Sonntag, 21. August 2016

Benedict Wells / Becks letzter Sommer (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen, aber man merkt, dass es Wells erster Roman ist. Auch von der Struktur her, speziell am Schluss, so hatte ich den Eindruck, konnte er nicht so leicht das Ende finden; vielleicht  hatte er ein Problem, sich von seinen Figuren zu lösen ...

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Beck ist nicht zu beneiden. Mit der Musikerkarriere wurde es nichts, sein sicherer Job als Lehrer ödet ihn an, und sein Liebesleben ist ein Desaster. Da entdeckt er in seiner Klasse ein unglaubliches Musiktalent: Rauli Kantas aus Litauen. Als Manager des rätselhaften Jungen will er es noch mal wissen, doch er ahnt nicht, worauf er sich da einlässt ... Ein tragikomischer Roman über verpasste Chancen und alte Träume, über die Liebe, Bob Dylan und einen Road Trip nach Istanbul. Ein magischer Sommer, in dem noch einmal alles möglich scheint.
Ich bin sehr gut in die Geschichte reingekommen und der junge Wells schafft es wirklich gut, sich mit einfachen Worten interessant auszudrücken.  

Die drei Protagonisten waren aus meiner Sicht schräge Figuren. Der Gymnasiallehrer Robert Beck fällt sehr auf. Ich habe noch nie so einen Lehrer erlebt, der es absolut nicht schafft, die professionelle Distanz zu seinen SchülerInnen zu wahren. Hierbei schlägt der Lehrer stark über die Stränge.

Und trotzdem habe ich sehr über das Buch geschwärmt, denn ich fand den Roman dennoch recht spannend. Ich habe mich auf keiner Buchseite langweilen müssen.

Bevor die eigentliche Geschichte beginnt, befindet man sich in Becks Gegenwart, der mittlerweile in Neapel lebt. Nach einer Seite wird man allerdings wieder nach Deutschland geführt, genauer gesagt nach München, wo man Teil des Alltags dieses Becks wird. Am Ende des Buches befinden wir uns wieder in Neapel und die ganze Story wird rund. Diese Art von Struktur hat mir gut gefallen.

Beck, 37 Jahre alt, ist ein recht frustrierter Gymnasiallehrer, der mitten in einer Midlifecrisis zu stecken scheint. Das ist auch kein Wunder, denn an der Schule, an der er unterrichtet, war er selbst Schüler. Auch sein Vater unterrichtete schon an diesem Gymnasium. Diesbezüglich zeigt sein Leben wenig Bewegung, auch wenn er es zuvor mit der Musik in einer Band probiert hat und er darin kläglich gescheitert ist, da er auch hier über das jämmerliche Mittelmaß nicht hinauskommt. Beck hinterfragt permanent sein Leben und selbst als Lehrer bezeichnet er sich als Durchschnitt, frustriert darüber, dass er es nicht schaffen würde, in seinem Leben etwas ganz Außergewöhnliches auf die Beine zu stellen:
Ich bin zu dumm für die Klugen und zu klug für die Dummen. (2009, 204).
Rauli Kantas, 17 Jahre alt, ist Becks Schüler und ein noch verstecktes Musiktalent. Rauli kommt ursprünglich aus Litauen und spricht schlecht Deutsch. Seine Familie ist mittellos, seine finnische Mutter gestorben, Vater arbeitslos ... In der Schule ist Rauli sehr schwach und es droht nach der Zeugnisübergabe seine Schulentlassung. Beck unterrichtet in Raulis Klasse Deutsch und Musik.

Dann gibt es noch den 27-jährigen Charlie, auch ein absoluter Versager und er scheint in der Selbstfindungsphase steckengeblieben zu sein. Charlie, dunkelhäutig, spielte einst mit Beck in einer Musikband, die aber aufgelöst wurde, da sie sich auf dem Musikmarkt nicht durchsetzen konnte. Charlie entwickelt sich immer mehr zu einem nervigen Hypochonder …

Zwischen diesen drei Protagonisten bildet sich ein Dreiergespann; Personen, die durch Robert Beck zusammengefügt werden, und sich, durch Charlie initiiert, zu dritt von jetzt auf gleich mit Becks Schrottauto auf eine abenteuerliche Reise in die Türkei begeben, damit er diese Reise nicht alleine machen musste …

Beck lernt die 27-jährige Studentin Lara kennen, und merkt erst mit der Zeit, was er an ihr hat. Denn Beck ist alles andere als beziehungstauglich. Ständig läuft er davon, sobald Probleme in der Paarbeziehung aufkommen …
Beck verliebt sich zudem auch in seine 17-jährige Schülerin Anna Lind und erfährt in einem Schülerinnengetuschel, dass Anna Lind in Robert Beck verliebt ist. Beck belauscht beinahe unbemerkt den Gesprächen ... Doch auch Rauli verliebt sich in Anna und es kommt zwischen Beck und Rauli zu einem Konflikt, der aber mehr im Stillen ausgetragen wird, weitestgehend zumindest …

Beck ist nicht nur auf Anna eifersüchtig, sondern auch neidisch auf Raulis Musiktalent, das überdurchschnittlich sei. Beck fördert aber den Jungen auf dem Gebiet der Musik, trifft sich auch privat mit ihm und nimmt immer mehr die väterliche Rolle ein, die auch bei den anderen Jungen und Mädchen mittlerweile bekannt wird und stößt dabei auf das Gespött seiner SchülerInnen ... Spätestens hier hätte der Schulleiter Beck zur Rede stellen müssen.
Rauli führt ein Außenseiterleben, konsumiert Drogen, schreibt viele Zettelchen … Beck, der Möchtegernvater, lauert ihm auf, um mehr seinem sozialen Leben auf den Grund zu gehen …

Wer mehr über diese Geschichte und diesen Menschen erfahren möchte, dem empfehle ich zu diesem Buch.


Mein Fazit?

In dem Roman findet man jede Menge Weisheit, tiefgründige Gedanken und viele englischsprachige selbstgeschriebene Songs. Ich liebe zwar Musik, ich kenne mich aber mit der Musikwissenschaft viel zu wenig aus. Ich könnte jetzt nicht auf Anhieb sagen, ob ein Musiker Talent hat oder nur Durchschnitt ist, weshalb ich über die Musik hier wenig geschrieben habe. Aber die Musik nimmt in diesem Roman einen großen Raum ein, den ich auch als Musikunkundige trotzdem interessant fand.

Zudem hat mir persönlich ein Gedanke in diesem Buch besonders gut gefallen, den ich einfach hier festhalten muss. Die Frage, die sich Rauli stellt: Ist, wer gedankenbegabt ist, automatisch auch gedankengefährdet?

Dies fand ich sehr schön, denn ich kenne einige Menschen, die von sich behaupten, sie hätten Schwierigkeiten, sich über etwas, z. B. über ein gelesenes Buch, Gedanken zu machen. Ich kenne diese Schwierigkeit überhaupt nicht, denn mir geht es ein bisschen wie Rauli. Es denkt in mir von allein, ich muss nicht viel nachdenken, die Gedanken kommen immer von selbst, bei jedem Thema … Und ob man gedankengefährdet ist, könnte ich sogar bejahen, wenn man innerlich ganz unruhig wird, weil zu viel da ist und zu viel nachkommt, und man noch nicht fähig ist, diese von selbstkommenden Gedanken in Worte zu fassen. Danke, lieber Benedict Wells, für diesen wiederum so tollen Gedanken.

Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen, lediglich manche Szenen waren mir zu realitätsfremd. Dass ein Lehrer so stark in die Privatsphäre seines Schülers dringt, fand ich ein wenig surreal. So etwas spricht sich im wirklichen Leben normal in der Schülerszene recht schnell rum, penetrante Begebenheiten, die bis zu den Ohren des Schuldirektors dringen würden, der dem Lehrer Konsequenzen androhen müsste. Auch die abenteuerliche und eigentlich die kopflose Reise in die Türkei fand ich wenig glaubwürdig. Einem Charlie traue ich das zu, einem 17-jährigen Schüler auch, aber keinem Menschen, der vom Bildungsniveau wie Beck gestrickt ist.

Deshalb neun von zehn Punkten.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Weitere Informationen zum Buch:

Für dieses zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar möchte ich mich recht herzlich beim Diogenes Bücherverlag bedanken.

Taschenbuch
464 Seiten
erschienen am 01. Dezember 2009

978-3-257-24022-1
€ (D) 12.00 / sFr 16.00* / € (A) 12.40
* unverb. Preisempfehlung

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6 Kommentare:

Querleserin hat gesagt…

Liebe Mirella,
schöne Rezension, werde den Roman auf jeden Fall lesen. Aber du glaubst gar nicht, wie vielen Lehrern und Lehrerinnen die professionelle Distanz fehlt.
LG Tina

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Ja, ich weiß. Ich selbst hab's noch nie erlebt. Sagen wir es mal so, nicht in dieser Schärfe wie in Wells Roman.

Ina Degenaar hat gesagt…

Liebe Mirella,
deine Rezi hat mir gut gefallen. Über das Buch haben ja schon etliche Blogger positiv geschrieben, vielleicht sollte ich es auch endlich mal lesen.
Hinsichtlich des Fehlens der professionellen Distanz stimme ich Tina zu: Ich habe so etwas als Kind bei mir selbst erlebt, als Lehrer in meiner Grundschule der Meinung waren, meine Eltern würden mich auf die falsche Schule schicken wollen. Mein Musiklehrer hatte damals sogar bei uns im Wohnzimmer gesessen, um meine Eltern umzustimmen. Es ist ihm aber zum Glück nicht gelungen.
Auch im Schulleben meiner Kinder hat es Lehrer gegeben, die sich sehr unprofessionell verhalten und sich regelrecht bei den Schülern angebiedert haben. Das Repertoire eines dieser Lehrer reichte von kumpelhaftem Getue über Telefonanrufe auf dem Handy der Schüler (es waren nur Jungs betroffen) bis zu Einladungen in Bistros oder zu McDonald's nach der Schule. Vor allem jüngere Schüler waren davon betroffen. Als der Schulleiter davon erfuhr, wurde der Lehrer nur noch in höheren Jahrgängen eingesetzt. Das war's.
Also, ich überlege noch, ob ich das Buch auf meinen SuB lege.
LG, Ina

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Danke, liebe Ina,

für deinen interessanten Kommentar über den ich mich sehr gefreut habe. LehrerInnen sind eben auch nur Menschen, mir ging es einfach nur um die Intensität dieser Grenzüberschreitung. Lest das Buch und dann können wir uns nochmal unterhalten. Ich selbst arbeite auch mit Menschen, mit psychisch kranken Menschen und die Einhaltung der professionellen Distanz ist in meiner Arbeit immer Thema. Ich könnte meinen Job nicht mehr ausführen, wenn sich die Grenzen zu sehr vermischen würden. Vielleicht habe ich einen zu hohen Anspruch an alle Berufe, die mit Menschen arbeiten. Ich hätte auch schreiben können, boa was für ein toller Lehrer, der setzt sich ja für seine Schüler ein. Dann könnte man mir Naivität vorwerfen. Aber wie gesagt, lest das Buch.

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Huhu Ina und Tina, ich habe mir soeben die DVD zu dem Buch gekauft. Ich bin auf den Film auch sehr gespannt. Werde morgen erst dazu kommen, ihn mir anzuschauen. Gebe euch dann noch ein Feedback zu dem Film.

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Huhu, ihr Lieben,

ich habe mir heute die Buchverfilmung angeschaut, und mir kam das Buch viel authentischer und tiefsinniger vor. Ich hatte meine Bilder schon im Kopf, jetzt herrscht nach dem Film ein wenig Chaos. Schon der Anfang war ganz anders, viele Szenen wurden vermischt, hielten nicht die Reihenfolge ein, wie man sie im Buch erlebt hat. Auch die Beziehugsdynamik zwischen Beck und Lara, und zwischen der Schülerin, Beck und Rauli kam nicht gut rüber. Das Problem mit dem Missachten der professionellen Distanz habe ich im Film nicht so intensiv erlebt wie im Buch. Insgesamt bin ich froh gewesen, erst das Buch und dann den Film gesehen zu haben. Ich hätte aber zwischen diesen beiden Medien noch etwas warten sollen. Ich war über den Film ein wenig enttäuscht und gelangweilt, dass ich vorzeitig abbrechen wollte. Aber die Filmemacher waren sehr bemüht, sich an das Buch zu halten.