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Samstag, 18. Juni 2016

Benedict Wells / Vom Ende der Einsamkeit (1)

Es gibt Rezensionen, die leben von schönen Zitaten ...

Ein wundervolles Buch, das mir aus der Seele spricht …

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Dieses Buch hat mich tief berührt. An einigen Stellen kamen mir sogar die Tränen, obwohl der Inhalt nicht übertrieben gefühlvoll ist. Eigentlich ist es recht ausgewogen zwischen Gefühl und Intellektualität.

Wer kennt das noch: Wenn die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt, fühlen sich diese besonders zueinander hingezogen. Man könnte auch sagen, ich verwende hierzu den Goethebegriff, sie stehen seelenverwandt zueinander. Ich habe diesmal wieder die Erfahrung gemacht, dass die Chemie sogar zwischen einem Buch und einer Leserin identisch sein kann. Benedict Wells gibt mir gerade das Gefühl hierfür. Noch dazu ist er ein so junger Autor, der eine wahnsinnig reife Seele haben muss, der sich in vielen Themen, die die Menschheit schon immer beschäftigt hat, auskennt. Sehr beeindruckend, wie er schreibt. Die ganze Geschichte habe ich von der ersten bis zur letzten Seite mit Spannung verfolgt. Ich bin tief beeindruckt ...

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
»Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind: Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.« Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte.
Mich hat der Protagonist und Ich-Erzähler Jules sehr beschäftigt, der Jüngste unter seinen beiden Geschwistern, obwohl Liz, die Schwester und Marty, der Bruder, nicht weniger interessant sind. Sie alle sind Persönlichkeiten, die nicht mit der Masse gehen. Und jede Figur hat ihre ureigenste Art, belastende Ereignisse zu verarbeiten.

Carson McCullers zählt zu meinen Favoriten und ich habe mich riesig gefreut, als die amerikanische Buchautorin auch in diesem Roman eine sehr wichtige Rolle spielt, so haben sich meine Eindrücke, sich zu dem Buch Wells hingezogen zu fühlen, recht bald bestätigt. Ich verfolgte gespannt die Gedanken von Jules und Alva, als sie sich über mein Lieblingsbuch Das Herz ist ein einsamer Jäger ausgelassen haben. Alva ist Jules Jugendfreundin und beide machen ebenso recht früh schon die Bekanntschaft mit der schwererträglichen Einsamkeit, die ganz besonders Jules zu überwinden versucht, da er diese Einsamkeit eigentlich satt hat, während Alva das Positive in ihr sieht:
Ja, aber das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit. (2016, 171)
Schon Jules Vater war ein sehr weiser Mann, der immer bemüht war, seinen Kindern untypische Lebenshilfen mit auf den Weg zu geben. Kurz vor seinem Tod sprach er zu seinem Jüngsten:
Am wichtigsten ist, dass du deinen wahren Freund findest, Jules. (…) Ein wahrer Freund ist jemand, der immer da ist, der dein ganzes Leben an deiner Seite geht. Du musst ihn finden, das ist wichtiger als alles, auch als die Liebe. Denn die Liebe kann vergehen. (33)
Dies ist eine so weise Sichtweise, die ich unbedingt festhalten möchte.

Jules ist anders als andere Kinder, auch ist er anders als seine Geschwister. Er ist ein Träumer. Macht sich viele Gedanken über Bücher und selbst schreibt er auch Kurzgeschichten. Eine seiner Geschichten handelt von Bibliotheken, in der die Bücher nachts, wenn alle BesucherInnen längst schlafen, miteinander kommunizieren. Manche Bücher beschweren sich über die schlechten Plätze in ihren Regalen hinterster Reihe. Ich musste dabei so an Walter Moers Bücher denken.

Nach dem Tod der Eltern werden die drei Kinder in ein Internat gesteckt. Eine so ziemlich kalte Atmosphäre, in der sie mit ihrer Trauer alleine fertig werden mussten. Es gibt nur eine jüngere Verwandte, eine Tante, mütterlicherseits, die aber nicht in der Lage war, die Kinder bei sich aufzunehmen. Sie hält aber den Kontakt zu ihnen aufrecht.

Liz, die Älteste zwischen den drei Geschwistern, passte sich dem System im Internat nicht an, und ging recht schnell eigene Wege und gerät zeitweilig auf die schiefe Bahn ... Marty war eher der angepasste Typ, aber auch ein Einzelgänger, der sich ausschließlich mit Büchern und Computerspielen beschäftigt, und der sich wenig um die Nöte seines jüngeren Bruders Jules kümmert, der von den Kameraden im Internat ein wenig gemobbt wird ...

Als Alva, elf Jahre alt, neu ins Internat und in Jules Klasse kommt, fühlen sich die beiden recht bald nahe. Alva stammt aus einer Familie, die sehr problembehaftet ist. Auch in ihrem Leben hat das Schicksal mehrfach kräftig zugeschlagen, doch die Kinder reden nicht darüber. Alva und Jules gehen kurz eine Schulbeziehung ein, die aber auseinanderbricht. Für Jules ist das schwer zu verkraften. Doch später kommen beide wieder zusammen …
Seit ich aufs Internat gekommen war, hatten wir uns fast jeden Tag gesehen. Alva war meine Ersatzfamilie geworden und mir in vielerlei Hinsicht vertrauter als meine Geschwister oder meine Tante. Doch in den letzten Jahren hatte sie sich verändert. Noch immer gab es Momente, in dem ich ihr ein seltenes, unbeschwertes Lachen entlocken konnte oder in denen wir uns beim Musikhören ansahen und einfach wussten, was der andere gerade dachte. (79)
Marty schafft das Abitur, geht auf die Universität und lernt dort seine zukünftige Frau namens Elena kennen. Marty ist eher ein trockener Typ, der sich wenig aus Gefühlen macht. Jules konfrontiert ihn mit der Frage, ob er Elena lieben würde, Marty weicht der Frage ein wenig aus, da er an keine Liebe glauben würde. Liebe sei „nur ein dummer literarischer Begriff, nur chemische Reaktionen“.

Die Kinder mussten sich schon recht früh mit ernsten Themen befassen. Durch den tödlichen Unfall ihrer Eltern wurde ihnen recht bald der Tod bewusst, der auf einen Schlag Menschen, die sie lieben, hinwegraffen kann. Jules spricht von einigen Leuten, die gar nicht mal wissen würden, dass sie sterbliche Wesen seien, so selbstverständlich würden sie das Leben hinnehmen.

Mich stimmte dies sehr nachdenklich, da auch mir solche Gedanken seit frühster Jugend recht vertraut sind.

Die Jugend hatte Jules noch nicht überwunden, als er ein weiteres emotional schweres Ereignis, was seine Jugendliebe Alva betrifft, bei ihr zu Hause hinnehmen musste.
Während ich die Treppen hinunterlief, verspürte ich einen   unglaublichen Zorn. Ich hatte keine Lust mehr, nur ein Junge zu sein, ich wollte alles Jugendliche loswerden, ich hätte es aus mir herausgeprügelt, wenn ich gekonnt hätte. (103)
Während Jules öfters mit seinem Schicksal hadert, geht Marty recht verstandesbetont mit seinem Leben um. Nicht nur einmal fühlten sich Liz und Jules vom Schicksal betrogen oder gar verraten. Marty dagegen: 
>>Nun ja. Es gibt kein Schicksal, genauso wenig wie es einen Gott gibt. Es gibt gar nichts oder nur uns Menschen, was in etwa dasselbe ist. Es ist also völlig absurd zu hadern. Tod ist Statistik, und die scheint momentan gegen uns zu sein, aber irgendwann, wenn alle Menschen um uns herum einschließlich mir selbst gestorben sind, wird sie sich wieder ausgeglichen haben, so einfach.<<
Jules´ Leben nimmt immer wieder eine Wende ein, gut und weniger gut, gewollt oder vom Schicksal gelenkt. Manche schweren Themen scheinen sich aus der Kindheit zu wiederholen …

Wie der Roman weitergeht, möchte ich nicht verraten. Aber er ist sehr vielversprechend. Zeigt, wie sich das Leben dieser Kinder im erwachsenen Alter weiter entwickeln wird. Der Autor lässt uns LeserInnen lange an dieser Familiengeschichte teilhaben, selbst noch Jahrzehnte später. Ich kann nur noch sagen, dass weiterhin jede Menge passieren wird ...


Mein Fazit?

Die ganze zeitlose und romanhafte Erzählung hatte etwas Tiefgründiges, in der man recht häufig mit Weisheit gesegnet wird. Viele traurige Szenen bekommt man, wie im richtigen Leben, zu lesen, die aber nicht alle hoffnungslos stimmen lassen ... Und der Buchtitel hält, was er verspricht ... 

Auch wenn Marty z. B. einen wirklich trockenen Menschentyp darstellt, nimmt sein Wesen in den reiferen Jahren mehr Empathie und Verständnis für das außergewöhnliche Leben seiner beiden Geschwister Jules und Liz ein. Das zeigt mir, dass der Mensch nicht festgelegt ist auf angeborene Charakterzüge und Erziehung. Das fand ich wunderbar.

Und hier meine neueste Art, ein Buch zu bewerten:

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne, dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und\oder Rassismus

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.

Weitere Informationen zu dem Buch

Gebundene Ausgabe: 354 Seiten
Verlag: Diogenes; Auflage: 5 (24. Februar 2016)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3257069588
ISBN-13: 978-3257069587
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Gelesene Bücher 2016: 35
Gelesene Bücher 2015: 72
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