ein Haufen Szenen, die ich zum Teil im Groben gerne zusammenfassen möchte. Insgesamt scheint es hier um eine italienische Familie zu gehen, die ihre Probleme von Generation zu Generation weitergegeben hat, anstatt sich ihnen zu stellen, um sie zu bekämpfen. Ganz häufig zieht die Autorin Parallelen zu den Fantasyromanen Harry Potter und Herr der Ringe zurate. Wer diese Romane kennt, weiß, wie intensiv die Kämpfe gegen das Böse ausgetragen wurden. Ganz häufig flechtet die Autorin Aragorn in ihren Erzählmustern mit ein, der als ein Symbolträger für königlichen Mut steht. Er bekämpft das Böse samt dem Schwert, packt es an der Wurzel ... Aus Harry Potter wird der Weasley Junge Ron erwähnt, der bei einer Schlacht zusammen mit Hermine Voldemorts letzten Horkrux zerstört. Im Gegensatz zu diesen mutigen Kriegern scheint die Familie De Georgi in einem Status quo oder viel mehr einem Dornröschenschlaf verfallen zu sein. Die Familienmitglieder ertragen lieber ihr unerträgliches Schicksal, indem sie die Realitäten z. B. durch Shoppen und Erfüllung von Schönheitsidealen … ausblenden, als sich einem Kampf zu begeben, der sie von dem Bösen befreien könnte. Zu groß ist die Angst vor dem Statusverlust …

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Besonders gut hat mir gefallen, dass Antonios jüngerer Bruder Philippo keine Scheu vor Ricardos Behinderung hatte. Beide Kinder gingen eine Freundschaft ein und spielten gerne miteinander Schach und so trafen sie sich regelmäßig und heimlich zu Hause bei Antonio. Kinder sind doch häufig die größeren Lehrmeister*innen verglichen zu vielen unreifen Erwachsenen, wenn man bedenkt, dass Ricardo lange Zeit vor der Gesellschaft versteckt wurde.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Es waren die Kinder Paola, Ricardo, Antonio und dessen jüngerer Bruder Philippo. Die Rumänin Nina war die einzige Sympathische von den Erwachsenen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Die gesamte italienische Erwachsenenwelt ist mir übel aufgestoßen. Diese Oberflächlichkeit und diese Verlogenheit fand ich widerlich. Statt Probleme anzupacken, um sie zu lösen, werden sie erfolgreich verdrängt, >denn Shopping, Paoletta, ist die einzige Medizin<. Aus der Sicht der Großmutter.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel
Das Mädchen auf dem Cover soll sicher Paola De Giorgi sein. Aber ein

Pferdegesicht hat sie hier nicht. Sie wirkt eigentlich recht hübsch und ansehnlich. Paola scheint durch die Mutter irgendwie in einer pubertären Wahrnehmungsverzerrung zu stecken. Erst dachte ich, dass dieses Pferdegesicht nur als eine Art Stimmung einer Jugendlichen dargestellt wird. Die innere Wahrnehmung, die durch die Mutter hineingelegt ist, macht aus Paola keine glückliche Jugendliche. Aber da sie auch von ihren Mitschüler*innen als Die Dicke mit dem Pferdegesicht verspottet wird, scheint sie tatsächlich etwas entstellt zu sein. Aber warum gibt das Cover dies nicht her? Will man die Leserschaft nicht verschrecken? Schade, dass man den Leser*innen immer schöne
Bildchen anbieten muss, um die Leselust zu stimulieren. Ich bin somit wieder neugierig auf das Originalcover geworden, das mich aber noch viel 
weniger angesprochen hat als das von Diogenes.

Und der Buchtitel? Dieser geht mehrmals aus dem Kontext hervor. Dieses ganze Leben übernommen aus dem Italienischen. Was machen wir aus unserem Leben? Wie füllen wir es aus? - war eine Frage, die sich mir aus dem Kontext heraus gestellt hat.

Zum Schreibkonzept
Dieser Familienroman ist auf 268 Seiten gepackt. Bevor es in die Familie geht, befinden sich auf den ersten Seiten eine Widmung und zwei einleitende Verse verschiedener Dichter. Das Buch ist nicht in Kapitel gegliedert. Es beginnt mit dem Monat April der Gegenwart. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der 16-jährigen Paola. Am Schluss findet man eine Anmerkung und die übliche Danksagung.

Ein paar kritische Gedanken

Was fand ich besonders an diesem Buch?
Besonders fand ich an diesem Buch, dass die mittellosen Kinder Antonio und Philippo in der Schule Klassenbeste waren und sie das Gymnasium besuchten. Endlich mal ein ins Deutsche übersetzter italienischer Roman über ärmere Kinder, die nicht als bildungsunwillig dargestellt wurden. Antonio sollte nach dem Abitur zur Uni wechseln und ging während der Sommerferien einer Aushilfstätigkeit nach, um etwas Geld dazuzuverdienen.

Besonders fand ich auch, dass die Figuren in ihrer äußerlichen Erscheinung wie Haar- und Augenfarbe durchmischt waren.

Besonders fand ich auch viele unterschiedliche Geschichten anderer Genres zum Vergleich, um die Probleme der Figuren zu verdeutlichen bzw. um ihnen den Spiegel vorzusetzen. Neben den Figuren aus den beiden Fantasieromanen denke ich hierbei auch an die Geschichte von Ciccio Kopflos. Dieses Einfließen jener Geschichten fand ich kreativ sehr gelungen. Allerdings ist unser Menschenleben kein zurechtgestrickter Fantasieroman, in dem man die Fäden der Figuren dahin lenken und strecken kann, wo man sie haben möchte. Im wirklichen Menschenleben bleibt vieles unberechenbar und unvorhersehbar. 

Realitätsüberprüfung
Der Rassismus zwischen den Nord- und den Süditaliener*innen ist heute weitestgehend nicht mehr anzutreffen, während bei Romagnolo die Süditaliener*innen noch immer mit dem abwertetenden Schimpfwort als terrone bezeichnet werden, die einen Status ähnlich wie Flüchtlinge aufgedrückt bekommen. In der Form, dass sie z. B. wieder zurück nach Hause gehen sollen. Aber dennoch finde ich es gut, dies zum Thema zu machen. Rassismus ist in Italien nach wie vor verbreitet, meist aber Menschen gegenüber, die aus anderen Kontinenten kommen. Andersherum gibt es aber auch recht viele Italiener*innen, die sich für diese Menschen sogar einsetzen.

Zu dem Rassismus den Landsleuten gegenüber habe ich verschiedene Südländer*innen befragt, die im Norden des Landes ihren Wohnsitz haben. Sie klagten über keinerlei Diskriminierungen etc. Sie fühlen sich gleichbehandelt.

Das hat mich gefreut zu hören, weil es ja doch Entwicklungen zu geben scheint. Aber gewisse Vorurteile wird es auch immer geben, das ist mir bewusst, dass sie bei einigen Menschen, wie überall auch, nicht auszurotten sind.

Auch behinderte Menschen werden nicht mehr von der Gesellschaft versteckt, sondern in der Gesellschaft integriert. In den Schulen werden behinderte Kinder inkludiert. Was verkauft uns Romagnolo für ein italienisches Menschenbild? Behinderte Menschen haben es in diesem Land nicht besser und auch nicht schlechter als woanders in Europa auch. Behinderte Menschen werden je nach Grad der Behinderung sogar in verschiedenen beruflichen Sparten eingesetzt. Schlechtenfalls bilden sie eine Parallelgesellschaft, wie sie auch in Deutschland anzutreffen ist. Auch in Deutschland ist die Inklusion längst kein abgeschlossener Prozess.

Italien war immerhin eines der ersten Länder, das behinderte Menschen in den 1970er Jahren aus Isolier- und Verwahrstationen befreit hat … In belletristischer Literatur, die ins Deutsche übersetzt werden, tauchen diese und andere Entwicklungen des Landes nicht auf, hierbei muss man auf Fachbücher oder auf Biografien zugreifen, was ich sehr schade finde, weil diese Art von Büchern von vielen nicht gelesen werden. 

Hier ein Link zur Behandlung von behinderten Menschen in Italien.

Was hat mir gefehlt?
Mir haben erwachsene Figuren mit differenzierteren Charakterstrukturen gefehlt. Überall auf der Welt gibt es verschiedene Menschentypen, die ihr (kompliziertes) Leben unterschiedlich in die Hand nehmen. Auch in Italien gibt es jede Menge Kämpfernaturen, die sich nicht mit ihrem durch die Geburt verschrienen Schicksal einfach zufriedengeben und gestalten daraus das Bestmögliche. Auch in Italien gibt es Menschen, die komplett andere Wege gehen als die Figuren in diesem Roman. Diese Art von Menschen haben mir hier einfach gefehlt. Neben dem Bösen hat mir das Gute gefehlt. 

Mitunter auch fehlende Vorbilder
Ein anspruchvolles Buch, das nicht nur zur reinen Unterhaltung dient, sollte auch positive Vorbilder aufleben lassen und nicht ausschließlich über abschreckende Figuren schreiben. 

Romagnolo und Ferrante im Vergleich
Ist Romagnolo vielleicht die Antwort auf Ferrante? Das erweckt den Eindruck, wenn man Ferrante naiv liest und man Romagnolo mit ihr vergleicht. In den Familien beider Romane gibt es wenig differenzierte Charaktere unter den Erwachsenen, während bei Ferrante die Menschen durch ihren existentiellen Kampf von Grund auf als böse, dumm und als gewaltsam triebgesteuert dargestellt werden, so könnte man bei Romagnolo glauben, dass sie das sind, weil sie sich nicht mit ihrem Schattendasein befassen. Diese Figuren packen in beiden Romanarten das Übel nicht an der Wurzel, um es herauszureißen und bleiben ewig in ihrem Leid und in dem Bösen gefangen … Wären wirklich alle Menschen dort gleich, könnte man das auch tatsächlich so glauben und so hinnehmen. Sie sind aber nicht alle gleich. Das habe ich schon als Kind begriffen, dass die Welt überall unterschiedliche Charakterformen hat, selbst dann noch, wenn man einer homogenen Gesellschaft angehört. Überall auf der Welt gibt es gute und weniger gute Menschen. Und das ist nicht mal abhängig vom sozialen Hang und Rang der verschiedenen Gesellschaftstypen eines Landes. Warum sollte das in Italien denn anders sein?

Eine italienische Apokalypse
Wie bei Ferrante ist auch dieses Buch von einer Apokalypse gezeichnet, und ich mich frage, wie es kommt, dass Italien nicht längst dem Untergang geweiht ist? Irgendwas Gutes muss es auch in diesem Land geben, wenn das Böse so mächtig ist, das am Ende sich selbst auffressen müsste. Mit einem Lupenblick suchte ich vergeblich nach gesunden Erwachsenen … Ich suchte vergeblich nach der zweiten Seite der Medaille, was ich sehr schade fand.

Deshalb weigere ich mich, dieses einseitige italienische Menschenbild anzunehmen, auch wenn mir die Probleme dort durchaus bewusst sind. Aber sie haben auch Stärken. Mir wurde immer wieder von Italiener’innen versichert, dass ich nach Italien kommen sollte und italienische Bibliotheken aufsuchen müsste, wenn ich über ein differenzierteres Italien lesen möchte. Warum werden diese Bücher nicht ins Deutsche übersetzt? Ich bin der italienischen Sprache leider nicht mächtig genug, um diese Bücher verstehen zu können. Aber ich freue mich, dass ich Zugang zu diesen Menschen habe und ihnen Fragen stellen kann, die mir helfen, sie mit differenzierten Antworten zu füllen.

Mein Fazit
Absolut ein beachtenswerter Roman für kritische Leser*innen. Für Unkritische hinterlässt das Buch leider wieder ein nur sehr einseitiges und klischeehaftes, stereotypes italienisches Gesellschaftsbild, das die Menschen auf ihre Schwächen und Probleme reduziert. Da ich dieses Bild durch deutsche Medien aber schon von Kind auf nur zu gut kennenlernen musste, bin ich reichlich gesättigt davon, daher hat es für mich nun die Konsequenz, von übersetzter italienischer Belletristik auf Biografien umzusatteln. In guten Biografien bekommt man es mit Tatsachenberichten zu tun. Mit Oriana Fallaci war ich z. B. mehr als positiv überrascht. Diese fiktiven Romane, die über Jahrzehnte hinweg eine einseitige italienische Lebenswelt darstellen, muss ich leider immer wieder hinterfragen, weil sie mir durch ihre Undifferenziertheit so wenig glaubhaft erscheint.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Da ich von der Autorin den historischen Roman Bella ciao gelesen habe, der mir viel besser gefallen hat, bin ich auf die neue Romagnolo durch den Diogenes Verlag aufmerksam geworden.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte; künstliche oder glaubwürdige Erzählweise
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus 
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Acht von zwölf Punkten.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für fas Leseexemplar. 

Hier geht es zu Annes Buchbesprechung.

Hier  geht es zum Vorgängerwerk Bella ciao.

________________

In jedem Land gibt es gute
und weniger gute Menschen.
Die Welt ist bunt,
das liegt schon in der Natur der Schöpfung.

Gelesene Bücher 2020: 23
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Verstand und mit Herz!
Um die Welt, Menschen und die Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)

 

Montag, 21. September 2020

Raffaella Romagnolo / Bella ciao (1)

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Foto: Italienisches Buchcover

Ein Buch, das nach Leben und Menschlichkeit schreit

Ich habe viel über dieses Buch schon während des Lesens nachgedacht, dass ich gerne darüber schreiben möchte. Es ist mit so vielen Post it beklebt, dass es mir zeigt, mit wie viel Facetten mich diese Lektüre doch begleitet hat. Ich werde leider nicht alle Buchseiten bearbeiten können und stehe vor einer schwierigen Entscheidung.

Es gibt so viele Szenen, die mich innerlich beschäftigt haben, dass ich sie unbedingt hier festhalten möchte. Wie soll man sonst über ein Buch sprechen, wenn man so viele Gedanken unterdrücken muss??? Ich schreibe gerne, und ich denke gerne, das bin ich, wenn ich mich durch eine so gute Lektüre wie diese ausdrücken darf und mir keine Verbotsschilder aufgesetzt werden. Schweigen kann ich später in meinem Grab, wenn mein Leben vorbei ist. Ich lese, also bin ich …

Wer inhaltlich im Vorfeld nicht so viel erfahren möchte, bitte ich nur die Buchvorstellung zu lesen, mit der man sich hier weiter unten verlinken kann ... Wer aber Dinge über Italien lesen möchte, die bislang weitestgehend unbekannt waren, lade ich zum Weiterlesen ein. Es bleiben trotzdem noch viele wichtige Punkte übrig, die ich hier unerwähnt gelassen habe.

Ich nutze durch Romagnolo die Gelegenheit, zu ihrem Buch an mein Wissen anzuknüpfen, das ich durch verschiedene Fachbücher zu Italien mir erworben habe.

Und am Ende der Buchbesprechung verlinke ich zu einem amerikanischen Spielfilm mit dem Titel Im Teufelskreis der Armut, den man sich kostenlos anschauen kann. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung gebe ich sprunghaft wieder, wie ich dies beim Lesen erlebt habe.

Die Heldin dieses epochalen Familienepos ist Giulia Masca, die als ganz junges Mädchen schwanger von zu Hause ausgebrochen ist. Sie hat all ihre Ersparnisse zusammengekratzt und sich auf ein Schiff nach Amerika begeben. Geschuldet war die Flucht nicht der Schwangerschaft, sondern dem Partner Pietro Ferro, der sich mit einem anderen Mädchen namens Anita Leone zusammengetan hat. Pietro und Giulia kennen sich seit frühster Kindheit und waren sicher, wenn sie groß sind, würden sie gemeinsam in den Bund der Ehe treten ...

Die Handlung beginnt in New York, als Giulia über ihre Vergangenheit im italienischen Piemont reflektiert. Es ist das Jahr 1946. Giulia ist 1901 von zu Hause abgehauen, ohne ein Sterbenswörtchen der Mutter zu hinterlassen. Der Vater, der unter einer Alkoholsucht litt, kam ums Leben, als Giulia gerade mal acht oder neun Jahre alt war. Die Handlung bewegt sich in der Erzählweise im Wechsel zwischen Borgo di Dentro und New York ...

Das Schicksal wollte es anders. Giulia ging nun nicht die Ehe mit Pietro ein, sondern mit einem nach Amerika eingewanderten Italiener namens Libero Manfredi, der doppelt so alt ist wie Giulia selbst. Während Manfredi vorurteilslos sich dem jungen schwangeren Mädchen annimmt, wird Giulia von dessen Familie als Hure verspottet … Als Giulias Kind auf die Welt kommt, nimmt Manfredi diesen Sohn wie einen eigenen an und gibt sich als seinen Vater aus. Manfredi ist Krämer von Beruf. Er ist ein Illiterat, hat nur Rechnen gelernt. Als Krämer hat er es dennoch geschafft, sich in Amerika durch mehrere Läden einen Namen zu machen. Verkauft werden viele italienische Produkte.

Pietro ging hingegen die Ehe mit Anita ein, die zur selben Zeit schwanger wurde wie Giulia. Beide junge Frauen fühlten sich zu Pietro hingezogen, nur wusste die ahnungslose Giulia dies nicht.

Als sie wortlos verschwand und sie nicht wiedergefunden werden konnte, plagten Anita und Pietro stille Schuldgefühle.

 Auch Anita bringt einen Sohn zu Welt, der den Namen Nico erhält ...

Ihren Mann Pietro verliert Anita im Zweiten Weltkrieg. Später auch ihren Sohn, indem er von deutschen Soldaten tödlich verletzt wurde.

Giulia ist aber durch die Flucht auch der Armut und der harten Arbeit entronnen. Sie stammt wie viele ihrer Landsleute aus ärmlichen Verhältnissen, die weder lesen noch schreiben konnten. Die Reichen im Land übten Druck auf die Kleinen aus und ließen für einen Hungerlohn für sich arbeiten. Trotz der Schulpflicht wurde Giulia nach drei Grundschuljahren von der Bildungseinrichtung genommen, um zusammen mit ihrer Mutter in einer Seidenspinnerei zu arbeiten. Durch die Ausbeutung der Arbeitskräfte sind die Menschen unzufrieden und es kommt zu schweren politischen Unruhen und Krawallen. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Freiheit und Gleichheit, nach Barmherzigkeit ist groß, wofür die Menschen bereit waren zu kämpfen…

Giulia fragt sich häufig, ob sie mutig war, einfach auszubrechen oder war sie nur zu feige, ihre Konflikte zu klären und auszutragen?

Nach über vierzig Jahren kehrt Gulia mit ihrem erwachsenen Sohn Michele für drei Wochen nach Piemont zurück und hofft, ihre Mutter, Pietro und Anita wieder zu sehen … 

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren recht viele Szenen, die mich beim Lesen sehr traurig und nachdenklich gestimmt haben. Ich entscheide mich für drei folgende Episoden, die ich hier gerne niederschreiben möchte.

Episode 1- Giulias Bruch mit ihrer Nation und der Mutter
Sehr traurig fand ich den plötzlichen Abbruch Giulias zu ihrer Mutter. Giulia selber ist mit ihrem Gewissen geplagt, weshalb sie nie den Namen ihres Mannes hat annehmen können. Sie trug auch nach der Heirat noch ihren Mädchennamen Giulia Masca.

>Ich bin nicht du, Mama< Hat sie es deshalb nie geschafft, sich ganz als Giulia Manfredi zu fühlen, oder auch einfach als Giulia? War sie zu sehr damit beschäftigt, mit Assunta zu streiten, sogar aus 6500 km Entfernung? Zu viel Wut. >Mama, hörst du mich? Ich bin nicht du!< (2019, 193)

Giulia hatte versucht, von Amerika aus erneut Kontakt zur Mutter aufzunehmen, hat ihr ein Foto ihres Sohnes geschickt, eine Einladung und Geld, damit sie sie in Amerika besuchen könne. Assunta Masca war so gekränkt, dass sie die Briefe unbeantwortet ließ, sie nahm lediglich das Geld heraus, um damit für ihr späteres Begräbnis zu sparen.

Im Laufe der Jahre musste die mittlerweile Identität geplagte Amerikanerin erkennen, dass ihre Mutter einen harten Überlebenskampf führen musste. Giulia begann zu verstehen, dass die Mutter keine böse Natur war, sondern nur arm.

Assunta hat getan, was sie konnte, das weiß Giulia jetzt. Es gibt keine Rechnungen zu begleichen, es gibt nichts zu verzeihen. Alle tun wir unser Bestes. (514)

Einen schönen Satz hat Romagnolo geschrieben, den ich unbedingt festhalten möchte, der allen anderen Familien Mut machen soll: Familie heißt, füreinander da sein. Leider finden die meisten Zerwürfnisse ganz besonders in Familien statt, die häufig bis zum Tod unversöhnt bleiben, wie ich dies aus meiner psychiatrischen Berufspraxis von meinen Klient*innen heraus kenne und erfahren habe. Auch die Seniorenheime sind voll von alten Menschen, bei denen der Kontakt von den Kindern aus unterschiedlichsten Gründen abgebrochen wurde, und so vereinsamen die alten Leute vor sich hin. Ebenso im Freundeskreis gibt es Fälle dieser Art.

Episode 2 – Libero Manfredis depressive Krise
Giulias Mann sollte einberufen werden, der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen. Libero Manfredi bestand die medizinische Untersuchung nicht, da er Analphabet war und wurde als imbezil eingestuft. Er wurde dadurch ausgemustert und wieder zurückgeschickt. Er fiel in eine schwere depressive Krise, lag apathisch im Bett, verlor jegliches Interesse am Leben. Giulia ging das sehr nahe und meinte, dass niemand das Recht habe, einfach stehen zu bleiben, „denn Gehen heißt Leben“. Gehen heißt Leben und das Beste aus seiner Lage machen …

>Niemand hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben, nicht wahr, Miss Liberty?< (131)

Keine Wertschätzung vonseiten Amerika, das bekannt ist als das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten, wofür die Freiheitsstatue steht, vor der Giulia ihren Gedanken nachgeht. Dass Manfredi trotz der Bildungsarmut dennoch ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde, galt in Amerika nicht als nennenswerter Erfolg.

Episode 3 – Pietro Ferro im Krieg
Pietro ist im Krieg und ist kriegsmüde und sehnte sich nach seiner Frau Anita. Er möchte ihr einen Brief schreiben, und es fehlen ihm aber die richtigen Worte. Es fällt ihm schwer, ihr zu schreiben, wie es ihm wirklich geht, wie schrecklich dieser Krieg doch sei. Er möchte seine Frau nicht beunruhigen. Im Graben liegt ein toter deutscher Soldat. Pietro findet bei ihm einen Liebesbrief an dessen Frau. Er ist angetan von seinen Worten und möchte am liebsten diesen Brief stehlen und seiner Frau schicken. Aber da stehen auch Worte von Vaterlandsliebe, die Pietro am liebsten auslöschen würde, da er dieses Gefühl selbst nicht kennen würde.

Diese Episode hat mich tief berührt, dass der italienische Soldat betäubt vom Krieg einen Brief stehlen wollte, die Worte stehlen, die der deutsche Soldat an seine Frau gerichtet hatte. Und die These zur fehlenden Vaterlandsliebe, wo doch viele hier denken, dass die Italiener*innen alle stolz auf ihr Land aufsehen, was aber in Wirklichkeit nicht stimmt. Weiter unten habe ich geschrieben, warum die Italiener*innen Identitätsprobleme haben. Nicht nur wegen der schwachen italienischen Regierung seit eh und je …

Welche Szene hat mir gefallen?

Es gibt zwei Episoden angelehnt an Zitate …

Episode 1 – Giulias Schulerfolg – Die Anerkennung ihrer Familie

Am letzten Schultag stehen sie alle beide draußen. Er nüchtern, rasiert, in sauberem Hemd, sie im Sonntagskleid, mit glänzenden Stiefelchen und einem Schildpattkamm im Haar. Es sind noch andere Eltern da, wegen der Zeugnisse. Sie setzten sich zu dritt auf die Stufen, Giulia in der Mitte. Sie liest ihnen vor: Drei, Zwei, viele Einsen, doch die beiden sahen sie zweifelnd an. 

In dem Augenblick tritt Primo Leone mit Anita an der Hand zu ihnen. Er will die Noten sehen, wirft einen raschen Blick darauf, macht große Augen, um sie zu belustigen, und drückt ihr zum Schluss die Hand, wie es unter den Großen Brauch ist: >Meine Hochachtung, Signorina Masca. Sogar in Rechnen eine Eins!<

Die Piazetta leert sich, auch der Herr Lehrer (…) geht davon, nickt ihrer Mutter zu und zieht vor dem Vater den Hut. Als sie allein sind, holt Erminio Masca ein größeres Päckchen aus der Tasche. >Zur Feier des Tages<, sagte er. >Du kannst doch so gut rechnen, teil es gerecht auf.<

Auf ihren Knien faltet Giulia das Päckchen auseinander und zählt im Kopf siebenundzwanzig glasierte Haselnüsse. Dann sagt sie ganz leise, als wäre der Lehrer noch dabei: > ja, ist teilbar<, und macht drei Häufchen von je neun. Sie ist so aufgeregt, dass sie nicht einmal herausbringt: > Bitte sehr, nehmt Euch.< Sie blickt auf das greifbare Ergebnis aus Zuckerglasur, mustert aus dem Augenwinkel die gerade Linie des frisch gestutzten Schnurrbarts ihres Vaters und die Handschuhe, die die Mutter aus der Kommodenschublade gefischt hat, um ihre verunstalteten Finger zu verbergen: (Die Finger waren durch die harte Arbeit in der Seidenraupenspinnerei entstellt, Anm. d. Verf.) Sie möchte für immer so bleiben, in diesem Augenblick vollkommenen Glücks, während die Menschen, in ihre Geschäfte und Gedanken vertieft, ahnungslos vorübergehen. Doch dann hat Assunta einen Handschuh ausgezogen, Erminio Masca hat sich eine Haselnuss genommen, und alles war zu Ende. (345)

Obwohl die darauffolgenden Sätze den Tod des Vaters ankündigen, woran, ist im Kontext nicht festgelegt, fand ich diese Szene, den Schulerfolg durch die Eltern mitgetragen zu haben, als eine zwar nur kurzlebige Glückseligkeit, dennoch wunderschön. Ich habe noch lange daran gezehrt. Zu schön, sich vorzustellen, wie sich die Eltern für die Tochter rausgeputzt haben. Und dass der eigentlich alkoholisierte Vater doch einen sehr weichen Kern besaß, wie man dies bei vielen männlichen Alkoholikern beobachten kann. Sie trinken aus purer Verzweiflung durch schwierige Lebensumstände, mit denen sie nicht fertig werden. (336)

Episode 2 – Der weinende Arzt und die Vergebung
Doktor Costa muss im Beisein von Anita, die durch die Todesfälle in ihrer Familie schon vorbelastet ist, Pietros älteren Bruder Achille Ferro, der den italienischen Partisanen sich angeschlossen hatte und von den Feinden erwischt und übelst zugerichtet wurde, eine Todesspritze setzen lassen, um diesen von dem Leid zu erlösen, da er nicht mehr zu retten war. Der Arzt konnte auch Anitas Sohn Nico nicht mehr retten, was ihm zu schaffen macht.

>Glauben Sie mir? Sie müssen mir glauben, Anita< Schwarzhemd, Kniehosen. Die Arroganz. Anita bringt keine Antwort heraus.

Der Arzt schlug die Hände vors Gesicht. >Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid<, schluchzte er, und Anita begreift, dass dieses Weinen alles enthält, was der Arzt nicht mit Worten ausdrücken kann: seine Jugend und die von Nico, die Entscheidungen, der Zufall, das Schicksal.

Sie tritt zu ihm, nimmt seinen Kopf zwischen die Hände, und er klammert sich an ihre Rockschöße.

Seine Schultern beben. Sie lässt ihn sich ausweinen, streicht über seine schütteren Haare. Auch Nico wären sie ausgegangen, alle Ferros bekommen früh kahle Schläfen. Sie denkt an die jungen Widerstandskämpfer, zu denen der Arzt nachts hinaussteigt, um sie zu behandeln. Dutzende. Sie denkt an Gatto und an Hamlet. Kleine Tränen der Erleichterung rollen über ihre Wangen. Ihr wird leicht ums Herz, sie fühlt, wie der Hass, der sich in all den Jahren abgelagert hat, sich auflöst, wie angetrocknete Seife und fortgespült wird. Ist das die Vergebung, von der die Pfarrer sprechen? Dieses unvermutete Vermächtnis füreinander, diese Verbindung zwischen dem, der vergibt, und dem, dem vergeben wird? (492)

Welche Figur war für mich Sympathieträgerin?
Am Ende waren es Anita und Giulia, aber auch Giulias Sohn Michael und Libero Manfredi. Auch Adelhaid fand ich sympathisch, die sich als Frau für Politik interessierte. Sie sich in Männerkleidung begab, um für das Land mitzukämpfen. 

Welche Figur war mir antipathisch?
Alfonso Risso, der hinterhältig war und mit einem Fußtritt einen Hund der Leonis getötet hat.

Meine Identifikationsfigur
Es hat lange gedauert, bis ich mich in eine der Figuren habe spiegeln können. Ich sah mich anfangs in Anita, doch erst am Ende war ich mir sicher, dass sie es ist, deren Namen ich hier festhalten möchte. Anita Leone-Ferro.

Cover und Buchtitel
Den Titel Bella ciao fand ich unpassend. Besser finde ich den Originaltitel Destino – Schicksal.


Bella ciao ist nichtsagend, auch wenn der Titel auf der Seite 509 in die Nationalhymne gepackt wird, sodass ich im Internet mir die gesamte Nationalhymne runtergeladen habe, und habe dort allerdings nirgends etwas von „Bella ciao“ entnehmen können. Das Cover von der Büchergilde finde ich etwas zu bunt, aber die Idee, beide Staaten, Italien und Amerika, auf den Kopf zu stellen, soll die Gegensätze aufzeigen, finde ich künstlerisch gelungen, wenn es aber auch viele Gemeinsamkeiten gibt, die man auch mal ruhig in den Fokus hätte rücken können.

Das Cover von Diogenes finde ich für mich ansprechender, wobei die Figur darauf sicher die Hauptfigur Giulia Masca darstellen soll. Aber warum dunkelhaarig? Giulia hat blonde Haare und blaue Augen. Überhaupt fand ich es schön, dass die Figuren im Buch bunt waren, es gab auch Rothaarige. Figuren mit blauen

und grünen Augen, große und kleine Italiener*innen. Warum dürfen Italiener*innen nicht blond … und hellhäutig sein? Warum halten ausländische Verlage so an diese Stereotypen fest? Selbst meine Herkunftsfamilie, die nicht aus dem Norden Italiens kommt, ist bunt gemischt. Viele Blondhaarige, viele mit blauen und grünen Augen, nicht alle haben schwarze Augen bzw. schwarze Haare. Warum darf Vielfalt im Süden nicht sein? Sowohl im Auftreten als auch von der Genetik her werden sie immer als Exoten dargestellt. Ein Schwarz-Weiß-Bild, das ich in meiner Familie nicht bestätigen kann. Hell ist der Norden Europas, dunkel der Süden. Doch auch der Norden ist bunt und ist keineswegs nur hell. Es wird ein Wunschbild kreiert, wie man sich wünscht, wie Menschen aus anderen Ländern auszusehen haben. Und diese Bilder sind fest in den Köpfen der Leser*innen programmiert. Man verbindet damit auch bestimmte Verhaltensweisen, wie z. B. Heißblütigkeit, u. a. negative Attribute.

Verbrecher und Kriminelle werden zum Beispiel meist dunkelhaarig dargestellt. Die Hellen werden häufig als sanft und sensibel beschrieben. Ich bin froh, Romagnolo gelesen zu haben, denn in ihrem Roman gibt es auch weinende, italienische Männer. Selbst in meiner Familie gibt es sehr sensible Männer, die in belastenden Situationen durchaus Tränen vergießen können. Nicht alle sind hart gesottene Machos. Aber will man solche Männer? Hier in Deutschland werden sie als Weicheier beschimpft.

Woher mein kritischer Blick? 
Durch mein Hauptstudium der Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt, als ich damals neben meinen anderen Nebenfächern auch das Fach der Migrationspädagogik mitbelegt hatte, wurde uns Student*innen der Blick geschärft, Bilder in der Literatur, auch durch Wort und Schrift gegenüber den Personenbeschreibungen kritisch anzugehen. Selbst in Schulbüchern ist häufig versteckter Rassismus verbreitet. Kinder werden frühzeitig geimpft, in dem sie Migrant*innen mit bestimmten Mustern im Wir und Ihr-Modus dargestellt bekommen, die zusätzlich ausgrenzende Wirkungen erzeugen sollen. Türken wurden in Schulbüchern häufig der Berufsgruppe Müllabfuhr, Türkinnen waren Putzfrauen, Italiener waren Pizzabäcker, etc. während Deutsche in akademische Berufe gepackt wurden. Dies ist sicher auch ein Grund, weshalb sich keine italienischen Akademiker*innen in Büchern zu Italien finden lassen, die von deutschen Autor*innen geschrieben werden. Es ist schwer, sich mit diesen stereotypen Bildern im Kopf z. B. eine*n italienische Wissenschaftler*in etc. vorzustellen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf den 518 Seiten in drei Büchern mit insgesamt neun Kapiteln gegliedert. In manchen Kapiteln findet man weitere Überschriften, die thematisch aufgebaut sind. Die Erzählform hat reflektierenden Effekt. Außerdem besitzt die Lektüre eine gut verständliche Sprache. Manchmal allerdings bedient die Autorin auch Fäkalbegriffe, die wahrscheinlich gewollt sind, um die Misere Italiens besser verdeutlichen zu können. Für Scheiße hätte man aber auch den Begriff Kot einsetzen können. Hätte für mich denselben Effekt, klingt nur nobler. Aber diese primitiven Begriffe sprengen keineswegs den Rahmen.

Auf der ersten Seite schenkt uns die Autorin zwei wunderschöne einleitende Verse zu ihrem Roman.

Auch findet man zu Beginn jedes neuen Buches einen Stammbaum der Familien Leone, Masca und Manfredi. Separat dazu Namen anderer Figuren. Am Ende des Buches ist eine Anmerkung der Autorin abgedruckt, die beschreibt, wie sie zu ihrem Erzählstoff gelangt ist.

Meine Meinung
Nach dem Ende des Buches weiß ich noch nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen, wie ich zu der Autorin Raffaella Romagnolo stehen soll, die immerzu von Italien spricht, aber die Grenzen bis nach Piemont gezogen sind. Es gibt noch nicht einmal die Hauptstadt Rom, in der von dort aus seit der Staatsgründung von 1861 sämtliche politische Fäden gesponnen wurden. Vor dieser Zeit war Italien in mehreren Staaten gesplittet. Florenz hatte zum Beispiel eine eigene Festung, fremd war jeder, der nicht dieser Bastion angehörte. Durch die gewaltigen Machtkämpfe aus anderen europäischen Länder wie z. B. das Eindringen durch Österreich in den Norden, der Süden wurde sogar von arabischen Ländern fremdbesetzt, haben sich die vielen italienischen Kleinstaaten zusammengetan und gründeten ein großes Staatsgebiet, um sich gegen die Fremdherrschaft oben wie unten besser schützen zu können. Aber eine Liebe zwischen diesen Staaten konnte als ein geeintes Italien nie wirklich erworben werden. Zu groß waren die Vorurteile, zu groß der Ressentiment unter den vielen kleinen Staaten, die zu einem einzigen Volk Italiens hätten zusammen wachsen sollen …

Wenn auf diesen Buchseiten mal über eine Figur aus Süditalien geschrieben wird, dann eher auf eine recht abfällige und rassistische Form durch die Romanfigur Giulia Masca. Es herrschen hier dieselben rassistischen Vorurteile, wie man sie von anderen Ländern zu Italien her kennt. Giulia befindet sich in Manhattan, als sie folgenden Gedanken spinnt:

In der Wohnung im 1. Stock wohnen jetzt acht kürzlich angekommene Kalabresen, vielleicht auch neun, Mrs. Giulia Masca ist sich nicht sicher Sie vermehren sich rasch. Ungebildete Italiener, Analphabeten mit zu vielen Kindern (…), (37).

Klagte sie doch über die Bildungsarmut ihres eigenen Landes, auch ihre Mutter war Analphabetin, ihr Mann Manfredi ist es, hackt sie nun auf die Süditaliener, ohne zu wissen, was das tatsächlich für Leute sind. Das war oder ist sogar noch italienischer Alltag zwischen Nord und Süd und dies hat Romagnolo in dieser einzigen Szene sehr gut darstellen können.

Auch Äußerlichkeiten verwenden Norditaliener*innen dieselben Stereotypen wie die Deutschen. Die Süditalien*innen werden alle als dunkelhäutig und schwarzhaarig abgebildet. Dabei sind sie durch das milde und heiße Klima eher sonnengebräunt.

Auf nur 518 Seiten ein Familienepos über italienische Geschichte zu schreiben, finde ich für jemanden, der sich mit dieser Materie nur wenig auskennt, eine Überfrachtung. Zu große Zeitsprünge hin und her, während Menschen, die in dem Land groß geworden sind und in der Schule italienische Geschichte gelehrt bekommen haben, es sicher leichter haben, sich in dem Buch historisch zu orientieren. Mir hat in der Erzählstruktur mitunter ein Zeitraffer gefehlt. Mitten im Text bekommt man völlig unerwartet mit einer anderen Epoche zu tun und dann wieder mit anderen Figuren aus den verschiedenen Stammbäumen, die aber alle miteinander verbunden waren.

Auf die Weltwirtschaftskrise, die in den 1920er und 1930er-Jahren in Amerika grassierte, so wie auch die Bankenkrisen, die Schuldendeflation … erwähnte die Autorin kaum. Amerika ging es zu dieser Zeit existenziell auch sehr schlecht. Viele Amerikaner*innen nagten ähnlich wie die Italiener*innen am Hungerstuch ...

Das Buch hat dennoch mein Interesse geweckt, dass sich in mir eine innere Lust entwickelt hat, weitere Bücher zur Geschichte Italiens zu lesen. Der italienische Faschismus ist mir durch den deutschen Nationalsozialismus vertraut, aber nicht nur auf Piemont bezogen. Ich habe dazu viele Fachbücher gelesen, aber keine belletristischen Romane, die es in Italien zuhauf gibt, wie ich mir habe sagen lassen. Leider werden zu wenige davon ins Deutsche übersetzt.

Doch im Nachhinein fand ich das Buch sehr gut. Diese Kühle, die die Autorin in die Seelen ihrer Figuren hineingelegt hat, konnte am Ende in Empathie und Menschlichkeit umgewandelt werden. Ich fand das Ende daher richtig genial, das mich sehr tief bewegt hat.

Schützt Bildung vor Armut? In vielen Ländern schon, leider nicht in Italien. In den 1990er Jahren sind viele italienische Akademiker*innen ausgewandert, da sie im eigenen Land keine Arbeitsplätze haben finden können. Die Ressourcen der jungen und gut ausgebildeten Menschen hatte der Staat regelrecht verschwendet, die auch heute noch zu wenig für das eigene Land eingesetzt werden. 

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch die Buchmesse von 2018. Es fand wieder das alljährliche Bloggertreffen durch den Diogenes Verlag statt, das von der Pressereferentin S. B. moderiert wurde. Hier wurden sämtliche Neuerscheinungen für das erste Halbjahr 2019 vorgestellt. Mir war klar, dass ich durch mein Leseprojekt italienische Autor*innen Literatur gesucht habe. Romagnolo kam mir hier sehr recht, da ich mit meinem Projekt noch in den Startlöchern steckte. Entdeckt und fertig gedruckt hatte ich es allerdings etwas später bei der Büchergilde bei meinem Quartalseinkauf. Die Büchergilde bekam eine Lizenzausgabe durch die Genehmigung des Diogenes Verlages, der zuerst die Autorin aufgespürt hatte.

Auch wenn in Amerika von den Medien häufig nur die Glitzerseiten gezeigt werden, gibt es auf Youtube kostenlos einen Spielfilm über die Armut in Amerika zu sehen. Der Film heißt  Im Teufelskreis der Armut. Ich hatte ihn mir vor mehreren Jahren mehrmals angeschaut, noch bevor ich Romagnolo kannte.


Auch in diesem Film wird deutlich, wenn in einer Familie die Existenzgrundlage fehlt, dann geht es um das nackte Überleben, und man einfach nicht die Mittel hat, das Kind (weiter) zur Schule zu schicken. In diesem Film bettelt das Kind regelrecht darum, in die Schule gehen zu dürfen. Aber seht selbst.

Mein Fazit
Ein Buch nicht nur über Krieg und Armut, sondern auch über eine echte Freundschaft mit der Weisheit behaftet, die alles vergibt und nichts vorwirft. Gehen heißt Leben und Leben heißt, das Beste aus seinem Schicksal zu machen. Bella ciao.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte, Spannung
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Elf von zwölf Punkten.

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Familie heißt, füreinander da sein.

Niemand hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben.
Gehen heißt Leben.
(Raffaella Romagnolo)

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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)