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Freitag, 22. Mai 2020

Saša Stanišić / Herkunft (1)

Foto: Geralt / PIxabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Leider konnte mich der fiktionale autobiografische Roman zum Ende hin nicht mehr überzeugen. Den letzten Teil hätte man auch weglassen können, da ich von der Thematik der an Alzheimer erkrankten Großmutter des Autors über die Seiten hin reichlich gesättigt war. Saša Stanišić hätte zwei Bücher schreiben sollen, denn zwei Hauptthemen, Herkunft und Alzheimer, waren mir definitiv zu viel, auch wenn mir bewusst ist, dass die Großmutter zur Herkunft dazugehört, sie aber nicht ihr ganzes Leben an Alzheimer litt. Aber sie nahm immer mehr Raum ein, dass ich schließlich die Hauptthematik zum Ende hin aus dem Blickfeld verloren hatte. Ich hatte so viele tolle Gedanken zu dem Buch, die am Ende verblasst waren, weil ich mit der kranken Großmutter abgelenkt wurde. Außerdem ließ die Konzentration in den letzten Kapiteln immer mehr nach. Es gibt so viele Bücher über Alzheimer, egal, in welchem Land sie sich bei einem Menschen ausbreitet, vom Krankheitsbild her sind sie alle gleich. Was sie unterscheidet sind die Charaktere der dementen Menschen.

Ich sehe ein, dass der Autor von einer großen Fabulierlust erfasst wurde, dass er Schwierigkeiten gehabt haben muss, einen Punkt zu setzen. Und dennoch ist es insgesamt ein gelungenes und ein absolut lesenswertes Buch, wie in der Besprechung weiter unten noch zu entnehmen ist.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung ist eigentlich schnell erzählt, auch wenn sie sehr komplex ist, noch dazu, weil sie  aus Fragmenten besteht.

In dieser Autobiografie geht es um die Flucht der Kleinfamilie von Saša Stanišić aus dem ehemaligen Jugoslawien. Der junge Saša ist gerade mal 14 Jahre alt, als er zusammen mit seiner Mutter über Serbien, Ungarn und Kroatin nach Heidelberg flüchtet, während sein Vater wegen seiner an Demenz erkrankten Mutter erst noch zurückbleibt. Sechs Monate später kam schließlich auch der Vater nach, nachdem er alles Notwendige für seine Mutter besorgt hatte. Sašas Vater ist serbischer Abstammung, seine Mutter kommt aus einer bosnischen-muslimischen Familie. Die Familie lebte vor der Flucht in dem Dorf namens Višegrad.
Es ist so: Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion. (2019, 14)

Die Mutter hat Politologie studiert, der Vater Betriebswirt.
Mutter schrieb sich für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Marxismus in Sarajewo ein. 1980 kehrte sie nach Višegrad zurück mit knapp den besten Abschlussnoten ihres Jahrganges, wurde Marxismus-Dozentin am Gymnasium und stand von überteuerte Waren von fragwürdiger Qualität. Sie echauffierte sich über die unfähige Regierungsriege und soziale Ungleichheit. Fürchtete sich vor dem erstarkten Nationalismus und nahm ihn nicht wirklich ernst. (119f)

Rassistische Auswirkungen gegen Muslime nahmen in dem Land weiter zu, gegen die sich die Mutter zu widersetzen versuchte.
Als der Polizist ihr im April 1992 nahelegte, aus Višegrad zu verschwinden, weil es den Muslimen bald an den Kragen ginge, lautete ihre Antwort in einem Leben, das ich für sie geschrieben hätte: > Wer hat entschieden, dass ich eine Muslima bin? < (121)

In Deutschland angekommen wurden die Eltern allerdings nicht in ihren Berufen eingesetzt. Die Mutter bekam einen Job in der Wäscherei, der Vater auf dem Bau. Der Asylantrag der Eltern wurde nach ein paar Jahren dennoch abgelehnt. Saša konnte in Deutschland bleiben, hat sich sein Bleiberecht über Studium und als freischaffender Künstler erwirkt.

Zurückgeblieben ist die an Demenz erkrankte Großmutter, mit der im Roman alles beginnt, und er mit ihr endet.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ich fand es sehr, sehr traurig, dass der Asylantrag der Eltern in Deutschland abgelehnt wurde und die Familie ein weiteres Mal getrennt wurde. Wie muss das für den jungen Saša
 
gewesen sein, dass er erst seine Großmutter, sich dann von den Eltern trennen musste? Wie muss es für die Eltern gewesen sein, nach Amerika ohne den Sohn zu emigrieren? Was macht die Politik mit Menschen, die ganze Familien auseinanderreißt?

Auf der Seite 36 fand ich eine Szene, die sich wiederholt mit der Frage beschäftigt, wo ein Mensch mit dieser inneren Zerrissenheit hingehört? Mutig, dass Saša ohne die Eltern in Deutschland ein Leben wagte, das zu seiner neuen Heimat wurde.
Man will gelegentlich von mir wissen, ob ich in Deutschland zu Hause sei. Ich sage abwechselnd ja und nein. Die Leute meinen es selten ausgrenzend. Sie sichern sich ab. Sie sagen: >Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Cousine hat einen Tschechen geheiratet. <

Diese Erfahrung machen sogar Menschen, die nicht nach Deutschland geflüchtet sind, sondern hier mit etwas Ausgrenzendem geboren sind, um bei dem Ausdruck zu bleiben. Fremder Name, andere Religion, andere Hautfarbe ... Viele müssen sich ein Leben lang ausgrenzende Bemerkungen anhören. In der vierten sogenannten Migrantengeneration wird man in Deutschland immer noch ausgegrenzt, man wird daran erinnert, dass man in ihren Augen nicht zu den Deutschen zählt.  

Welche Szene hat mir gefallen?
Manche Szenen habe ich als recht surreal erlebt, die mir aber total gut gefallen haben. Schon auf der ersten Seite wird man mit einer davon konfrontiert. Die Großmutter Kristina, 87 Jahre alt, die ein kleines Mädchen sieht, es ruft, es hinter ihr herläuft, bis sie das kleine Mädchen aus den Augen verliert, weil es vor ihr wegläuft. Das kleine Mädchen war sie selbst.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Nur eine Nebenfigur? Und doch zeigt mir folgende Szene über den Vater eines Freundes innere Größe gegenüber einem geflüchteten Kind. Mir war Rahims Vater sehr sympathisch. Rahim selbst ist ein Jugendlicher mit drei weiteren Geschwistern, der mit seiner Familie in Heidelberg in geordneten Verhältnissen lebte, während Saša mit seinen Eltern noch in einer Notunterkunft wohnte, für die er sich geschämt haben muss, da er sich gewünscht hatte, dass die Familie mal seine Eltern besuchen kommen würde, er aber einen Besuch nicht zusammenbringen konnte, obwohl Rahims Eltern nach Auskunft des Autors sich über eine Einladung gefreut hätten. Rahim war mit Saša befreundet. Seine Eltern sind fränkische Atheisten und Geisteswissenschaftler. Der Vater ist Semitist. Saša hatte die Familie durch die ruhige und respektvolle Art innerhalb der Familienmitglieder sehr bewundert. Doch was mir gefallen hatte, war Folgendes:
Nachdem (Rahims Eltern) erfahren hatten, dass ich vor dem Bosnien-Krieg geflohen war, erzählten die beiden weder von einem Kroatien-Urlaub in den Achtzigern auf der „Wie-hieß-die-Insel- noch-mal?“, noch eröffneten sie einen Mentalitätskurs über die >Serben<.Der Vater sagte: > Tut mir leid, dass du das erleben musstest, Saša. Ich lese mich gern ein, und wir sprechen über den Konflikt, wenn du wieder vorbeikommst. Falls du das möchtest. < (188)

Diese Empathie hat mich total beeindruckt. Außerdem hat dieser Mann dem Kind Interesse bekundet, sich in die Materie erst einzulesen, statt loszuplappern, und zu prahlen, was er über das Land über triviale Urlaubserfahrungen an Halbwissen verfügt. Der Ausdruck Mentalistätskurs fand ich zudem wahnsinnig gut getroffen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Der Buchtitel wird leider zu sehr von der demenzkranken Großmutter eingenommen, wie ich eingangs schon beschrieben habe. Das Cover? Die vielen Wappen darauf sind mir unbekannt, die wohl zu der Herkunft des Autors gehören. Sie sind wahrscheinlich mit dem ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien in Verbindung zu bringen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf den 360 Seiten chronologisch und stilistisch nicht wie ein Roman verfasst, wie man das sonst gewohnt ist. Man muss sehr viele Zeitsprünge vor und zurück hinnehmen. Der Stoff ist zudem in Fragmenten gepackt, sodass es schwierig ist, eine Beziehung zu den Figuren herzustellen. Die jeweiligen Kapitel sind nicht nummeriert, ich weiß also nicht, aus wie vielen Kapiteln das Buch besteht, ich werde sie nicht zählen, und sie sind außerdem noch recht kurzgehalten. Eigentlich gibt es ein Epilog, der allerdings mit einem weiteren Teil des Buches Der Drachenhort anschließt. Das etwaige Ende, das aus verschiedenen möglichen Ausgängen bestehen kann, welcher, das entscheiden die Leser*innen selbst, ist sehr außergewöhnlich, das ich ein wenig verspielt erlebt habe. Der Erzählstoff besteht aus einem Mix zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Meine Meinung / Meine Gedanken
Bis zu dem letzten Abschnitt war ich total fasziniert von dem Buch. Es hat mich nachdenklich gestimmt, wobei die Thematik nicht neu für mich ist. Nachdenklich bin ich immer wieder, was die Herkunft eines Menschen betrifft, weil man nicht so eindeutig bestimmen kann, woher ein Mensch kommt. Für viele Menschen weltweit, die aus einer homogenen Herkunft stammen, für sie ist alles glatt, übernehmen die kulturellen und nationalen Zuschreibungen, die sie von Kindesbeinen an übermittelt bekommen, ohne diese später zu hinterfragen. Doch auch bei diesen Menschen würde sich ein Weiterdenken lohnen, denn, wie selbst der Autor schreibt, ist die Herkunft durch Zufall determiniert. Kein Kind, das genau in diese Familie, in dieses Land, in jene Gesellschaft, geboren wird, hat selbst diese Wahl treffen können. Selbst eine homogene Herkunft ist, wenn man sie sich genau betrachtet, differenziert zu einer anderen homogenen Herkunft. Sašas Eltern hatten sich entschieden, das Kriegsland zu verlassen, andere sind dortgeblieben, weil sie nicht bedroht wurden, oder sich woanders versteckt haben, etc. Die Eltern hatten entschieden, nach Deutschland zu fliehen, andere fliehen in andere Länder. Deutschland ist nicht das einzige Land, in das Menschen flüchten, wenn auch die Medien uns dieses Gefühl vermitteln. Wer wäre man geworden, wäre man im Land geblieben? Wer wäre man geworden, wäre man in ein anderes Land geflüchtet? Man könnte den Gedanken noch unendlich weiterspinnen. Wer wäre man geworden, wäre man in einer anderen Familie geboren? Auf jeden Fall immer ein ganz anderer Mensch, der aus sich das zu machen gezwungen ist, was er nach der Geburt an Werkzeug für sein Leben vorfindet, um sich zu formen.
In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte ebenso gut Osloer Regen sein können. Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Glück hat, wer sich geographische Wünsche erfüllt. Das gibt dann vorzügliche Sprachreisen, Alterswohnsitze in Florida und Auswanderinnen in die Dominikanische Republik zu besser aussehenden Männern. (123)

Auch für mich ist die Herkunft, homogen oder different, immer eine komplexe Frage. Die einen sind Adoptivkinder, andere Kinder wurden abgetrieben und bekamen nie eine Chance, ein Mensch zu werden, andere wurden in armen Familien geboren, andere in reiche, etc. Wer sucht sich das aus? Schaut man sich die homogenen Väter an, unterscheiden sie sich von anderen homogenen Väter. Die Mütter ebenso. Die eine Mutter trinkt, der andere Vater ist ein Schläger, andere sind auf unterschiedliche Weise wohlwollend, etc. Stolz auf ein Land zu sein, das wir als das unsrige bezeichnen, ist als sterbliches Wesen, das ein Land aus diesem Grund niemals besitzen kann, genauso ein Nonsens. Und trotzdem denken viele, anders sind nur die, die woanders herkommen, weil sie angeblich über andere Sitten und andere Gene verfügen würden.

Auch für den Autor lässt sich eine Herkunft nicht nur in eine Blutgruppe pressen.
Also doch, Herkunft, wie immer, (…) eine komplexe Frage: Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. (32f)

Da wir gerade europaweit wieder eine Tendenz zum Nationalismus erleben, sind sich Menschen, die das Land, das sie als ihr eigenes bezeichnen, nicht bewusst, dass das Land, auf das sie so stolz sind, auch Früchte anderer Länder trägt. Der Autor macht dies aus eigener Erfahrung / Beobachtung anschaulich:
Ausgerechnet hier! Auf diesem Balkan, Mann! An der Kreuzung zwischen Orient und Okzident! Alle sind hier irgendwann aufmarschiert, alle! Alle haben sich breitgemacht, wurden besiegt, (oder auch nicht) zogen sich zurück. Und sie alle ließen etwas da. Rom, Venedig, die osmanischen Heere, Österreich-Ungarn. Und all die Slawen. Juden kamen von der iberischen Halbinsel und blieben. Roma-Enklaven existieren im gesamten Raum. Die Deutschen schliefen in Betten meiner Vorfahren. Alle waren hier, wo du dasselbe Lied in verschiedenen Tonarten anstimmst (…). Hier, wo du türkischen Kaffee trinkst, deutsche und arabische Lehnwörter selbstverständlich benutzt, mit urslawischen Vilen in den Wäldern tanzt und auf Hochzeiten zu gleichermaßen miesen kroatischen oder serbischen Schlagersongs. Hatten wir nicht die Tore von „Roter Stern“ gemeinsam bejubelt? Offenbar nicht. (99f)

Mein Fazit
Ein sehr lesenswertes Buch, das mich total bereichert hat. So viele Zitate hätte ich gerne noch herausgeschrieben. Toll, es gelesen zu haben. Am schönsten fand ich allerdings die Sprache; sehr verspielt, sehr ideenreich, sehr kreativ. Wundervoll.

Eine klare Leseempfehlung!!!

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Als Mitglied bei der Büchergilde stand erneut ein Quartalskauf an. Dort im Laden ausgelegt ist mir das Buch sofort ins Auge geschossen. Da es mir schon auf der Frankfurter Buchmesse 2019 aufgefallen ist, war es klar, dass ich dieses Buch erwerben wollte. So kam mir die Büchergilde entgegen, die es in ihrem Bestand zum Verkauf angeboten hatte.

Es ist ein bepreistes Buch. Ich mache mir aber nichts mehr aus Buchpreisen, da ich schon häufig damit enttäuscht wurde, und ich deshalb mit Buchpreisen so etwas auf Kriegsfuß stehe. In letzter Zeit scheine ich Glück zu haben, denn auch dieses Buch hat meinen Geschmack treffen können und hat auch aus meiner Sicht absolut seinen Preis verdient. Er erhielt den Deutschen Buchpreis.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Der Autor hätte allein der Sprache wegen seine 12 Punkte verdient. Wenn alles andere minderwertiger ausgefallen wäre, hätte ich dem Buch trotzdem 12 Punkte vergeben.

Deshalb zwölf von zwölf Punkten, auch wenn es von der Rechnung her elf Punkte sind.

________________
Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein kleinwenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 12
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Donnerstag, 21. Dezember 2017

Raquel J. Palacio / Wunder (1)

WunderEine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ein WUNDERvolles Buch. Ein Buch mit so viel Liebe. Allen Kindern der Welt wünsche ich diese Liebe, die die Kinder dieser Familie, Olivia und August, durch die Eltern erfahren durften. Eltern mit einem demokratischen und autarken Erziehungsstil. Eine Erziehung mit Herz und Verstand ... 

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
August ist anders. Dennoch wünscht er sich, wie alle Jungen in seinem Alter, kein Außenseiter zu sein. Weil er seit seiner Geburt so oft am Gesicht operiert werden musste, ist er noch nie auf eine richtige Schule gegangen. Aber jetzt soll er in die fünfte Klasse kommen. Er weiß, dass die meisten Kinder nicht absichtlich gemein zu ihm sind. Am liebsten würde er gar nicht auffallen. Doch nicht aufzufallen ist nicht leicht, wenn man so viel Mut und Kraft besitzt, so witzig, klug und großzügig ist - wie August.

August leidet an einer seltenen Krankheit, die sich Treacher-Collin-Syndrom nennt. Es sind mehrere Defekte in den Genen. Kurz gesagt, August kommt mit einem entstellten Gesicht auf die Welt. Die Augen befinden sich zum Beispiel auf der Wange. August musste in seinem kurzen Leben mehrere Schönheitsoperationen über sich ergehen lassen … Die Ärzte gaben dem Jungen nicht viel Hoffnung was seine Lebenserwartung im Kleinkindalter betraf. Aber August hat überlebt ... 

Es ist eine große Herausforderung, August nach vier Jahren Homeschool einer öffentlichen Schule zu übergeben. Obwohl die Schule sich sehr kooperativ und tolerant zeigt, Rektor und Lehrer, hat es August trotzdem sehr schwer mit seinen Klassenkameraden, die ihn zeitweise seines Aussehens wegen gemobbt haben. Mitunter muss er sich einige bösartige Spitznamen wie z. B. Zombie gefallen lassen, und später, auf einer mehrtägigen Freizeit mit der Schule wird er von größeren Jungs verspottet und tätlich angegriffen. August wird von diesen Jungs mit Gollum verglichen und mit den Orks, Gollum und die Orks sind die hässlichen Figuren aus dem Fantasyroman Herr der Ringe. Das nimmt August psychisch sehr mit, obwohl er von seiner Familie immer zu spüren bekommen hat, dass er trotz seines Gesichtes ein wunderschönes Kind sei, denn hier zählen die inneren Werte und weniger die äußeren:
>>Du bist wunderschön, ganz gleich, was andere sagen, Worte können dir nichts anhaben. Du bist wunderschön in jeder Weise. Ja, Worte können dir nichts anhaben.<<

August hat Pech mit seiner Geburt, aber Glück mit seinen Eltern. Unabhängig davon, wie unschön Augusts Gesicht geformt  ist, die Eltern lieben ihren Jungen trotzdem abgöttisch. Olivias Freund Justin zum Beispiel sehnt sich nach einem Vater wie August und Olivia ihn haben. Justin nimmt sich Olivias Vater zum Vorbild, er selbst möchte eines Tages für seine Kinder der Vater sein, den er selber nicht hatte … Daran kann man sehen, wie viel Glück August mit seinen Eltern hat. Viele Kinder, die mit Anomalien geboren werden, werden von den Eltern verstoßen … Es ist demnach nicht selbstverständlich, solche verständigen Eltern zu haben. Doch August hat nicht nur Glück mit seinen Eltern, er hat auch Glück mit seiner älteren Schwester Olivia, die für den Bruder einen Beschützerinstinkt entwickelt hat. Obwohl Olivia durch den Bruder von ihren Eltern stark zurück treten musste, lernte sie dadurch recht schnell selbständig zu werden. Aber sie leidet auch hin und wieder darunter, dass der Bruder so viel braucht und so viel bekommt. 

Obwohl es schwer für August auf der Schule ist, geht er tapfer seinen Weg, denn die Welt draußen ist nicht nur schlecht. Und einige seiner Schulkameraden lernen ihn schließlich kennen ... Ein einziges Mal erlebt er eine für ihn unerträgliche Situation, sodass er gar nicht mehr in die Schule gehen wollte, und fragt seine Mutter:
>>Mom? Werde ich mir immer wegen dieser Mistkerle Sorgen machen müssen? (…) Auch wenn ich erwachsen bin, meine ich – wird das immer so sein? <<
(…)>>Es wird immer Mistkerle auf der Welt geben. (…) Aber ich glaube ganz sicher, und Daddy glaubt das auch, dass es mehr gute Menschen auf dieser Welt gibt als böse, und die guten Menschen passen aufeinander auf und kümmern sich umeinander. <<

Ein Jahr Schule hat August schließlich gepackt, als im neuen Schuljahr der Rektor in der Aula eine Rede an seine Schüler hält:
>>… aber<<, fuhr er fort, >>ich wünsche mir für euch, meine Schüler, dass das, was ihr von der Middle-School auf euren Lebensweg mitnehmen könnt, das sichere Wissen ist, dass in der Zukunft, die ihr euch selbst gestaltet, alles möglich ist. Wenn jede einzelne Person in diesem Raum es sich zur Regel machen würde, wo immer sie sich befindet, wann immer es möglich ist, zu versuchen, sich etwas freundlicher zu verhalten, als notwendig ist – würde die Welt zu einem besseren Ort werden. Und wenn ihr das tut, wenn ihr euch etwas freundlicher verhaltet als notwendig, dann wird irgendjemand irgendwo und irgendwann vielleicht in jedem Einzelnen von euch das Antlitz Gottes erkennen. << 

Da jeder Mensch von dem anderen Menschen lernen kann, unabhängig vom Alter und von der Herkunft, war auch der Rektor in der Lage von August zu lernen. August hat die Menschen in seinem Umfeld menschlicher gemacht. Durch seine Präsenz, durch sein Denken, durch sein Wirken hat er schließlich sein Umfeld positiv beeinflusst. Welch ein Verlust für die Gesellschaft, würde August weiter vor der Öffentlichkeit versteckt gehalten werden.


Mein Fazit?

Das Buch wird aus mehreren Perspektiven erzählt. August erzählt seine Sichtweise, Olivia ihre, etc. Dieser Erzählstil macht es noch zusätzlich spannend, an den Gedanken und den Gefühlen der verschiedenen Figuren teilhaben zu können. Es gibt nämlich nicht nur eine Wahrheit. Es gibt mehrere Wahrheiten und jede Wahrheit hat ihre Berechtigung ...

Ein Buch mit so viel Weisheit; ein Buch über Freundschaft, ein Buch über familiäre Liebe, ein Buch über Schwächen und Stärken und dies nicht nur auf August bezogen. Ein Buch für Groß und Klein …

Ich finde, wir neigen alle dazu, Menschen nach äußeren Maßstäben zu beurteilen. Viele Kinder werden von ihren Eltern abgelehnt, wenn sie den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen. Deshalb finde ich dieses Buch unbedingt auch für Erwachsene geeignet, weil sie ihr Verhalten den Kindern gegenüber bewusst oder unbewusst vorleben. Es reichen schon kleine abweichende Merkmale, um von den Eltern abgelehnt zu werden. Deshalb ist es auch ein Buch für Erwachsene ... 

Und den Schluss, der sich auf den Buchtitel bezieht, fand ich grandios  ... 

Und es gibt zusätzlich noch so viele wunderbare Zitate in dem Buch zu lesen ... 

Und hier geht es zu dem Interwiev zwischen Renie und der Autorin.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.

Weitere Informationen zu dem Buch

Das Buch ist 2014 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden.

·         Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
·         Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; Auflage: 17 (28. Januar 2013)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3446241752
___________
Wenn du die Wahl hast, ob du recht behalten oder freundlich sein sollst,
wähle die Freundlichkeit.
(Dr. Wayne D. Dyer)

Gelesene Bücher 2017: 57
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Dienstag, 17. Januar 2017

Amos Oz / Judas

Internationaler Literaturpreis 2015

 Klappentext
Im Winter 1959 kommt der junge Schmuel Asch nach Jerusalem, um seine Magisterarbeit zu schreiben. Allein und ohne finanzielle Unterstützung, braucht er dringend eine Nebenbeschäftigung. Eine Anzeige führt ihn ins Haus eines eigentümlichen alten Mannes namens Wald; nachts liest er ihm vor und unterhält sich mit ihm – über die Ideale des Zionismus, über die jüdisch-arabischen Konflikte.
Und dort trifft er auf die geheimnisvolle Atalja Abrabanel, deren verstorbener Vater einer der maßgeblichen Anführer der zionistischen Bewegung war. Sogleich ist Schmuel gefesselt von der Schönheit und Unnahbarkeit dieser Frau. Nach und nach gelingt es Schmuel, ihr Geheimnis zu enthüllen – und damit auch das des alten Wald.
Amos Oz hat einen Liebesroman geschrieben und zugleich ein Buch über das geteilte Jerusalem vor dem Sechs-Tage-Krieg, eine Geschichte seines Landes mit all seinen Konflikten, seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung.

Autorenporträt
Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Seit dem 6-Tage Krieg ist er in der israelischen Friedensbewegung aktiv und befürwortet eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Er ist Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now). Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet (Friedenspreis der Deutschen Buchhandels 1992, Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005, Siegfried Lenz Preis 2014). Eine Geschichte von Liebe und Finsternis wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.

Weitere Informationen zu dem Buch

D: 12,00 € 
A: 12,40 € 
CH: 17,90 sFr
Erschienen: 11.04.2016
suhrkamp taschenbuch 4670, Broschur, 331 Seiten
ISBN: 978-3-518-46670-4 
Auch als eBook erhältlich

Und hier geht es auf die Verlagsseite vom Suhrkamp / Insel.





Montag, 5. Dezember 2016

Philipp Winkler / Hool

Deutscher Buchpreis 2016

Leserunde mit dem Bücherforum 
Watchareadin


 Klappentext
Jeder Mensch hat zwei Familien. Die, in die er hineingeboren wird, und die, für die er sich entscheidet. HOOL ist die Geschichte von Heiko Kolbe und seinen Blutsbrüdern, den Hooligans. Philipp Winkler erzählt vom großen Herzen eines harten Jungen, von einem, der sich durchboxt, um das zu schützen, was ihm heilig ist: Seine Jungs, die besten Jahre, ihr Vermächtnis. Winkler hat einen Sound, der unter die Haut geht. Mit HOOL stellt er sich in eine große Literaturtradition: Denen eine Sprache zu geben, die keine haben.
Einen so knallharten, tieftraurigen und todkomischen Debütroman hat es seit Clemens Meyers „Als wir träumten“ in Deutschland nicht mehr gegeben. Thomas Klupp
Winkler schreibt bewegend, kraftvoll und mit feinem Gespür für die Welt der Außenseiter. Denn eigentlich ist Heiko Kolbe ein hoffnungsloser Romantiker und seine Gewalt ein stummer Schrei nach Liebe. Moritz Rinke
Woher kommt die Wut, was tust du, wenn dir nichts geblieben ist? Verzweifelt, knallhart und voller Herz. HOOL leuchtet aus allen Wunden. Lucy Fricke

Autorenporträt
Philipp Winkler, 1986 geboren, aufgewachsen in Hagenburg bei Hannover. Studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim. Lebt in Leipzig. Auslandsaufenthalte im Kosovo, in Albanien, Serbien und Japan. Neben Veröffentlichungen in Literaturmagazinen und -anthologien, erhielt er 2008 den Joseph-Heinrich-Colbin-Preis und 2015 für Auszüge aus Hool den Retzhof-Preis für junge Literatur des Literaturhauses Graz. „HOOL“ ist sein Debütroman.

Auf der Verlagsseite ist auch ein Foto des Autors hinterlegt. Ich finde, er sieht sehr sympathisch aus. Ähnelt ein wenig der Romanfigur Heiko Kolbe …


Meine ersten Leseeindrücke? 

Ich befinde mich gerade erst auf der Seite 35 und es gefällt mir ganz gut.

Zwar muss ich mich an die Boxerei dieser Hooligans noch gewöhnen, aber sie passt zum Kontext, hoffe aber nicht, dass diese Kampfaktionen den ganzen Raum einnehmen ... Interessant finde ich Heiko Kolbes Familie, die auf mich innerhalb der Familienmitglieder recht gestört wirkt, auch wenn Heikos Schwester Manuela das Ganze runterspielt und auf Harmonie macht. Bin echt neugierig auf diese Familie ….

Merkwürdig ist der Vater, der nicht mal einen Blickkontakt zu Heiko sucht und nur die Zigarettenschachtel anstarrt, als er ihn dann schließlich um eine Zigarette bittet.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Gebunden mit Schutzumschlag, 310 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-351-03645-4 

19,95 € *)
Inkl. 7% MwSt.

Und hier geht es zur Verlagsseite.

Und hier geht es zu unsere Leserunde auf Watchareaadin.













Dienstag, 1. November 2016

Bodo Kirchhoff / Widerfahrnis

Deutscher Buchpreis 2016


Klappentext
Reither, bis vor kurzem Verleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist ...

Autorenporträt
Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane Verlangen und Melancholie (2014) sowie Die Liebe in groben Zügen (2012). Seine Novelle Widerfahrnis (1. September 2016) ist für den Deutschen Buchpreis 2016 nominiert. Mehr Informationen zu Leben und Werk finden Sie auf der Webseite des Autors.

Weitere Informationen zu dem Buch

Eine Novelle
Schön gebunden
Farbiges Vorsatzpapier

1. September 2016
€ 21,- (D)
224 Seiten
978-3-627-00228-2

Und hier geht es per Mausklick auf die Verlagsseite der Frankfurter Verlagsanstalt. 

Dieses Buch lesen wir gerade in der Leserunde vom Bücherforum Watchareadin, von dem wir dieses Rezensionsexemplar zugeschickt bekommen haben ... 
Ich selbst bin eher eine stille Leserin, hebe gerne meine Leseeindrücke bis zum Schluss auf, möchte demnach auch gar nicht zu viel lesen, was andere darüber geschrieben haben. Aber vorab sei schon mal gesagt, dass mir diese Novelle sehr, sehr gut gefällt. Ich hatte eher mit einem ziemlich trockenen Stoff gerechnet, nach dem, was meine Vorredner im Forum berichtet haben. Nein, es ist nicht trocken. Viele schöne geistreiche Gedanken, auch fantasievoll und man nimmt an einer Liebesgeschichte zweier älterer Menschen teil, die anders leben als der Durchschnitt unserer Gesellschaft. Aber die Mehrheit der Gruppe findet das Buch sehr gut. 

Ich glaube, dass der Protagonist Julius Reither Bodo Kirchhoff selber ist. Hat zumindest viele Ähnlichkeiten mit ihm ... 

In meinem Buch habe ich wieder jede Menge Zettelchen haften, hoffentlich verliere ich den Überblick nicht ... 

Alles Weitere folgt in der Buchbesprechung.