Samstag, 5. November 2016

Bodo Kirchhoff / Widerfahrnis (1)

Deutscher Buchpreis 2016

Mein erstes gelesenes Buch 
aus der diesjährigen Buchmesse ...

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mir hat das Buch insgesamt recht gut gefallen. Ein paar Begebenheiten wirkten auf mich allerdings ein wenig realitätsfern.

Die literarische Sprache ist grandios. Ein wenig spielerisch und fantasievoll habe ich sie erlebt. Und jede Menge geistreiche Gedanken, die recht häufig auch in Metaphern verpackt wurden. Ich werde aber nicht auf alles eingehen.
 Der Buchtitel Widerfahrnis hat mich sehr nachdenklich gestimmt …  So richtig konnte ich nicht dahinterkommen, was er bedeuten könnte. Selbst die Figuren wissen nichts so recht damit anzufangen. Es muss etwas mit Widerstand zu tun haben. Schicksalsschläge, die sich ihnen gewaltvoll aufdrängen.
Was mir durch den Kopf geht - Widerfahrnis.  
Und warum gerade das?
Muss ich das wissen? Sie griff sich die Tasche und lief damit Richtung Bad; Reither zog sich an. Im Grunde hatte er´s geahnt, das Überrollende in dem Buch, schon als er von seiner zu ihrer Wohnung hinter ihr hergegangen war, über einen neuen Umschlag nachgedacht. Aber Widerfahrnis, das war mehr als die vergessene Heimsuchung - da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt - ein Titel, den er wohl hätte gelten lassen. (2016, 159)

Die Novelle behandelt eine außergewöhnliche Geschichte zweier älterer Menschen, die ad hoc sich auf eine weite Reise nach Italien begeben, bis runter nach Sizilien. Doch bevor diese Reise losgeht, müssen die beiden ProtagonistInnen erstmal miteinander Bekanntschaft machen. Da ist der 64-jährige Julius Reither und Leonie Palm, die ein paar Jahre jünger als Reither zu sein scheint. Beide verbindet Gemeinsamkeiten, die der Leserin und den beiden ProtagonistInnen nach und nach erschlossen werden. Reither betrieb einen Verlag, den er schließen musste, und er daraufhin aufs Land nach Weissachtal gezogen ist. Er ist der Meinung, dass es mittlerweile mehr SchreiberInnen als LeserInnen geben würde, (2016, 10) … Palm besaß ein Hutgeschäft, das sie wegen mangelnder Nachfrage auch schließen musste. Leonie beklagt, dass es für ihre Hüte keine passenden Gesichter mehr gab. Für mich ist der Hut eine Metapher ... Hier gibt es eine Parallele zwischen Palm und Reither:
Leonie Palm (…) die mit ihrem Hutladen gescheitert ist an einem immer kopfloseren Publikum, er mit seinem Verlag, den es nicht mehr gab, so weggeschmolzen von der Abwärme des Banalen wie die letzten Gletscher mit all ihrer sperrigen Schönheit. (129)
Eines Tages steht Palm läutend vor Reithers Haustüre, mit der Absicht, ihn in ihre Lesegruppe, in der nicht nur gelesen, sondern auch geschrieben wird, einzuladen. Palm selbst habe ein Buch geschrieben, und sie suche einen versierten Leser und Kritiker, den sie in Reither sieht, der ihr Manuskript bewerten solle. Es hat ein wenig Zeit benötigt, bis Reither die Frau zu sich in die Wohnung bittet, wo er sie eigentlich höflich wieder loswerden wollte. Ich dachte erst, er würde sie vor der Haustüre stehen lassen, da er jemand ist, der eigentlich keine Kontakte sucht. Außerdem wirkt er auf mich eigenbrötlerisch, recht strukturiert, bemessen, selbst in seiner Körperhaltung drückt sich dies aus:
Alles an ihm ist zielgerichtet, der zu Boden gestreckte Arm, die im selben Winkel abwärtszeigende Zigarette, das von der Nase diktierte Profil unter noch dichtem Haar, der Blick auf das eigene Tun, mit dem Daumen etwas anzubringen an einem verrotteten Schild, das er als Umschlagmotiv gewählt hat und an das er noch letzte Hand anlegt, wie an jedes seiner Bücher in über dreißig Jahren, bis damit Schluss war.  (6)
Reither und Palm verbindet nicht nur das Geistige, nein, auch Banales verbindet sie. Sie sind beide richtige KettenraucherInnen. Diese Raucherei steht auch im Mittelpunkt dieser Erzählung.

Es wird viel geraucht und viel gelesen. Der Bücheraustausch ist sehr rege, der mir sehr gefallen hat …

Es stellt sich heraus, dass Leonie Palm über sich und ihre Tochter geschrieben hat, die sich das Leben genommen hat, indem sie sich nachts bei eisiger Kälte betrunken an einen Waldsee legte und erfroren ist. (Dieses Detail hatte ich erst vergessen, ist mir nun wieder eingefallen (…). Den Tod der Tochter versucht Leonie Palm literarisch zu verarbeiten, greift aber zu fiktiven Namen, doch Reither durchschaut sie recht schnell, ahnt, dass  die Geschichte das Schicksal Palms und deren Tochter barg. Erneut eine Erfahrung, die Palm mit Reither verbindet, denn auch Reither hätte Vater eines Mädchens sein können, hätten er und seine damalige Freundin das Kind gewollt. Aber es passte nicht in deren Lebensplanung.

Die trauernde Mutter Leonie, die sich körperlich so bewegte, als könnte der Körper jeden Moment zerfallen, als diese versuchte, gewisse Szenen ihrer Tochter im Wald nachzuspielen …  (Dieses Bild fand ich sehr stark).

In Reithers Wohnung liest Palm aus ihrem Manuskript …

Nicht selten sprechen sie auch über ihr Alter, in dem das Leben gleiche Formen annehmen würde, und kaum noch Unerwartetes auf sie zukommen würde. Leonie dagegen äußert, dass sie tot wären, würde nichts mehr Unerwartetes auf sie eindringen. Mir kommt besonders Reither so vor, als wäre sein Leben schon abgeschlossen, bietet nichts Neues. Selbst für das Reisen scheint die Neugier versiegt zu sein, denn wohin soll man fahren, wenn man alles Schöne gesehen hat? (23)
Ich frage mich, wie man in dem kurzen Menschenleben alles in der Welt schon gesehen haben kann?
Leonie hatte ein „komplettes Leben“, Haus, Mann, Kind, Hutladen, bis sie alles nach und nach verloren hat …

Leonie macht den Vorschlag, mitten in der Nacht an den See zu fahren, aber sie landen über Österreich in Italien. Unterwegs bekommen sie viele Flüchtlinge zu sehen ... Kirchhoff bearbeitet neben der Liebesgeschichte auch die Flüchtlingsproblematik Italiens …

Unten in Sizilien lernen sie ein Flüchtlingskind kennen im roten zerfetzten Kleid. Es ist eigentlich kein Kind mehr, sondern eine Jugendliche, die schon Zigaretten konsumiert. Das Mädchen bettelt auf ihre geschickte und gekonnte Art um Geld. Sie bietet als Gegenleistung ihren wertlosen Halsschmuck als Ware an ... Reither und Palm nehmen sich ihrer mit all den Risiken an, begeben sich in eine überaus großzügige Geberrolle. Vor allem Palm empfindet dem Mädchen gegenüber Muttergefühle, Reither, der kritischere Part, passt sich ihr eher an ... 

Ich möchte nicht alles verraten. Zwischen Palm und Reither geht es weiterhin nüchtern zu, sodass man die Liebesbeziehung in dem Paar erst suchen muss. Sehr kopflastig alles, recht gefühlsarm ...  Erst am Schluss kommt es auf der Gefühlsebene zu einer Wende. Der Schluss hat mir fast am besten gefallen, weil er viel authentischer als der ganze Rest der Erzählung ist.


Mein Fazit?

Das Ende hat mir deshalb gut gefallen, weil Reithers Seele als Mensch hier gut zur Geltung kommt. Dies hätte längst geschehen müssen.

Allerdings waren mir viele Szenen nicht wirklich authentisch. Dass ein so kopfdominierter Mensch, wie Reither es ist, sich auf eine spontane Reise mit einer wildfremden Frau begibt, ist mir nicht glaubwürdig genug. Die gesamte Beziehungsdynamik ging mir viel zu schnell. 
Und den Umgang mit dem Flüchtlingsmädchen finde ich arg naiv. Vielleicht muss man diese altruistische Verhaltensweise psychoanalytisch betrachten, um sie aus meiner Sicht besser verstehen zu können. 
Gefallen hat mir die Vergangenheitsbewältigung der beiden Menschen ...

Reither verarbeitet in dieser Lebensphase, in der er sich befindet, mit Leonie Palm das Älterwerden, denkt als 64-Jähriger an die Zeit zurück, in der er Vater hätte werden können, riet aber der damaligen Freundin zu einer Abtreibung, die Freundin stimmte der Abtreibung zu. Weil das Kind nicht in deren beider Lebensplanung passen würde. Reither hat gegenwärtig Angst, mit der Abtreibung eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Es wäre ein Mädchen geworden ... Außerdem spüre ich diese Angst, Chancen in seinem Leben vertan zu haben. Die Chance, ein Kind zu haben, die Chance, Vater zu sein. Das ist nun aus und vorbei, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Und Leonie Palm ist auch geprägt. Wie oben schon gesagt, hatte sie eine Tochter, die nicht weiter bei der Mutter leben wollte, verlässt sie und suizidiert sich. Ich sehe dazu Projektionen gegenüber dem Flüchtlingskind mit dem roten Kleid. Sowohl Reither als auch Palm sprechen von ihren Mädchen. Das eine Mädchen wurde abgetrieben, das andere schied aus der Welt durch Freitod, und so tragen beide ein gemeinsames Schicksal, ihre Mädchen verloren zu haben. Durch das Flüchtlingsmädchen werden sie erneut und sehr massiv an diese Verluste erinnert ... Auf mich wirkt es wie ein Wiedergutmachungsversuch an dem Flüchtlingsmädchen, um sich mit dem Schicksal der eigenen verlorenen Mädchen auszusöhnen … Oder aber gelten diese Szenen als eine sozial/politische Auseinandersetzung? Vielleicht sogar beides ... 

Schön fand ich den Gedanken Reithers, als es um die Herkunft eines Afrikaners ging, und er sich fragte, aus welchem Land dieser kommen würde:
Der Afrikaner, oder woher sollte er sonst kommen - aus der Wiege der Menschheit ...
Gerade im Hinblick des Rassismus, der zurzeit durch die vielen Flüchtlingsströme in ganz Europa grassiert, Deutschland nicht ausgenommen, passt dieses Zitat wie angegossen.


Nachtrag:

Einem Preisträger zu widersprechen fällt mir schwer ...

Ehrlich gesagt, ich habe mich schon gefragt, was denn jetzt zu diesem Buchpreis geführt hat? Ist das die Flüchtlingsthematik gewesen, die doch recht einseitig in schwarz und weiß-Facetten behandelt wurde? Oder die Beziehung zwischen Reither und Palm? Oder das ganze Buch an sich?

Stehen Reither und Palm als die Stellvertreter der Deutschen, die als die besseren Menschen dargestellt werden, weil sie alles geben, um das Kind zu retten, während die ItalienerInnen hierbei recht schlecht abscheiden, als ein Gastronom in Sizilien, der die Polizei ruft, um das bettelnde Kind abführen zu lassen. Ist das hier nicht auf beiden Seiten ein bisschen zu stereotypisch, indem die/der Deutsche immer wieder in die Geber- und in die Retterrolle abtriften, während der  herzlose Italiener sogar Kinder einbuchten lässt. Für mich schon. 

Im Folgenden füge ich hier einen Link ein, den ich durch Anne-Marit durchbekommen habe. Ein recht kritischer und interessanter Artikel zum Buch und zum Buchpreis aus der Sicht des Bayrischen Rundfunks. Der Artikel bezieht sich auch auf den Buchtitel "Widerfahrnis". Des Weiteren ist noch ein Video hinterlegt.

Auch wenn in der Novelle nicht explizit steht, dass die ItalienerInnen die schlechteren und die Deutschen die besseren Menschen sind, verleitet die Erzählung durch die verschiedenen Handlungen dazu, solche Gedanken zu entwickeln. Im Forum sprach ich von professionellen, organisierten Kinder-Bettlerbanden aus den Süd-Ost-Europäischen Ländern aber von dem Gedanken bin ich wieder abgekommen, denn später wurde deutlich, welcher Herkunft das Mädchen ist. Und selbst die Theorie, dass der Gastronom deshalb die Polizei gerufen hat, weil er sich vor den Bettlerbanden schützen müsse, ist auch nur eine Interpretation, steht nirgends, lässt sich auch nicht an gewissen Textstellen ableiten, weshalb ich von dieser Theorie wieder abgekommen bin.

Um dies an verschiedenen Handlungen festzumachen, ist es Reither, der dem Mädchen seine letzten Münzen vergibt, weil er, was Bares betrifft, nur noch über einen zwanzig Euro Schein verfügt, so ist es Palm, die ihn dazu bringt, das Letzte, was er hat, herzugeben.
Später laden sie das Mädchen zur Übernachtung in ihr Hotelzimmer ein, da ist Palm völlig selbstlos, während Reither Befürchtungen hegt, in der Nacht von dem Mädchen ausgeraubt zu werden, aber Palm gibt nicht nach. Am nächsten Morgen gehen sie zu dritt shoppen, und das Mädchen wird komplett neu eingekleidet. Zwischen Palm und Reither entstehen Gefühle einer Kleinfamilie ... Als schließlich Palm Reither dazu bringt, das Mädchen mit ins Auto zu nehmen, mit der Absicht, ihr in Deutschland ein sicheres Leben zu ermöglich. Auch hier ist es wieder Reither, der kritisch ist und macht auf die möglichen Gefahren aufmerksam, die mit der Rechtslage der Flüchtlinge zu tun haben könnten. Doch Palm ist bereit, dieses Risiko einzugehen, während Reither sich ihr fügt, bis schließlich die Situation aus den Fugen gerät ...

Also, noch selbstloser kann man gar nicht mehr sein. Deswegen kommt hier der gute, deutsche Mensch sehr stark zur Geltung. Allerdings tendiere ich doch mehr zu der psychoanalytischen Sichtweise, dass das Mädchen, das Kind, als Substitut für das eigene, verlorene Mädchen steht, s. oben ...

Außerdem, besteht in der deutschen Gesellschaft die weit verbreitete Theorie, dass Deutschland das Sozialamt der ganzen Welt sei. Und die Theorie, dass in Deutschland lebende AusländerInnen deutsches Geld (deutschen Euro) erhalten würden, und reisen die Deutschen dagegen ins südliche Ausland, dann lassen sie dort ihre deutschen Euros, weshalb ich vielleicht durch diese in der Gesellschaft weit verbreiteten naiven Theorien überaus sensibel reagiere. Der Deutsche, der immer gibt, der Ausländer, der nur die Hand aufhält ...

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Acht von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich beim Forumsbetreiber Watchareadin für dieses zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken, der von dem Verlag Frankfurter Verlagsanstalt für die UserInnen dieser Plattform Rezensionsexemplare zugestellt bekommen hat.

Es fand eine rege Diskussion in der Leserunde statt. Hier geht es per Mausklick auf die Leserunde.

Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt (1. September 2016)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3627002288

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Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern …
(Bodo Kirchhoff)

Gelesene Bücher 2016: 60
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Gelesene Bücher 2011: 86




2 Kommentare:

Querleserin hat gesagt…

Liebe Mirella,
hinterlasse die Antwort zu deinem Kommentar zu meinem Post auf deinem. Ich sehe das mit den Stereotypen nicht so wie du. Reither wird mitnichten als positiver Deutscher dargestellt. Er will das Mädchen eigentlich los werden und auf der Fähre benimmt er sich unmöglich dem Kind gegenüber. Der Wirt hat sicherlich schlechte Erfahrungen mit Kinderbanden gemacht...dass die Italiener als "Böse" dastehen, habe ich nicht so empfunden. Mich hat die Sprache fasziniert und die Meta-Ebene...dieser ironische Blick auf das eigene Erzählen hat mich überzeugt - unabhängig von den Handlungen der Figuren, die jede/r für sich beurteilen darf. Unterschiedliche Assoziationen hervorzurufen, ist doch auch das Schöne an Literatur.

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Ich finde, Reither gibt immer nach, willigt immer ein, passt sich zu sehr Palm an, die starke mütterliche Gefühle hegt ... Ich habe nun in meiner Buchbesprechung es anhand von den verschiedenen Handlungen näher erläutert, was zu meiner Sichtweise geführt hat. Nun müssen wir, liebe Tina, mit diesen unterschiedlichen Meinung eben leben.
Gruß, Mirella