Samstag, 19. März 2016

Joachim Meyerhoff / Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Der vorliegende Band von Meyerhoff hat mir sehr gut gefallen. Von allen drei Bänden fand ich den letzten am spannendsten. Manche Szenen fand ich ein wenig zu detailliert, weshalb ich einen Punkt abgezogen habe.

Ich verfolgte mit großem Interesse Joachims Ausbildung auf der Schauspielschule. Das ist, als würde man hinter die Kulissen der werdenden SchauspielerInnen schauen. So eine Ausbildung, sie ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Ein dickes Fell braucht man dafür schon, wie man aus dem Kontext entnehmen kann ...

In Alle Toten fliegen hoch, dritter Band, habe ich damit gerechnet, dass auch in diesem Band Familienmitglieder sterben. Und ich behielt recht. Da ich aber nicht zu viel verraten möchte, so halte ich mich hierzu bedeckt.

Auch das Leben der Großeltern fand ich interessant, obwohl sie doch auf ihre Weise ein recht spießiges Leben führen. Ihnen ist der Luxus in ihrem Haus fast lieber, als Menschen, von denen sie besucht werden. Gepolsterte Sitzgarnituren werden z. B. mit maßgefertigten Plastikhüllen abgedeckt, wenn sich Kinder in ihrer Villa aufhalten. Die Großeltern sind so eigen, so speziell, dass ich doch recht oft über ihr Verhalten vor mich hin schmunzeln musste. Zum Beispiel mussten die Ruhezeiten über den Tag verteilt strikt eingehalten werden. Niemand durfte sich zu diesen Zeiten bewegen, auch der junge Enkel nicht.

Joachims Schauspielschule befindet sich in München, sodass er von Norddeutschland in den Süden ziehen musste. Da er in München aber keine bezahlbare Wohnung finden konnte, durfte er sich in der Villa seiner Großeltern einquartieren. Er bekam das rosa Zimmer. Das rosa Zimmer muss man sich so vorstellen, dass die Gardinen, die Bettwäsche, Tücher... alles in rosa geschmückt wurde. In dem Zimmer durfte der Enkel nichts verrücken, nicht im Geringsten etwas verändern. Er durfte in dem Zimmer nichts Persönliches gestalten. In dem rosa Zimmer fühlte sich Joachim wie in einem Hotelzimmer ...

In dem Villenviertel sind auch die Nachbarn recht speziell. Auch sie waren schon sehr alt, und auch ihnen galt die Stille als das höchste Gut. Sie haben sich stumme Hunde angeschafft, die nicht laut kläffen konnten. Extra gezüchtet. Ich habe keine Ahnung, ob es tatsächlich solche gezüchteten Hunde gibt, ich gebe nur wieder, was ich gelesen habe.
Schon oft hatte ich mir ausgemalt, wie ein Einbrecher über diesen Zaun klettern und von den stummen Hunden angefallen werden würde. Mucksmäuschenstill würden sie sich auf ihn stürzen und ihn mit spitzen Zähnen innerhalb von Sekunden, ohne dass er auch nur hätte schreien können, bis auf die Knochen abnagen und diese dann im Garten vergraben. 
Joachims Ausbildung auf der Schauspielschule verläuft unverändert kompliziert. Die meisten LehrerInnen sind mit ihm sehr unzufrieden. Joachim ist psychisch gesehen dermaßen blockiert, und er schafft es nicht, sich von den Blockaden zu befreien. Mehrfache harte Kritik musste Meyerhoff sich von den DozentInnen gefallen lassen.

Meyerhoff ist, wie wir LeserInnen auch, ein leidenschaftlicher Buchliebhaber. Er brachte es sogar fertig, sich in ein Buch zu verlieben. Das imponierte mir. Er besuchte die größte Buchhandlung Münchens und machte die Bekanntschaft mit den Büchern von Carson McCullers. Ich habe mich darüber sehr gefreut, denn Carson McCullers zählt zu meinen Lieblingen. Durch mein McCullers-Leseprojekt habe ich alle ihre Romane gelesen. Meyerhoff hat sich mit dem Roman Uhr ohne Zeiger eingedeckt ... Ein Abenteuer erlebt Meyerhoff mit einem für ihn recht teuren Bildband. Er traut sich und klaut sich das Buch. Jede BuchliebhaberIn kommt früher oder später in solch eine Versuchung, der sie schwer oder gar nicht widerstehen kann.

Dazu ein Zitat:
Bis heute ist mir meine Entscheidung, den Fotoband nicht zu kaufen, sondern zu klauen, rätselhaft geblieben. Natürlich waren achtundvierzig Mark eine Menge Geld für mich, und doch wäre es ein Leichtes gewesen, zu meinen Großeltern zu sagen: >>Ich habe einen so tollen Fotoband gesehen und hab im Moment nicht genügend Geld. Könnte ich mir das vielleicht von euch leihen?<< Meine Großeltern hätten sich angelächelt und gefragt: >>Wie teuer ist er denn?<< Der von mir genannte Preis hätte sie nicht im Mindesten überrascht oder gar erschreckt. Wer Pinienkerne für acht Mark das Döschen
kauft, um damit Rotkehlchen zu füttern, dem können achtundvierzig Mark für einen Fotoband kaum mehr als ein liebevolles Nicken entlocken. Aber ich konnte sie nicht fragen, ich wollte es nicht. Ich wollte daran glauben, dass ich keine andere Wahl hatte, als das Buch zu stehlen. Ich wollte etwas Irrationales tun.  
Dazu, lieber Joachim, fällt mir folgendes Zitat ein:
Ein Buch, das nicht wert genug ist, gestohlen zu werden, ist  auch kein gutes Buch.
Irgendjemand von den Verlagen hat dies mal verlauten lassen, habe aber vergessen, von welchem Verlag dieses Zitat stammt.

Ich möchte damit aber niemanden zum Stehlen animieren. 
Und dann gab es noch einen weiteren und letztlich alles entscheidenden Grund für meine Absicht, den Fotoband nicht käuflich zu erwerben. Ich musste der Bedeutung, die die Bilder für mich in den letzten Tagen bekommen hatten, etwas entgegensetzen, das ein wenig Größe hatte, ein Wagnis war, und mich durch den Diebstahl wenigstens ansatzweise als ein den Fotografien Ebenbürtiger erweisen. Ich wollte nicht mit geliehenem, großbürgerlichen Großelterngeld bezahlen! Ich wollte auf eigenen Füßen stehen und stehlen gehen. Hunderte von abenteuerlichen Bildern auf abenteuerliche Weise in meinen Besitz bringen. 
Und wie dieses Abenteuer ausgeht, verrate ich nicht. Aber es ist spannend.

Ich mache hier nun Schluss. Zu den Großeltern habe ich ja nun wirklich wenig geschrieben. Die Episoden mit den alten Leuten waren manchmal sehr humoristisch dargestellt. Ja, es macht Spaß, diese zu lesen, auch wenn manche Szenen auch Ärger bereiten konnten, weil die Großeltern eben auch sehr zwanghafte Züge in ihrem Auftreten aufwiesen. Und diese vielen Zeremonien, ganz besonders wie der Konsum von Alkohol zelebriert wurde, denen sich Joachim angeschlossen hat, waren auch recht lustig.

Manchmal waren mir einige Szenen viel zu detailliert, weshalb das Buch von mir nur neun von zehn Punkten erhält.

Mein Fazit?

Die Bände eins bis drei bauen nicht aufeinander auf. Man kann sie voneinander unabhängig lesen. Ich habe ganz brav die Reihenfolge beachtet und war schließlich enttäuscht, dass die Bände nicht voneinander abhängig waren … Eine Chronologie gibt es auch nicht. Die Einteilung in drei Teilen ist eigentlich überflüssig. Der Autor hat sicher ein großes Interesse daran, dass die LeserInnen alle Bände kaufen, so wie ich es getan habe. Mit dieser Erfahrung würde ich mir einen vierten Band nicht mehr zulegen wollen. Bin nun mehr als gesättigt.

Adieu, Joachim Meyerhoff!
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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


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