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Sonntag, 19. Mai 2013

Jörg Utschakowski u. a. / Vom Erfahrenen zum Experten (1)

Ein Résumé



In dem Buch  sind jede Menge Aufsätze geschrieben, alle von verschiedenen AutorInnen. Vieles wiederholt sich regelrecht in der Ansicht, was das Thema betrifft: Betroffene Menschen in die Arbeit mit psychisch kranken Menschen einzubinden, die als Peers, Peergroups oder als Peersupport  bezeichnet werden. Vorreiter war Amerika später folgten Neuseeland, Schweiz, Deutschland, Holland, Kanada und Österreich.

Peergroup ist ein Fachbegriff aus der Sozialpädagogik, Pädagogik und aus der Soziologie und ist auf Charles H. Cooley zurückzuführen. Cooley lebte von 1864 bis 1929 und war Amerikaner.
In der Fachliteratur werden Peergroups als Bezugsgruppen beschrieben, die sich aus Menschen zusammensetzen, die Gemeinsames oder gewisse Ähnlichkeiten in der Lebenserfahrung verbindet. Auf unserem Fachgebiet werden Peergroups bezeichnet, die über eine psychiatrische Erkrankung verfügten und die als Betroffene in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen eingesetzt werden. Kurz gesagt: Psychisch kranke Menschen helfen psychisch kranken Menschen.

Dann gibt es noch die Peer Supports: Betroffene unterstützen Betroffene in Selbsthilfegruppen. Sie lernen Gruppen zu gründen, Vorträge zu halten, Diskussionen zu führen, auf Gruppenkrisen einzugehen und Fragen von Gruppenteilnehmern zu beantworten. Klare Rollenverteilung in Unterstützende und Unterstützte muss trotzdem erkenntlich sein.

Aus der Selbsthilfegruppe helfen Betroffene Betroffenen in Beratungsangeboten wie z. B in Beschwerdestellen für Betroffene, bei der Medikamentenberatung oder bei einer unabhängigen Patientenfürsprache. Peersupports werden auch in Schulen eingesetzt.

Auf dem Gebiet der Psychiatrie haben sie gegenüber den Professionellen eine unterstützende Funktion. Sie ergänzen das, was viele Professionelle durch die fachliche Distanz zu wenig mitbringen würden, denn „Professionell Tätige haben (…) oft gelernt, bewusst eine professionelle Distanz zu wahren und sich mit ihren eigenen Erfahrungen nicht oder nur wenig einzubringen. (…) In begrenztem Umfang sollten Fachpersonen bereit sein von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten. Dabei kann es sich um die Bewältigung von Alltagsschwierigkeiten , je nach Umständen aber auch um eigene Krisenerfahrungen handeln“.  (S. 44f. )

Viele psychisch kranke Menschen sind unzufrieden mit den professionellen Handlungsangeboten. Diese werden oft als hinderlich wahrgenommen. Peersupports werden als hilfreiche Ergänzung empfunden.

Sie helfen bei dem Prozess der Entstigmatisierung, beim Aufräumen von Vorurteilen und bei der Verbesserung von mehr Lebensqualität.

Verbesserung psychiatrischer Versorgung sei aus der Sicht der AutorInnen ohne Expertenwissen durch Erfahrung nicht möglich.

Es liegen Übersichtsstudien vor, Vergleichsgruppen mit Teams ohne Peers. Die Studien zeigten, dass in der Psychiatrie der Einsatz von Experten durch Erfahrung zu keiner schlechteren Qualität geführt habe. Im Gegenteil: sie führte

• zu einer größeren Lebenszufriedenheit
• zur Reduzierung von Lebensproblemen
• zum besseren Umgang mit der Erkrankung

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Informationen,  Aufklärung und die gemeinsame Erfahrung.

In dem Buch werden mehrere Experten unterschieden:

1. Experten durch den Beruf (Professionelle)
2. Experten durch Erfahrung (Betroffene)
3. Experten durch Begleitung (Angehörigen und Laien)

Aufgaben und Methoden befinden sich noch in der Entwicklung.

Die Arbeit mit Peers hat ihre Wurzeln im Empowerment und Recovery.

Der Begriff Empowerment - Selbstbefähigung oder Selbstbevollmächtigung - entnommen aus den amerikanischen Emanzipationsbewegungen; gesellschaftlich benachteiligte Gruppen wehrten sich und waren nicht mehr bereit, Diskriminierung und Unterdrückung hinzunehmen. Sie entwickelten dadurch mehr Selbstbewusstsein und Emanzipation.

Recovery - Gesundung, Genesung; oder die Wiedererlangung von Gesundheit. Die ersten Vertreter des Recovery-Ansatzes waren Betroffene, die von professioneller Seite als chronisch psychisch krank bezeichnet wurden, die sich mit dieser negativen Prognose allerdings nicht abgefunden haben und wider Erwarten genesen sind.

In der traditionellen Psychiatrie würden viele psychisch kranke Menschen als unheilbar diagnostiziert. Im Recovery-Ansatz ist unter Genesung nicht die Symptomfreiheit gemeint. Er sei vielmehr als ein Prozess zu verstehen in der Auseinandersetzung des Betroffenen mit sich selbst und seiner Erkrankung. Dieser Prozess kann dazu führen, dass der Betroffene trotz seiner psychischen Erkrankung in der Lage ist, ein zufriedeneres, hoffnungsvolleres und aktiveres Leben zu führen.

„Hier werden Vorstellungen von gesund-krank, wertvoll-wertlos, früher-heute aufgehoben (es ist eben ganz normal, sich nicht immer gut zu fühlen, sich manchmal im Bett verstecken zu wollen, am eigenen Wert zu zweifeln, sich mit Arbeit, Einkaufen, Alkohol oder Ähnlichem zu betäuben oder manchmal antriebslos zu sein. (Jeder Mensch kennt die eine oder andere psychische Krise.)“ S. 35
„Es ist daher die Aufgabe des Teams und der Organisation insgesamt, das Potential mit den Peer-Spezialisten nutzbar zu machen, wertzuschätzen und sich zu einer neuen professionellen Kultur zu bekennen, in der Grenzen anders gesetzt werden und in der andere Formen von Beziehung und Unterstützung zum Tragen kommen als in den traditionellen Strukturen“, (78f) 

Die Aufgabe des Teams und der Organisation

Die Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen erfordert:

- dauerhafte Unterstützung und Förderung
- Die Wahrnehmung von Machtunterschieden sollten verstanden und richtig gemanagt werden
- Die Rollen und Aufgaben der Peers sollten klar definiert und transparent gemacht werden (S. 78)

Gesundheit und Krankheit werden hier relativiert.

Die Weltgesundheitsorganisation definiert 1947 Gesundheit als vollkommen psychisch und geistiges und soziales Wohlbefinden. Sind alle Menschen krank? Wer kann nach dieser Definition gesund sein? (35)

Krankheitsbewältigung verlaufe bei jedem anders. Genesung sei auch bei schweren psychischen Erkrankungen möglich. Es bedeutet aber nicht zwangsläufig, alle Symptome überwunden zu haben, oder gar krisenfest zu sein. Sie würden nur seltener auftreten und seien nicht mehr so sehr belastbar. Genesung könne mit, ohne oder trotz professioneller Hilfe eintreten. Fachliche Unterstützung sei nur ein Faktor unter vielen, der Genesung fördern kann, aber nicht muss.

Auch Hoffnung und Vertrauen gehören ebenso zum Recovery-Ansatz. Hierbei werden Krisen nicht als Katastrophen verstanden, sondern als zum Menschen zugehörig. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Krisen erfahren kann. Zuversichtlich zu sein bedeutet, selbst wenn ein Mensch immer wieder psychisch erkrankt, dennoch zu ihm zu stehen und ihm das Gefühl geben, dass er es schaffen kann, die Krankheit zu überwinden oder ihm einen angemessenen Umgang mit der Erkrankung zutrauen.

Die Arbeit mit Peers in der psychiatrischen Versorgung kann für professionell Tätige eine besondere Herausforderung sein. In Form von Selbstreflexion kann sie weg von dem defizitären Blick, Fremdbestimmung und Resignation führen.

Doch auch Peers stehen vor Herausforderungen: Bei „unausgesöhnten Anteilen“ bestehe die Gefahr, diese auf KlientInnen zu projizieren.
„In der Arbeit mit Peers geht es darum, Erfahrungswissen und traditionelles Wissen zusammenzubringen. Eine neue Kultur aufzubauen, die neue Wege in der Unterstützung für die Klientinnen und Klienten ermöglicht, aber auch eine Kultur, in der die Lebens- und Krisenerfahrung aller Beteiligten Raum bekommt und als Ressourcen genutzt werden können.“ (79).
Bezogen ist dies auch auf professionell Tätige. D. h., dass sie im Zentrum ihrer Qualifizierung in der Lage sein sollten, Menschsein gleichberechtigt neben nützliches Fachwissen zu stellen.

Weg von einem defizitären Bild - hin zu mehr Toleranz und Gemeinschaft, mehr Normalität und Vielfalt, und zu mehr Gleichberechtigung.

Zum Abschluss ein Zitat von Christian Morgenstern, das mich sehr angesprochen hat und aus dem Buch zu entnehmen war:
"Wer am Menschen nicht scheitern will, trage den unerschütterten Entschluss des Durch - ihn - lernen - Wollens wie einen Schild vor sich her".
Was hat mir nicht gut an dem Buch gefallen?

Differenzierungen zu den Profis kamen mir irgendwie zu kurz. Im Studium der Heil- und der Sozialpädagogik wird das Menschenbild immer wieder hinterfragt, was auch zur Entstigmatisierung, zum besseren Verständnis u.a.m., beiträgt.

Deshalb die Frage: Wer sind die Profis in dem Buch, die zu ihrer Klientel eine zu große Distanz aufbauen? Das hat bei vielen Leserinnen, Soz.-Päds., mit denen ich mich über das Buch austauschte, zu Irritationen geführt.

Des Weiteren ist zu wenig auf die mögliche Problematik von seitens der Peers eingegangen worden… . Nicht jede subjektive Erfahrung muss auch für andere richtig sein. Nicht jede subjektive Erfahrung ist auf andere übertragbar... . Allerdings ist auch nicht jede objektive Theorie auf andere übertragbar. Ein Mix von beidem wäre aus meiner Sicht eine gesunde professionelle Haltung, entspricht allerdings auch als ein Appell dieser multiplen Autor*innen dieses Buches.

Ich selbst fand das Buch recht gut, auf jeden Fall lesenswert.

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Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an
(E. T. A. Hoffmann)

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