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Montag, 13. September 2021

Amélie Nothomb / Klopf an dein Herz (1)

Bildquelle: Pixabay
Nichts ändert sich, bis man sich selbst ändert. 
Und plötzlich ändert sich alles.
(Verfasser unbekannt)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Zwei Mal habe ich das Buch gehört und einmal gelesen. Als ein Buchstaben – Junkie überwiegt bei mir das geschriebene Wort, an dem sich meine Gedanken orientieten und anlehnen können, ohne das Gefühl zu bekommen, ins Leere zu denken und zu deuten. Das Gehörte verflüchtigt sich so schnell in Richtung Nirwana

Das Buch ist sehr eindrucksvoll geschrieben. Im Brennpunkt steht das Schicksal zweier Familien, die mich sehr zum Nachdenken bewegt haben. Menschliche Probleme hinter Fassaden gepackt, bis sie einen Menschen treffen, der diese zum Bröckeln bringt.

Profane Themen wie Eifersucht und Konkurrenzdenken dominieren hier die Familiendramatik.

Ich wollte eigentlich auf alle Punkte eingehen, die mich beschäftigt haben. Aber das ist ja unmöglich. Schon alleine den Fokus auf eine einzige Figur zu setzen, würde sämtliche Seiten füllen, sodass auch dieser Punkt von mir nur fragmentarisch angerissen werden kann. Innerlich ist so viel los, dass ich es schade finde, die Figuren nur auf ihre Fakten zu reduzieren. Das liegt mir nicht. Denn es sind die vielen subtilen Vorgänge, unsichtbare Kräfte, die sich erst zu Fakten entwickeln. Fakten sind endgültige und abgeschlossene Prozesse, diese man am Ende einer Entwicklung erst abrufen kann. Diese feinen Mechanismen dagegen sind leise, aber dennoch sehr kräftig und brodelnd in der Auswirkung, die sich unbewusst und heimlich im Dunklen der Seele ganz selbständig abspielen und sind daher erst nicht seh- aber spürbar für einen selbst und aber auch für feinfühlige Menschen wie die junge Diane in diesem Buch.

Ich schaue während des Schreibens, welche Mitte und welchen Kompromiss ich mit meinen inneren Ideen schließen kann. Eigentlich ist die Hauptfigur Diane aber die beiden Mütter Marie und Olivia, die dermaßen krankhafte Züge aufweisen, dass ich verstehen möchte, warum sie sind, wie sie sind; welche psychische Kausalität sich dahinter verbirgt, zwingen mich zur näheren Betrachtung und zu einer kleinen Analyse. Sicher hat das wegen der ungleichen Geschlechterrollen auch seine Gründe, aber irgendwie nicht wirklich überzeugend genug, wie sie im Buch stellenweise nur kurz angedeutet wurden.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Marie wird mit 19 Jahren schwanger, noch ehe sie die Jugend hinter sich gebracht hat. Sie heiratet daraufhin den sanftmütigen Sohn eines Apothekers namens Oliviere. Marie flüchtet während ihrer Schwangerschaft in eine Depression. Schläft viel und tut nur das Notwendigste, bis Diane geboren wird. Der Vater Oliviere verliebt sich in sein erstes Töchterchen, während Marie Diane ablehnt, der sie unbewusst die Schuld für ihre verlorene Jugend gibt. Marie hatte sich eigentlich auf das adulte Leben gefreut, frei sein von ihren Eltern, frei von ihrer älteren Schwester Brigitte, die es geschafft hat, die gesellschaftlichen Normen und die Vorstellungen der Eltern zu erfüllen. Glückliche Ehefrau und Mutter von zwei Kindern.

Marie wollte ihre eigene Geschichte kreieren und nach ihr leben. Sie wollte etwas ganz Besonderes aus ihrem Leben machen. Anders werden als ihre Schwester. Sich von den Träumen ihrer Schulkameradinnen abheben:

Wenn die Mädchen im Unterricht über ihre Zukunft sprachen, lachte Marie heimlich über sie. Ehe, Kinder, Haus - das war ihnen genug? Wie dumm, seine Hoffnungen in Wörter zu packen, noch dazu in so klägliche. Marie gab ihrer Erwartung keinen Namen, sie genoss das Grenzenlose daran. (2019, 7)
Diane spürt die Ablehnung ihrer Mutter, die unbewusst mit ihrer Schönheit konkurriert. Schon als Säugling brillierte sie damit, angeblich noch schöner als die Mutter selbst es war, wie die Großeltern ihr dies (vielleicht scherzhaft) ausdrückten. Scherz hin oder Scherz her, für Marie waren diese Kommentare todernst.

Zwei Jahre später wird ihr Bruder Nicolas geboren, und im Alter von fünf Jahren bekommt sie eine Schwester namens Célia.

Célia wird vor Dianes Augen von der Mutter mit symbiotischer Liebe regelrecht überschüttet, von der sie sich wiederum erdrückt fühlt. Sie verbrennt innerlich schon fast in der Hitze an mütterlicher Liebe, während Diane das Gegenteil erfährt und zu erfrieren droht, würden die Großeltern und der Vater nicht für Ausgleich sorgen. Doch Cécilia erleidet durch diese übertriebene mütterliche Fürsorglichkeit ein seelisches Trauma, das fatale Folgen nach sich zieht.

Diane findet Zuflucht bei ihren Großeltern mütterlicherseits, die ihr die Liebe geben, die sie von der Mutter nicht bekommen kann. Die Großeltern kommen allerdings durch einen tragischen Verkehrsunfall ums Leben, als Diane zwölf Jahre alt ist. Sie verkraftet die Todesnachricht nicht, erlebt einen massiven seelischen Zusammenbruch und wird in eine Klinik eingewiesen ... Als sie Wochen später wieder zu Kräften kommt, kehrt sie nicht wieder nach Hause zurück. Die Familie ihrer besten Schulfreundin Elisabeth Deux nimmt sie bei sich auf und behandelt sie wie ein echtes Familienmitglied.

Die hochbegabte Diane geht nach der Schule an die Universität mit dem Ziel, Kardiologin zu werden. Dass sie die Herzen der Menschen retten möchte, ist kein Zufall …

An der Universität lernt sie die 43- jährige Dozentin Olivia Aubusson kennen. Olivia ist Doktorandin der Kardiologie.

Zwischen Diane und Olivia entwickelt sich trotz des großen Altersunterschieds und der unterschiedlichen Rollen eine außergewöhnliche Freundschaft.

Die Freundschaft ist dermaßen außergewöhnlich, dass die studentische Diane es ist, die der Dozentin zu einer Habilitation verhilft ... Zu einem Professoren - Titel hatte Olivia es bisher abgesehen. Ihre Kollegen bezeichnete sie alle als Nullen. Später stellt sich heraus, weshalb sie den Titel selbst nicht angestrebt hatte …

Diane lernt Olivias dreiköpfige Familie kennen. Ihr Mann, Stanislaf, theoretischer Mathematiker von Beruf, und die zwölfjährige Tochter namens Mariel, die unter einer massiven seelischen Vernachlässigung leidet. Auffällig ist vor allem, dass Mariel trotz hochbegabter Eltern schlechte Schulnoten nach Hause bringt, und die Eltern nichts dagegen tun ... Eine besondere Beziehung entsteht dadurch zwischen Diane und Mariel, was Olivia durch ihre Eifersucht ein Dorn im Auge ist.
In dieser Familie scheint sich in Diane ein seelisches Trauma zu wiederholen, sie aber Zeit benötigt, bis ihr die vielen Facetten dieser Familie bewusst werden, vor allem die der mittlerweile zu einer Professorin aufgestiegenen Olivia, die plötzlich durch ihre bestandene Habilitation ganz andere Seiten von sich gibt.

Diane stürzt sich in Arbeit, um dieses Trauma mit der eigenen Mutter durch Olivia und Mariel nicht noch einmal spüren zu müssen ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren eine ganze Menge, das ganze Buch ist voll davon, und ich aufpassen muss, das Menschliche nicht aus den Augen zu verlieren mit meinem häufig perfektionistischen Anspruch auf Gerechtigkeit und Humanität.

Dass Marie mit 19 Jahren schwanger wird und sich dieses Ereignis später durch die jüngste Tochter wiederholt, lässt moralische Rätsel aufkommen. Mit 19 Jahren der 1970er-Jahren ist man eigentlich sexuell aufgeklärt genug, um eine Schwangerschaft verhindern zu können. Cecilia beginnt denselben Fehler 19 Jahre später, wobei ich mich hier frage, ob Celias Schwangerschaft unbewusst nicht auch gewollt ist, um sich an die Mutter zu rächen, denn sie gibt ihren Säugling bei ihr ab und verschwindet aus deren Leben.

Schwierige Konstellation, da erneut auf Kosten eines unschuldigen Wesens Konflikte ausgetragen und gerächt werden.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Das war der Schluss, der „süßeste“ Anteil von allen.

Doch eine von vielen anderen besonderen Szenen fällt mir noch ein: Als Diane in einer Auseinandersetzung mit Olivia Größe gezeigt hat, in dem sie sich von ihr nicht hat unterkriegen lassen, und sie sich dadurch selbst treu geblieben ist. Es entwickelte sich in Diane ein Selbstlösungs- und Heilungsprozess, durch die intensive Selbstreflektion, um auch aus Olivias Fehlern zu lernen:

Bisher war Diane der Meinung gewesen, Verachtung ergebe sich aus der Begegnung mit verächtlichen Menschen, etwa als Olivia zu Recht über den Dünkel der amtierenden Professoren gespottet hatte, bevor sie zu deren bester Freundin wurde, kaum dass sie selbst in die höhere Kaste aufgestiegen war. Jetzt wurde ihr klar, dass Olivia grundsätzlich auf andere herabsah. Verachtung lag ihr im Blut, sie suchte nach Objekten dafür und fand sie ganz leicht: dumme oder kranke Menschen, sogar ihre eigene Tochter. >In Zukunft gehöre ich bestimmt auch dazu<, dachte Diane bitter. (143)

In einer anderen Auseinandersetzung strafte Olivia Diane ab, indem sie ihr Hausverbot erteilte und auch den Kontakt zu Mariel verbot. Als Diane keinen Versuch mehr wagte, auf Olivia zuzugehen, war es Olivia, die es mit einer E-Mail tat und eine Lesebestätigung eingefordert hatte. Diane ließ die E-Mail kalt.

Und sie kannte Olivia gut, um zu wissen, wie rasend sie das machen würde.

Und denkt dabei an das Zitat von Gustave Flaubert:

>Nur die Dummheit verlangt nach einem Abschluss< (...). Das lässt sich am besten daran erkennen, dass der Dumme im Streit stets das letzte Wort haben will. (145)

Etwas traurig zurückgelassen hat mich diese Szene schon, denn Konflikte in einer Freundschaft sind natürliche Prozesse, die bei konstruktiver Auseinandersetzung befriedet werden können. Aber einer Freundin eine Chance zu geben, die durch und durch nur selbstsüchtig ist und damit sogar ihr eigen Fleisch und Blut geschadet hat, solche Menschen entpuppen sich zu einzigen Kraft- und Zeiträubern, wenn kein Ziel dahintersteckt, an den eigenen Defiziten zu arbeiten.

Diane hat den Absprung geschafft, ihren eigenen Weg gefunden und ihr Hauptziel erlangt, Medizinerin zu werden, um die Herzen der Menschen zu heilen. Denn das Herz ist nicht nur als Motor für den Körper das wichtigste Organ. Seelisch betrachtet sind die wahren Lösungen genau dort zu finden, die zur Problembewältigung beitragen können und der Mensch viel zu wenig auf seine innere Stimme, auf sein Herz hört.
Das fand ich grandios

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Diane.

Welche Figur war mir antipathisch?
Olivia und Stanislaf.
Sie bekommen ein Kind, weil die Gesellschaft das von ihnen erwartet, vor allem von Olivia, weil sie eine Frau ist. Beide Eheleute vernachlässigen das Kind, weil sie die Wissenschaft vorziehen, aber bei Olivia ist es noch mehr als bei Stanislaf. Sie ist selbstsüchtig geworden und das nicht erst seit ihrer Habilitation von einer Doktorandin zur Professorin avanciert. Stanislaf ist auf seine Weise auch selbstsüchtig, er scheint seine mathematischen Konstrukte mehr als die Tochter zu lieben. Verglichen zu Marie hätten sie mit ihrem Wissen, das sie haben, einen (jungen) Menschen nicht schaden dürfen, denn was aus Mariel wird, ist am Ende ihrer Kindheit mehr als tragisch.

Die Eltern besitzen so viel Intelligenz, die angeblich dennoch nicht ausreicht, sich gegen gesellschaftliche Konventionen zu stellen. Marie war erst 19 Jahre alt, als sie schwanger wurde, Olivia dagegen über 30, ihr Mann über 40, der das Kind gezeugt hatte. Mir ist das wichtig, nicht nur die schwangere Mutter zu erwähnen, die meist als die Alleinschuldige angeprangert wird, während man den Erzeuger häufig dabei außen vor lässt.

Bei Marie war es dagegen jugendlicher Leichtsinn, bei Olivia und Stanislaf eine bewusste Familienplanung.
Dianes Großeltern waren mir viel zu seicht. Auch Dianes Vater war zwar sanftmütig, aber er blieb genauso auf der Oberfläche haften, hinterfragte nie ernsthaft, was Diane so quälte, als sie z. B. nach dem Klinikaufenthalt in eine andere Familie zog.

Meine Identifikationsfigur
Diane, die sehr reflektiert ist und es immer wieder schafft, hinter die Fassaden ihrer Mitmenschen zu schauen, um das Konfliktmuster zu ergründen, um letztendlich den Knoten zu lösen, der zu ihrem Knoten geworden ist ... Sie ist Mensch geblieben und hat es geschafft, sich von den intellektuellen Dünkeln zu lösen, wenn man bedenkt, dass sie mit 27 Jahren selbst schon Dozentin war. Sie löste sich vor allem von Olivia und verkündet ihr, von der Universität in die Praxis zu gehen, um die Herzen der Menschen zu heilen, die aus Olivias Sicht zum Großteil aus übergewichtigen dummen und krankheitsuneinsichtigen Patienten bestehen würden. Das war Dianes erster Abnabelungsprozess von Olivia.

>>Du wirst noch deinen Studenten nachweinen, Mädchen! (...) . Noch bist du unter den intellektuellen. Aber du wirst die Herzpatienten kennenlernen: in neun von zehn Fällen kommt ihr Problem daher, dass sie zu fett sind, und deine ärztliche Tätigkeit wird darin bestehen, Ihnen eine Diät zu verschreiben. Wenn du ihn empfiehlst, auf Butter zu verzichten, werden sie dich anglotzen, als ob du sie ermorden wolltest. Und wenn sie nach drei Monaten wieder kommen und du dich wunderst, dass sich überhaupt nichts verändert hat, werden sie ohne Gewissensbisse lügen: > ich verstehe das auch nicht, Frau Doktor, dabei habe ich mich genau an ihrer Anweisung gehalten!< Kardiologie als Forschungsgebiet ist etwas Edles; als Ärztin hast du es jedoch mit Schweinen zu tun.<<  (140f)

Cover und Buchtitel
Ein wundervoller Titel, der 150 % zur Thematik passt. Ich 
musste dieses Zitat in meine Signatur aufnehmen, so wunderschön ist es.

Das Bildmotiv ist hübsch, aber viel zu erotisch für eine junge Frau, die ihr Leben nicht auf Männer und Sexualität ausgelegt hat. Habe es daher nicht unbedingt als passend empfunden. Als Botschaft allerdings, dass eine Frau mehr schön als klug sein soll???, hm, wenn dies die Botschaft sein soll, dann hätte diese mehr im Kontext herausgearbeitet werden sollen.

Zum Schreibkonzept
Auf den 151 Seiten sind die beiden Familiengeschichten in mehreren kurzen Kapiteln gesplittet. Es gibt keine numerische Chronologie, dennoch gut zusammenhängend narrativ gegliedert. Flüssiger Schreibstil vorhanden.

Meine Meinung
Diese Geschichte hat mich lange beschäftigt, vor allem die Probleme der Protagonistinnen. Aus beiden Familien der Hauptfiguren gehen keine existenziellen Nöte hervor, und dennoch wurden die Seelen junger Menschen gebrochen. Hintergründe waren wiederholte narzisstische, egozentrische Motive wie Eifersucht und Konkurrenzverhalten. Aber ein Mensch kommt nicht narzisstisch auf die Welt. Was hat ihn zu dem gemacht? Was war in Maries Kindheit los, dass sie so sehr auf banale und oberflächliche Äußerlichkeiten bedacht war? Von ihren eigenen Eltern geht nicht viel hervor, außer:

Am meisten aber verletzte sie die große Liebe ihrer Eltern für Diane. >>Dein Kind ist ja noch hübscher als du, alle Achtung!<<, sagte ihr Vater. (17)
Dass Menschen oberflächlich sein können, die meisten sind tatsächlich sehr stark nach außen orientiert, ist bekannt, aber das alleine reicht nicht aus, um die Seele eines Menschen dermaßen zu zerstören, dass sie symbolisch gedacht nicht lebensfähig ist. Hierbei muss schon mehr passiert sein, aber ich konnte keine weitere Textstelle finden, die darauf hinweist. Dass die Großeltern in den Enkelkindern sich als die besseren Eltern darstellen, als sie zu ihren eigenen Kindern waren, ist bekannt und auch erklärbar. Aber wie soll ich mir Maries Kindheit vorstellen? Ist sie permanent mit der älteren Schwester verglichen worden? Ging es hier immer nur um äußere Werte, mit denen man sich die Liebe der Eltern hat erkaufen können oder müssen? Das ist die einzige Erklärung, die ich habe finden können, um Maries gestörtes Seelenleben zu verstehen, das sie hauptsächlich auf ihre beiden Kinder Diane und Cécila, beides Mädchen, überträgt. Der Bruder Nicolas hat es am besten von den drei Geschwistern gehabt und hat ein normales und ein psychisch unauffälliges Leben führen können.

Maries Idealismus`, etwas Besonderes werden zu wollen, das dem symbolischen Bild einer Göttin gleicht, sonst konnte ich keine anderen Werte finden, ist aus meiner Sicht realitätsfremd, woran man einfach zerbrechen muss, weil man dieses Ziel niemals erreichen kann. Ihre Träume waren irgendwie inhaltsleer und unreif ...

Viel nachgedacht hat sie nicht, weint ihrer verlorenen Jugend nach, wobei man mit 19 Jahren trotz der Jugend erwachsen ist und man in diesem Alter weiß, dass die Babys nicht von Störchen geliefert werden.

Eifersüchtig auf Diane, die nicht geliebt hätte werden sollen, selbst vom eigenen Vater nicht?

>>Meine Hübsche, mein Schatz, mein Glück!<<, rief er und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Er bemerkte nicht, dass Marie daneben erbleichte. (19)

Konkurrenzdenken auch während ihrer Heirat:

Der Hochzeitsgesellschaft gefiel das junge Paar. Deshalb fand Marie trotz intensiver Suche in keinem Gesicht den Ausdruck des Neides, der ihr das Gefühl gegeben hätte, dass dies der schönste Tag ihres Lebens war. Sie hätte sich ein rauschendes Fest gewünscht mit massenhaft Gaffern, missgünstigen Lästermäulern und eifersüchtigen Mauerblümchen, die mürrisch auf ihre Robe schielte. Peinlicherweise hatte sich mit dem Hochzeitskleid ihrer Mutter begnügen müssen. (11)

Ihre eigene Mutter wundert sich über die Eifersucht zu Diane und gibt eine oberflächliche und nüchterne Erklärung ab:

Brigitte hätte Grund gehabt, eifersüchtig zu sein auf ihre kleine Schwester, die viel hübscher war als sie. Aber sie war es nie, sondern Marie war es. Ich dachte, das Problem hätte sich nun bei ihr erledigt. Immerhin wurde sie zur schönsten Frau der Stadt und hatte eine großartige Hochzeit. Aber nein! Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie eifersüchtig sie auf ihre Tochter ist. (22)

Eine absolut banale und eine sehr beschränkte und wenig kluge Sichtweise. Wenn Marie als kleines Mädchen in ihrer Eitelkeit wegen der Schönheit von den Eltern noch bestärkt wurde, ihr aber keine anderen Werte vermittelt wurden, somit wird Maries krankhafter Narzissmus deutlich. Die Werte einer Frau waren auf Schönheit, Ehe, Familie gelegt. Andere hat sie möglicherweise nicht vorgelebt bekommen. Es dreht sich alles nur um Maries Schönheit. Nirgends eine Textstelle, worüber sich die Eltern über Marie noch hätten erfreuen können. Vielleicht wegen guter Leistungen in der Schule, oder weil sie musische Begabungen hat, oder wegen besonderer Charaktereigenschaften, die sie ausgezeichnet hätte; nein, nichts dergleichen. Alles dreht sich nur um die Schönheit.

Auf der Seite 25 wird Marie von ihrem Mann in die Buchhaltung geführt, und Marie entwickelt erst dann ein besonderes Interesse für Zahlen,

(…) sobald sie Geld darstellten. Denn Geld hatte die grandiose Eigenschaft, Neid zu erwecken. Marie merkte schnell, dass sie davon mehr besaß als der Durchschnitt der Stadtbewohner, und jubiliert innerlich. Sie wusste natürlich, dass man nicht zeigen durfte, wie sehr man es liebte. Und das steigerte wiederum die Lust. (25)
Die Großmutter offeriert Diane eine Erklärung für das lieblose Verhalten der Mutter:
>>Deine Mutter ist nicht böse, mein Engel. Sie ist nur eifersüchtig. So ist das einfach, und du kannst nichts dafür, so war sie schon immer. Verstehst du, was eifersüchtig heißt?<< (30)

Diane muss noch viele Jahre älter werden, und sie musste Olivia kennenlernen, ehe sie in die Lage kommt, die Haltung ihrer eigenen Mutter zu verstehen, auch wenn sie am Ende nur triviale Erklärungen findet.

Summa summarum
Beide Familien gegenübergestellt: Marie scheint aus einem einfacheren und bildungsärmeren Elternhaus zu kommen, während Mariels Familie, Tochter von Olivia und Stanilslaf, das totale Gegenteil bildet. Man könnte sagen, dass Maries Eltern es aus Unwissenheit nicht hätten besser machen können, als die Mädchen nach traditionellen- und gesellschaftlichen Maßstäben zu erziehen, während Mariels Eltern alles Wissen zur Verfügung hatten und zerstörten dennoch ihre kleine Seele, weil der Vater besser mit Zahlen umzugehen weiß und die Mutter ähnlich wie Marie narzisstisch geprägt war. 

Nun, mit für mich dieser vierten Auseinandersetzung, zwei Mal hören, einmal lesen und einmal schreiben, hat mich die Dramatik dieser Familiengeschichten dennoch nicht ganz überzeugen können. Man bekommt hier in Marie und Olivia fertige Psychen geliefert, deren Hintergründe, zumindest bei Marie, mir definitiv zu flach gewesen sind, trotz ihrer einfachen Herkunft.

Aber mehr gefallen hat mir auf jeden Fall die Geschichte mit Olivias Familie, die bessere Hintergründe hat liefern können, als es in Maries Familie der Fall war. Wobei ich im Gegensatz zu Marie gar nichts über Olivias Kindheit habe in Erfahrung bringen können. Ihre infame Charakterschwäche zeugt eines selbstgeschaffenen Defizits über die Selbstsucht nach Geltung und Prestige, hierbei müssen nicht immer die eigenen Eltern dafür verantwortlich gemacht werden. Schon gar nicht in diesem Alter. Deshalb hat mich ihre Geschichte eher überzeugen können, während Maries Herkunftsfamilie mich trotzdem noch mit Rätseln zurückgelassen hat.

Mein Fazit
Dennoch ein sehr lesenswertes Buch, das zwar von Tiefe zeugt, aber an vielen Stellen wichtige Details entweder nur kurz angerissen sind oder gänzlich fehlen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch meine Entdeckungsreise, die mich auf das Diogenes- Literatur - Programm geführt hat.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
1 Punkte: Authentizität der Geschichte;
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
1 Punkt: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

9 von 12 Punkten

__________________________

Gelesene Bücher 2021: 09
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich höre: Sten Nadolny /Weitlings Sommerfrische
Marcel Proust: Der geimnisvolle Briefeschreiber
Leo Tolstoi: Wo Liebe ist, da ist auch Gott
Marcel Proust: In Swanns Welt
Rachel Joyce: Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie

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Partnerschaft zwischen
Wissenschaft und Intuition!

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Mitgefühl für alle Mitseelen / Mitgeschöpfe
Deine Probleme könnten meine Probleme sein,
und meine Probleme könnten Deine Probleme sein.
Mein Schmerz, Dein Schmerz
Dein Schmerz, mein Schmerz.
Wir sind alle fühlende Wesen.
(Den Tieren eine Stimme geben)

Klopf an dein Herz, denn dort sitzt 
das Genie!
(Alfred de Musset)

Auch Expertenwissen ist subjektiv!
(Tom Andersen / Psychiater und Syst. Therapeut)


Freitag, 1. Mai 2020

Hendrik Lambertus / Das Erbe der Altendiecks (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Mir hat dieser historische Roman sehr gut gefallen. Obwohl der Band über 600 Seiten umfasst, fand ich ihn nicht übertrieben ausschweifend. Die Uhrmacher-Familiendynastie Altendieck ist mir über mehrere Generationen durch ihre warme Art sehr ans Herz gewachsen, wenn auch deren Lebensläufe besonders am Anfang nicht besonders einfach waren, da ihr Schicksal von bösen Intrigen dominiert und erfasst wurde, und ich die Befürchtung hatte, diese Widrigkeiten würden sich über die gesamte Geschichte hinziehen.

Ich empfehle jedem, der nicht zu viel über dieses Buch erfahren möchte, nur die Handlung zu lesen, oder nur den Klappentext. Ich bemühe mich sehr, nicht zu viel zu verraten, aber es ist schwierig, eine Buchbesprechung zu schreiben, wenn viele Fakten ausgelassen werden, und man nur um den heißen Brei redet, wie man sie so häufig im Netz findet. Aber gerade eine längere Besprechung kann die Neugier und die Aufmerksamkeit im besonderen Maße wecken, wie ich so häufig rückgemeldet bekomme. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Man lernt hier die Familie Altendieck kennen, die 1766 in Bremen in drei Generationen unter einem Dach lebte. Der Uhrenmeister Johann Altendieck ist in den Vierzigern, ist Witwer und alleinerziehender Vater von drei Kindern. Mit im Haus lebt Johanns Vater Nicolaus, der aber aufgrund seines Alters nicht mehr in der Uhrenwerkstatt mitwirkt. Johann und sein Sohn Friedrich stellen Standuhren her und genießen in ihrer Heimatstadt durch ihre Präzisions- und Fleißarbeit einen angesehenen Ruf, bis zu dem Tag, als die neidvolle Konkurrenz Johann Altendieck mithilfe einer bösen Intrige in aller Öffentlichkeit diskreditiert hatte und ihn dadurch in den finanziellen Ruin stürzte. Nun steht Johann vor seiner Familie, die er nicht mehr ernähren kann, da seine Kundschaft ausbleibt. Er schickt seine beiden Töchter Clara und Gescha zum Arbeiten als Dienstmädchen in eine adlige Familie. Clara beugt sich ihrem Schicksal, um dem Vater die Last abzunehmen, der dadurch zwei Familienmitglieder weniger zu versorgen hätte, während Gescha es schwerer hat, denn Gescha ist ein ganz besonderes Mädchen, das eine ganz besondere Bindung zu ihrem Großvater und seinen Uhren hat. Gescha ist anders, sie interessiert sich nicht fürs Kochen, sie interessierte sich für keine Hausarbeit, stattdessen interessiert sie sich für Uhren. Sie will Uhrmacherin werden. Ihr Großvater bringt ihr alles bei, was sie dafür an Kenntnissen und an Fertigkeiten benötigt, wohingegen ihr Vater versucht, ihr diese Hirnspinnerei auszureden, da Frauen angeblich niemals Uhrmacherinnen werden können.

Gescha geht aber ihren Weg, selbst dann noch, als sie den Dienst einer Hausmagd betritt und sie sich mit harten, langweiligen Tätigkeiten abmühen muss. Dennoch schafft sie es, mit viel Unterstützung ihrer Schwester Clara heimlich ein Seechronometer herzustellen, da passable Seeuhren damals noch nicht auf dem Markt waren.

Bis zu fünf Generationen entwickelte sich die Uhrmacherfamilie weiter, die sich trotz harter Umstände nicht hat unterkriegen lassen. In dieser Familiendynastie lebt auch die Standuhr Hora, die auf mich gewirkt hat, als wäre sie beseelt. Mit viel Liebe und Sorgfalt wurde sie hergestellt, gepflegt und bis zum Schluss am Leben erhalten.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren viele Szenen. Neben der Intrige zu Beginn gibt es noch eine Handlung, die ich als sehr, sehr traurig erlebt hatte, ich mich dazu aber bedeckt halten möchte, um anderen Leser'innen nicht zu viel vorwegzunehmen.

Ich greife nun eine Szene auf, die man überall und zu jeder Zeit erleben kann. Eine ganz banale Begebenheit, die ich aber als grausam empfand, als Gesche und Clara durch die Armut gezwungen wurden, Hausrat von ihrer verstorbenen Mutter zu verkaufen. Die Arroganz jener vornehmen Dame, die empathielos in der Wunde der beiden Mädchen sticht, sodass ich mich immer wieder fragen musste, warum Bildung nicht ausreicht, um Menschen zu besseren Menschen zu machen? Reiche Leute verfügten wegen der genossenen Bildung über genug Potenzial, das sie wegen ihrer Eitelkeit aber lieber verschwendeten, als es einzusetzen.
>> Ich suche einige schöne Stücke für meine Tochter Charlotte (…). Möglicherweise nehme ich die Truhe, wenn ich noch etwas dazu finde. … Vielleicht die nette Uhr auf der Diele?<<>> Unverkäuflich<<, knurrte Gesche.
>> Sie hat einen sentimentalen Wert<<, erklärte Clara. Die Ohlandt´sche nickte verständnisvoll. >>Von manchen Dingen mag man sich selbst dann nicht trennen, wenn ein Unheilsstern über der Familie aufgegangen ist. Wirklich furchtbar … <<>> Nicht furchtbarer als in den Angelegenheiten anderer Leute zu wühlen, weil die eigenen zu langweilig sind <<, erwiderte Gesche. Sie hatte plötzlich das Gefühl, am pudrigen Geruch der wehrten Frau Ohlandt zu ersticken. (2020, 141)
Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass Gesche es tatsächlich geschafft hat, den Weg als Uhrmacherin zu gehen. Zu ihrem ersten Chronometer verhalf ihr der Großvater Nicolaus, der erkannte, dass seine Enkelin sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lässt. Sie eröffnet ihm ihre Pläne, als dieser sich danach erkundigt:
>> Hast du konkrete Pläne? <<, fragte der Großvater neugierig.
>> Ich denke, ich werde ein Seechronometer konstruieren <<, erwiderte Gesche halb verlegen und halb trotzig.
>> Das wird gewiss eine reizvolle Übung. <<>> Ich habe nicht vor, nur zu üben <<, erklärte Gesche bestimmt. >> Ich werde ein Chronometer bauen. Ein besseres als alle anderen! Wollen sehen, ob dieses kleine Seefahrtsproblem noch lange besteht … <<>> Daran haben sich schon viele kluge Köpfe vor dir versucht <<, stellte Großvater bedächtig fest.>> Ich will keine neue Methode erfinden, sondern eine Uhr konstruieren, die den Ansprüchen auf See genügt. << Gesche verschränkt die Arme. >> Immerhin bin ich die Tochter von Johann Christian Altendieck, der die große Uhr im Bremer Rathaus gebaut hat. <<>> Und die Tochter von Magdalena Altendieck, die stets alles vollbracht hat, was sie sich in den Kopf gesetzt hat <<, ergänzte Großvater mit der Andeutung eines Schmunzelns.>> Und nicht zuletzt die Enkelin von Nicolaus Christioph Altendieck <<, schloss Gesche ernst, >> der mir alles beigebracht hat, was er weiß. <<>> Dann solltest du es wohl versuchen. << (160)
Mir hat diese Szene so gut gefallen, weil der Großvater so fortschrittlich dachte, indem er seine Enkelin, obwohl sie ein Mädchen war, trotzdem in der Technik jener Uhren gefördert und sie darin gestärkt hatte, ihr Ziel zu verfolgen. Man bedenke, dass sich dies in der Zeit des späten 18. Jahrhunderts abspielte. Auch wenn diese Szene nur ausgedacht ist, glaube ich schon, dass es solche Menschen im Stillen überall auf der Welt gegeben hat. 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Das waren mehrere. Der französische Offizier Laurent de Mondtidier war mir sehr sympathisch, da er nicht wie ein Soldat wirkte. Er wurde durch die Auswirkungen der Französischen Revolution und durch die Napoleon - Kriege im Kampf mit Deutschland ins Ausland versandt. Die besetzten Bremer wurden politisch von den Franzosen gezwungen, in ihren Häusern Soldaten aufzunehmen. Die Altendiecks hatten durch die politischen Auswirkungen selbst nicht genug zu essen, und bekamen nun noch ein Maul mehr zu stopfen. Hierzu Gesches erwachsener Sohn Nicolaus:
>> Wir bekommen eine Einquartierung <<, erwiderte er ein wenig ratlos. >> Ein Offizier, weil wir ihn als wohlhabenden Bürgerhaus standesgemäß versorgen können. Wir haben ihm bei 50 Reichstalern Strafe ein Mittagessen mit Fleisch, ein Abendessen mit Bier und eine tägliche Ration Kornbrand zu stellen. << (392)
Gesche hatte es tatsächlich geschafft, die Werkstatt ihres mittlerweile verstorbenen Vaters zu übernehmen. Auf ihrem Fachgebiet entwickelte sie sich zu einer Koryphäe. Sie bestand auf die Fortführung ihres Mädchennamen Altendiecks. Nicolaus, ihr ältester Sohn, ist allerdings Künstler, und möchte eigentlich kein Uhrmacher werden, doch der autoritäre mütterliche Einfluss lässt keinen anderen Beruf zu, sodass Nicolaus es nicht schafft, sich ihr zu widersetzen.

Als schließlich der französische Leutnant in die Schlafkammer bei ihnen einzieht, findet dieser die Bilder, die Nicolaus gemalt hatte, und ist total angetan von den Gemälden. Später stellte sich heraus, dass auch der Leutnant Künstler ist, und so entsteht zwischen Nicolaus und ihm eine besondere Bindung. Ähnlich wie bei Nicolaus durfte auch Laurent kein Künstler werden, da er vom Vater gezwungen wurde, eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Obwohl beide Länder, Deutschland und Frankreich, gegeneinander verfeindet waren, wurden Laurent und Nicolaus trotzdem Freunde. Mit der Zeit entwickelte sich mehr als nur eine Freundschaft. Das finde ich so schön, dass der Krieg sie nicht zu Feinden gemacht hatte, weil sie zueinander eine geistige Verwandtschaft entdeckt hatten.
>> Das Handwerk Ihrer Familie, << Mondtidier seufzte wissend - so ist es auch bei mir. Die Mondtidier sind Soldaten, seit Jahrhunderten. Wir haben schon den Valois gedient, dann den Bourbonen – erst mit dem Schwert an der Seite in glänzenden Rüstungen, später in der Offiziersuniform. Dann kam die Revolution, unser Schloss wurde niedergebrannt. Und doch erging es uns glimpflich, im Vergleich zu vielen anderen. Aus der Republik wurde ein Kaiserreich, und der Soldat braucht Soldaten für sein riesiges Heer. Alle, die er kriegen konnte, auch die vom Adel der alten Zeit. <<>> Aber Sie sind kein Soldat? << fragte Nicolaus sanft.
>> Es heißt, ich hätte die Hände meiner Mutter <<, erwiderte  
Mondtidier . >> Sie hat mir das Zeichnen beigebracht. Doch mein Vater hält nichts von solchen weibischen Betätigungen, wie er es nennt. Für ihn kam nur die Militärakademie in Frage. (… ) Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen <<, sagte Nicolaus vorsichtig. >> Es fühlt sich … hoffnungslos an. Sich mit einem Platz abzufinden, auf dem man nicht wirklich gehört. << (407f)
Wer konnte Laurent Mondtidier besser verstehen als Nicolaus Altendieck? Sie teilen dasselbe Schicksal und dieselben Interessen.

Welche Figur war mir antipathisch?
In einem historischen Roman bekommt man es mit multiplen Figuren zu tun, und so halte ich mich lieber weiter an die Figuren der Familie Altendieck, weil sie mich so sehr beschäftigt und mir ans Herz gewachsen sind. Und mich beschäftigte Gesche, denn sie entwickelte sich zum Familienoberhaupt und zu einer Matrone, die in ihrem Haus, selbst dann noch, als sie eine alte Dame wurde, über alles wacht, dass ja alles seinen rechten Gang geht. In dieser neuen Rolle hat sie mir nicht gefallen, auch wenn dies eine außergewöhnliche Leistung ist, dass sie sich als Frau so hochgearbeitet und durchgesetzt hat. Selbst wenn die Frau nach dem Gesetz noch rechtlos war, schaffte sie es, sich innerhalb ihrer Familie zu emanzipieren, um in die väterlichen Fußstapfen treten zu können. Für die damalige Zeit war dies eine wahnsinnige Leistung. Aber die mangelnde Toleranz ihrem Sohn Nicolaus gegenüber stieß bei mir auf Unverständnis. Auch sie dachte, was viele damalige Männer dachten, dass Malereien keine ehrbaren Berufe seien, da Gesche die Profession eines Uhrmacherhandwerks an oberste Stelle setzte.

Nicolaus und Laurent hatten gemeinsame Träume, Ziele, berühmte Maler im Ausland zu besuchen. Da beide Länder verfeindet waren, mussten sie ihre Beziehung, auch die freundschaftliche Art, heimlich angehen.
Das waren Träumereien, die im tiefsten Winter begonnen hatten: eine gemeinsame Reise in den Süden, um die alten Meister vor Ort zu studieren – und die blütenferne Fülle der Ferne in sich aufzunehmen.
Folgendes Zitat hat mir besonders gut gefallen:
>> Zwei junge Edelmänner auf der Fahrt zu den Wurzeln der Schönheit <<, hatte Laurent geschwärmt.
>> Oder ein junger Edelmann und sein bürgerlicher Diener? <<, hatte Nicolaus mit einem schiefen Lächeln erwidert.
>> Unsinn, wir teilen den Adel des Geistes. <<
Den Adel des Geistes teilen, das fand ich so schön ausgedrückt, weil dieser über nationale Grenzen und über geistige Schranken hinausgeht.

Meine Identifikationsfigur
Ich habe mich sowohl mit Laurent als auch mit Nicolaus identifizieren können.

Cover und Buchtitel   
Es war das Cover, das mich angezogen hat. Über den Titel musste ich mich erst besinnen, bevor ich den Klappentext gelesen habe. Was könnte sich für ein Genre an Familie dahinter verbergen?, hatte ich mich gefragt, und habe mich auf eine Thomas Mann – Buddenbrook – Geschichte einer anderen Art vorbereitet. Aber außer den Vornamen der beiden Väter Johann konnte ich auf den ersten Blick kaum eine Affinität der beiden norddeutschen Familien entdecken, obwohl es im Nachhinein durchaus ein paar ganz wichtige Parallelen gab. Aber das Schicksal der beiden Dynastien zeigten antagonistische Anfänge und Ausgänge.  

Zum Schreibkonzept
Auf der ersten Seite findet man einen weiblichen Namen, für die das Buch evtl. geschrieben bzw. gewidmet wurde. Auf den folgenden Seiten ist das Inhaltsverzeichnis abgedruckt. Der Romanstoff besteht auf den 637 Seiten insgesamt aus fünf Teilen. Innerhalb dieser Teile finden zeitliche Umbrüche zwischen neun, fünfunddreißig und dreiundzwanzig Jahren statt. Im ersten Teil ist ein Stammbaum der Familie Altendieck abgebildet. Hier besteht die Familie noch aus drei Generationen. Einen weiteren Stammbaum findet man im dritten Teil auf der Seite 330, auf dem der Stammbaum um zwei weitere Generationen zugenommen hat. Die Geschichte endet mit einem Epilog. Auf den weiteren Seiten sind ein Glossar und ganz zum Schluss ein Nachwort zu lesen.

Der Schreibstil ist flüssig, und obwohl das Buch relativ umfangreich ist, ist der Autor nicht ausschweifend gewesen. Das hatte aber auch den Nebeneffekt, dass manche Figuren zu kurz gekommen sind. Ich weiß noch immer nicht, was aus Nicolaus` Bruder Arend geworden ist. Wahrscheinlich als Soldat in Russland verschollen, ohne dass jemals seine Leiche geborgen werden konnte, da im Stammbaum zu Arend kein Todessymbol abgebildet war, was dazu führte, dass ich ähnlich wie Gesche von Seite zu Seite auf seine Rückkehr gewartet habe. Auch Clara geriet in den späteren Teilen immer mehr in den Hintergrund, sie verschwand völlig von der Bildfläche. Aber das fand ich absolut passend.

Wie aus dem Nachwort entnommen wird, gibt es die Altendiecks nur fiktiv. Der Autor hatte allerdings reelle historische Daten in diese erdachte Familie hineingewoben, was mir die Mühe ersparte, mehr über diese Familie im Internet zu recherchieren, da es hier um eine sehr sympathische Familie ging, die selbst in schwersten Zeiten stets zusammenhielt.

Meine Meinung
Der ganze Roman ist sehr authentisch geschrieben, allerdings hatte mich auch das Ende nachdenklich gestimmt. War das Ende zu idealistisch?, habe ich mich gefragt: Ja, das war es, aber mittlerweile kann ich es als gelungen betrachten, da ich die Ausklänge nicht als kitschig erlebt habe. Auch wenn die Realität weitaus härter ist, wenn Generationen an Menschen sich als Konkurrenten feindselig gegenüberstehen, dann finde ich es schön, wenn Autor*innen ihre Figuren bessere Lösungen vorleben lassen, damit diese Feindschaft wenigstens literarisch endlich ein Ende findet. Gesche war eine sehr kluge Frau, aber in dieser Frage ist auch sie gescheitert. Sie hat die Feindschaft unausgesöhnt mit ins Grab genommen, auch wenn ich sie dafür nicht verurteilen möchte, denn sie ist es, die den Schmerz ihres Vaters durch die damalige öffentliche "Blasphemie" seines Berufstandes miterlebt hat.

Auch der historische Part war gelungen dargestellt. Bis in die letzte Generation sehnte sich die Frau nach Gerechtigkeit. Gleichheit, Freiheit … mit diesen Parolen der Französischen Revolution blieben Frauen weiterhin ausgeschlossen. Buchautorinnen mussten unter einem männlichen Pseudonym ihre Werke herausgeben. Auch Gesche musste den Meistern ihr erstes selbsterschaffenes Uhrwerk von einem männlichen Kollegen vorführen lassen. Insgesamt aber, neben den ausbleibenden Frauenrechten, konnte mich das Buch wieder in diese Zeit zurückversetzen, in der es noch keine Demokratie gab und die Menschenrechte lediglich auf die unterschiedlichen Stände verteilt waren, die durch die Geburt bestimmt waren ... Interessant war für mich auch zu lesen, wie und wann die ersten Taschenuhren entstanden sind.

Die Beziehung zwischen Gesches Enkel Ernst und dessen Freundin Anna Greven hatte starke Züge von Romeo und Julia, selbst wenn der Ausgang glücklicherweise ein anderer war.

Mein Fazit
Eine sehr lesenswerte Familiengeschichte, geschrieben von einem männlichen Autor, der sehr feinfühlig sich auch in die Rolle einer Frau hineinversetzen konnte. Dazu noch ein gut recherchiertes Buch, was der historische Anteil betrifft.

Meine Empfehlung?
Eine klare Leseempfehlung. Das Buch sollte unbedingt verfilmt werden. 

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Der Rowohlt – Verlag hatte mir eine Anfrage gestellt, die ich glücklicherweise angenommen habe. Herzlichen Dank an den Verlag für das Leseexemplar.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

________________
Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein klein wenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 10
Gelesene Bücher 2019: 29
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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)

Montag, 20. Januar 2020

Ulrich Ladurner / Der Fall Italien (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Eine andere Form von Buchbesprechung, mehr ein Nachdenken, ein Diskutieren über verschiedene Gedanken und Fakten möchte ich hier hineinbringen, die ich mit Zitaten belegen werde. Ich zitiere nicht nur aus Ulrich Ladurners Buch, sondern auch ein Zitat aus dem Web.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Das Buch hat mich lange beschäftigt und passt wunderbar zu dem Buch, das ich davor gelesen hatte. Ian McEwan, Die Kakerlake. Auch italienische Politiker sind nichts anderes als Kakerlaken. Sie scheinen für mich EU-weit die gefräßigsten Parasiten zu sein. 

Vieles, was der Autor hier in seinem Buch beschreibt, war mir schon bewusst, aber vieles ist mir auch neu, und so konnte mir Ulrich Ladurner zumindest auch die Frage beantworten, weshalb die Italiener wiederholt Berlusconi gewählt hatten. Und weshalb sie nach der Berlusconi-Ära weiterhin auf populistische Parteien zugegriffen haben? Alle Antworten werde ich hier der Länge wegen nicht liefern können, aber zumindest ein paar Anregungen.

Es gibt in Italien derzeit keine anderen Parteien. Der Wolf im Schafspelz, sie alle, die Politiker, versprechen dem Volk ein besseres Leben. Bessere Arbeitsplätze, günstigere Mieten, und wenn sie schließlich gewählt sind, zeigen sie ihr wahres Gesicht.

Ich wusste schon, dass Italiens Regierung korrupt ist, aber ich wusste auch, dass der italienische Mensch nicht die Regierung ist, selbst wenn diese ihre Politiker gewählt haben. Aber es gibt auch in Italien ein sehr differenziertes Wahlverhalten zwischen Passivwählern, Frustwählern, Nichtwählern, Protestwählern etc.

Das Buch hat mich sehr traurig gestimmt, traurig, wie die Gutmütigkeit eines Volkes benutzt und hinters Licht geführt wird, wie mit der Psyche der Menschen gespielt und manipuliert wird. Traurig, dass es keine sauberen Politiker in diesem Land zu geben scheint, keine sauberen Parteien, sodass viele Italiener es leid sind, die Politik meiden und den Zusammenhalt nur noch in der Familie suchen.

Ich habe wirklich die Sorge, dass in Italien erneut der Faschismus ausbrechen wird. Muss ein Krieg kommen, damit das Böse ausgemerzt wird? Das Buch hat mich schon etwas niedergedrückt, aber es beschreibt die Lage, so wie sie ist.

Italien ging es nicht immer schlecht. Italien feierte auch einen wirtschaftlichen und einen sozialen Aufschwung, und zwar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der schnelle Aufstieg Italiens begann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die sechziger Jahre war geradezu ein rauschhaftes Jahrzehnt. Fünfzehn Jahre nach Kriegsende feierte das Land Erfolge auf allen Ebenen. Es begann mit der Olympiade 1960, bei der Italien 13 Medaillen gewann und damit hinter der Sowjetunion und der USA auf Rang drei landete. 1964 wurde die Autostrada del Sole (…) fertiggestellt, die den Norden mit dem Süden verband. (…) Die Wirtschaft boomte, und die Massen konnten sich Konsumgüter leisten. (…) Vergessen waren die Verherungen des Krieges, vergessen die Vereehrungen in den Faschismus. Die Zukunft war ein offenes Feld voller Verheißungen, man musste es nur entschlossenen Schrittes betreten. (2019, 17)

Damals wurden die Politiker noch in die „Schule“ geschickt. Es gab starke Gewerkschaften, große Parteien, eine mächtige Kirche, die ihren Mitgliedern Fortbildungen angeboten hatten, um sie auf die Politik vorzubereiten, doch leider konnte dieser Anspruch auf Dauer nicht aufrecht erhalten bleiben.
Allein zwischen 1945 und 1954 durchliefen 300 000 Mitglieder Ausbildungskurse, die Besten wurden ausgewählt und auf die Parteischule Frattocchie bei Rom geschickt. Aus ihr ging eine Reihe von später bekannt gewordenen Politikern hervor. Die Gewerkschaften hatten ihre eigenen Ausbildungszentren, die ebenfalls viele Persönlichkeiten hervorbrachten, die eine prägende Rolle in der italienischen Nachkriegsrepublik spielten. (18)

Diese stabilen und schönen Zeiten waren nicht von Dauer. In den späteren Jahren wurden die Italiener von ihren Politikern erneut enttäuscht und betrogen. Besonders in der ...
Gegenwart (hatte) kein führender Politiker mehr eine spezifische Ausbildung durchlaufen, die ihn hätte vorbereiten können, denn die Schulen der Parteien und der Gewerkschaften hatten sich fast alle aufgelöst. Es wird offenbar nicht mehr erwartet, dass der Politiker komplexe Probleme intellektuell durchdringt, sie verständlich darlegt und schließlich für Lösungen bei den Bürgern um Zustimmung wirbt. (20)

Das Volk entpuppte sich immer mehr zu einem Wutbürger, viele reagierten desillusioniert, viele sind nur noch misstrauisch, stehen den Medien missmutig gegenüber. Sie erlebten eine massive Deinstrualisierung, den Niedergang der Volksparteien, die Schwächung der Gewerkschaften.
Wer immer ihnen Nachricht überbringt, sie glauben ihm nicht. Sie fühlen sich hintergangen und umgeben von Lügnern und Betrügern. Das Misstrauen sitzt in ihren Knochen und macht sie schwer wie Blei. (22) 
Man fragt sich, wie Berlusconi es geschafft hat, an die Macht zu kommen? Für mich eine ganz klare Sache. Er hat die Medien, die in seiner Hand lagen, manipuliert, und sicher hat er als Milliardär mithilfe von Schmiergeldern Stimmen gekauft. Hier macht sich leider der Italiener, der sich hat kaufen lassen, mitschuldig an diesem politischen Verbrechen.
Als die Italiener 1994 Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten wählten und ihn dreimal im Amt bestätigten, schüttelte das Ausland den Kopf. Wie konnte ein so kultiviertes Volk einem Illusionskünstler vom Schlage Berlusconis hinterherlaufen? Wie konnten die Italiener ihn immer wieder wählen, trotz seiner zahllosen Skandale und Affären? (22)

In dem Buch werden zudem noch mehrere Gründe benannt. Was ich nicht wusste, ist, dass bei der Einführung des Euros alle Italiener dafür zahlen mussten. Romani Prodi, damaliger Ministerpräsident, führte eine Eurosteuer ein.
Die Regierung zog direkt von den Bankkonten der Italiener Geld, um die Kriterien des Vertrags von Maastricht erfüllen zu können. Somit zahlten die Italiener aus eigener Tasche für den Beitritt zum Euro. Doch die Italiener waren bereit (…) zu zahlen, weil sie mit dem Euro viel Hoffnung verbanden. Europa verlangte es, und die Italiener wollten gute Europäer sein. Sie waren es aus Überzeugung und aus Notwendigkeit, denn sie hatten wenig Vertrauen in die Fähigkeiten der eigenen politischen Klasse. Brüssel sollte die Modernisierung vorantreiben. (23)

Aber mit Europa wurde es nicht besser. Im Gegenteil, der Druck nahm durch Brüssel noch mehr zu und das nutzte der wiedergewählte Berlusconi aus und führte eine Antieuropa – Politik ein und stärkte das Volk, auf die nationalistischen Werte zu vertrauen. Zum Beispiel Italien gehöre den Italienern und nicht der EU. Berlusconi nutzte das geschwächte Selbstvertrauen seiner Landsleute aus.
Mit Ausbruch der Eurokrise 2010 zerstoben diese Hoffnungen. Italien geriet ins Hintertreffen: Die Arbeitslosigkeit stieg, die Kaufkraft sank, die Wettbewerbsfähigkeit ging verloren, der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt schrumpfte. Es war ein bitteres Erwachen. Und aus Brüssel kamen die ständigen Ermahnungen zum Sparen, zu mehr Disziplin, zu mehr Reformen. Die Italiener sollten so werden wie die Deutschen – doch da das nicht möglich war, entstand das nagende Gefühl des ständigen Ungenügens. Die EU war wie ein strenger Schulmeister, der Italien ohne Unterlass schlechte Noten gab. (…) Erst Jahre später sollte man erkennen, dass Berlusconi keine Ausnahme war, sondern ein Vorläufer-ein frühes Modell von Donald Trump, der 2016 überraschend zum US-Präsidenten vor. Berlusconi lebte das Modell des radikalen politischen Narzissmus vor.  

Dass die Italiener 2002 für den Euro selbst zahlen mussten, das wusste ich nicht. Das erklärt natürlich, dass die Italiener auf Prodi wütend wurden und ihn abgewählt haben, weil sich an der politischen Lage nichts gebessert hatte. Dann die vielen Beschimpfungen aus Brüssel, das waren die Italiener leid. 
Seit der Eurokrise scheinen die Italiener aus deren Blickwinkel wie ungezogene Kinder, die nicht recht wissen, wie man mit Geld umzugehen hat. Sie schmeißen zum Fenster hinaus, was andere hart verdient haben. Diese Vorstellung hat sich, auch dank entsprechender Berichterstattung, tief in die Köpfe, insbesondere der Deutschen, eingenistet. Da ist viel Herablassung im Spiel, viel Besserwisserei und Ignoranz. Die strengen Sparmeister des Nordens sollten aber berücksichtigen, dass andere europäische Länder enorm von der Kreativität, dem Talent und dem Leistungswillen der italienischen Auswanderer profitieren. Es war in erster Linie der viel gescholtene italienische Staat, der diese Menschen ausgebildet hat, bevor sie ins Ausland gingen.

Und trotzdem steht Italien an vierter Stelle, was die Zahlung an die EU betrifft. Noch 2016 zahlte das Land 11,48 % des Bruttoinlandprodukts an die Europäische Union. An erster Stelle steht Deutschland, an zweiter Frankreich, an dritter England, dann kommt Italien. Das allerdings habe ich aus einer anderen Quelle herausfinden können, siehe hier.
Und es gibt noch einiges mehr, was in der Rede vom angeblichen liederlichen Italien untergeht: Laut einer Studie der Europäischen Zentralbank ist das durchschnittliche Vermögen der Italiener fast dreimal so groß wie das der Deutschen, nämlich 173 600 zu 51 400 €. Auch die Schulden in ihrer Gesamtheit – Staat, Familien, Unternehmen – sind geringer als die der Dänen oder Schweden. Der italienische Staat ist arm, die italienische Gesellschaft dagegen reich. Fakten wie diese spielen in der Debatte über Italien nur selten eine Rolle. Sie finden keinen Platz zwischen all den Vorurteilen, die sich längst zu Gewissheiten verfestigt haben. (Ladurner 218) 

Schuld daran sind auch die populistischen italienischen Politiker, die in Brüssel auf den Tisch hauen und so tun, als würden sie im Auftrag des Volkes so agieren. Dabei ist das Volk selbst ganz verzweifelt über die peinlichen Auftritte ihrer Politiker.
Europäische Politik ist eine heikle, mitunter explosive Angelegenheit, weil jede Nation ihre eigene Geschichte hat. (…) Nationalgefühle sind auch mehr als sechzig Jahre nach Gründung der Europäischen Union noch nicht abgekühlt. (219)

Nun kommt ein ganz wichtiger Gedanke, den ich selbst auch habe, und den ich nun herausschreiben möchte, der aber auf alle Länder umgesetzt werden sollte, auf die im Norden geringschätzig geschaut wird:
Nicht nur, aber auch darum ist die Art, wie man übereinander redet, von größter politischer Bedeutung. Europäische Politik hat sehr viel mit gegenseitigem Respekt zu tun. Millionen Italiener fühlen sich in der Europäischen Union nicht respektiert, (…). Die Union, die sie erleben, ist nicht ihre Union, sondern ein Zwangsverein. (…) Es hätte gewiss nicht geschadet, wenn man den Millionen Italienern, die in den letzten Jahren verzweifelt gegen den Abstieg in die Armut kämpften, mit etwas mehr Großzügigkeit begegnet wäre. Es hätte nicht geschadet, wenn man in Brüssel wie auch in Berlin immer wieder darauf hingewiesen hätte, dass die Italiener den Europäern trotz all der Schwierigkeiten immer noch viel geben. Man muss bei solchen Reden die Probleme nicht verschweigen – sie liegen offen auf der Hand: Die Schwächen der Institutionen, die Unzulänglichkeit der politischen Klasse. Das sind die Kernprobleme Italiens. Das italienische Volk leidet darunter ebenso, wie Europa daran Schaden nimmt. (Ebd)

Wie schon gesagt, sollte man diesen Respekt, von dem der Autor spricht, allen Ländern entgegenbringen, die aus einer schwierigen Regierung kommen, und man sollte aufhören, die Menschen darin durch Arroganz und Besserwisserei zu bestrafen. Das hat stark diskriminierenden und rassistischen Charakter. Dass wir in einem Land geboren wurden, in dem es solche Probleme nicht gibt, dafür aber genug andere, ist nicht unserem Können geschuldet. Die Geburt eines Kindes ist wie ein Lotteriespiel. Niemand sucht sich sein Land und seine Eltern aus. Jeder Mensch muss in dem Land, in dem es geboren und seine Wurzeln geschlagen hat, bestmöglich klarkommen.

Probleme gemeinsam angehen, dann findet man auch wieder das Vertrauen der Menschen, die sich abgeurteilt fühlen.

Wieder zurück zu MacEwan und sein neustes Buch Die Kakerlake.
Wenn ich könnte, würde ich dem Schriftsteller Ian McEwan gerne einen Brief schreiben, aber der arme Mann hat sicher andere Sorgen, als sich mit den Sorgen der Italiener zu befassen. Sollen sich die Italiener doch selbst mit ihren Sorgen auseinandersetzen, würde er sicher antworten, und recht hat er. 

Es würde mir schon genügen, wenn Die Kakerlake ins Italienische übersetzt werden würde, deshalb erwähne ich ihn hier, und hoffe, den Italienern auf ihn aufmerksam machen zu können. 

Mein Fazit  
Ein sehr interessantes, bewegendes und ein nachdenkenswertes Buch, das mir viele Antworten liefern konnte. Es hatte mich zwar viele Tage über die politische Lage dieser Nation richtig betrübt, dann aber konnte ich diese Stimmung wieder überwinden und weiterlesen. Und immer wieder kommt mir McEwan mit seinem Buch Die Kakerlake in den Sinn. Wie gefräßig italienische Politiker sein können, wird hier in diesem Sachbuch noch viel deutlicher. Viele Textstellen konnte ich nur markieren, aber nicht herausschreiben, weil sie einfach zu heftig waren. Vieles habe ich aber auch nicht erwähnt, um eine Überlänge zu meiden. Ich empfehle das Buch auf jeden Fall weiter an Menschen, die sich auch für diese brisante Thematik interessieren.

Das Buch habe ich auf der Buchmesse 2019 entdeckt. Und bin recht froh darüber. Ohne die Buchmesse wäre es mir nie in die Hände gefallen.

Klare Leseempfehlung. 12 Punkte.
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Es geht nicht um den Verstand,
es kommt alles aus dem Herzen.
(Tracy Barone)

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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)