Dienstag, 2. Juni 2015

Sandro Veronesi / Stilles Chaos (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe das Buch am Sonntagnachmittag beendet und bin gar nicht traurig drum. Es ist ein wenig langatmig gewesen und so hatte ich zwischendrin immer mal wieder ein paar Durststrecken zu überwinden. Das Buch ist nicht nur schlecht, es ist aber auch nicht nur gut gewesen. Nichtsdestotrotz, ein literarisches Epos wird  dieses Buch nie werden.

Der Schluss hat mir am besten gefallen. Mir fehlte in dem Buch ein wenig die Weisheit, gute Gedanken vermisste ich und so langweilte ich mich etwas über den stereotypen Alltag der Leute und deren Dialoge, die mir ein wenig zu flach vorkamen. Nun wurde ich am Ende etwas entschädigt.

Was mir gut an dem Buch gefallen hat, ist, man hat das Gefühl gehabt, in Italien zu sein. Habe ich sehr genossen, da ich Italien nur vom Urlaub her kenne und mir der Alltag dort recht fremd ist. Des Weiteren habe ich es genossen, dass die Italiener mal bunt dargestellt wurden. Blonde Haare, rote Haare, schwarze Haare, von allem war etwas dabei. Dann wurden die Italiener als sonnengebräunt dargestellt und nicht von Geburt an olivefarben, wie man dies reihum von deutschen Autoren her kennt, wenn sie versuchen, Italiener in ihrem Roman im Aussehen und in der Charakterisierung zu beschreiben. Sie stecken gerne alle Südländer in einen Topf.
Ich kaufe mir kein Buch mehr von einem Deutschen, der ein Roman über die Italiener schreibt. Das möchte ich nicht mehr.

Was mir nicht gefallen hat, ist, dass mir der Protagonist und Icherzähler Pietro Paladini, von Beruf Manager, zu sexistisch aufgetreten ist, nicht in Form eines Machos, nein, eher in Form der Darstellung seiner tiefsten, innersten sexuellen Erlebnisse, die mir nicht immer real erschienen sind. Zu voyeuristisch, und gleichzeitig zu aufgesetzt. Einfach zu dick aufgetragen. Es hat mich nicht interessiert, wann Pietros Penis in seinem Alltag steif wurde. So plump ist er mit diesen Begriffen umgegangen. Seine Erektion begann schon gleich zu Beginn der Geschichte, als er einer ertrinkenden Frau aus dem Meer zu retten versuchte ...
Das war nur ein kleines Beispiel, im Buch gibt es diesbezüglich noch mehr zu lesen.
Dazu waren mir viele Dialoge einfach zu flach, zu gewöhnlich und manchmal zu hypnotisch.

Zur Erinnerung gebe ich noch einmal den Klappentext rein:
Über den Mut, seiner inneren Stimme zu vertrauen. Dieser Roman ist dicht und tiefgründig, aber auch rasant und unterhaltsam. Die äußeren Umstände sind ansprechend – ein erfolgreicher Geschäftsmann aus Mailand und seine süße Tochter stehen im Mittelpunkt – die inneren Umstände allerdings sind tragisch: Pietro hat seine Freundin verloren, an dem Tag und möglicherweise in dem Moment, als er eine fremde Frau vor dem Ertrinken rettet. Als er mit seinem Bruder zurück zu ihrem gemeinsamen Ferienhaus kommt, steht dort der Krankenwagen, seine Freundin ist an einer Hirnblutung vor den Augen der gemeinsamen Tochter gestorben. Dass dies alles wenige Tage vor der Hochzeit des Paares geschieht, sorgt kurzfristig für tiefe Betroffenheit. Doch dann nimmt uns Sandro Veronesi, der Autor von „Stilles Chaos“, mit in die Großstadt und in den italienischen Alltag.
Was ich sehr außergewöhnlich fand, ist, dass Pietro drei Monate lang vor der Schule seiner Tochter Claudia den ganzen Tag auf sie bis Schulschluss gewartet hat, ohne zu merken, dass dieses Verhalten seiner Tochter auf Dauer nicht gut tun kann, da sie von ihren Mitschülern deswegen aufgezogen  wird. Pietro und Claudia hatten, wie im Klappentext schon hervorgeht, durch den Todesfall eine Trauer zu überwinden. Pietro hatte die Absicht, seiner Tochter diese innere Leere zu nehmen, die durch den Tod und durch das Fehlen der Mutter entstanden sein muss. Doch wie sie beide mit der Trauer umgehen, Vater und Kind, ist für die italienische Gesellschaft sehr befremdlich. Sowohl Claudia als auch Pietro hatten nach dem Todesfall keine Tränen vergossen und wirkten beide nicht traurig, obwohl der Schock vor allem bei dem Kind recht tief sitzt, wie sich dies am Ende des Buches herausstellte. Man kann die Liebe, die ein Kind für seine Mutter empfindet, nicht an der Anzahl vergossener Tränen messen. Diese scheinbare Emotionslosigkeit erschreckte viele Leute, und so macht der Buchtitel Stilles Chaos Sinn. Jeder meint zu wissen, wie Trauer ausgelebt werden sollte. Am besten sichtbar für alle. Und einige empfehlen dem Vater und der Tochter eine Trauertherapie oder eine langwierige Psychoanalyse. Pietros Schwägerin Martha zum Beispiel war so dreist, Vater und Kind vorzuwerfen, sie würden beide die verstorbene Mutter und deren Lebenspartnerin namens Lara nicht ausreichend geliebt haben …
Doch eigentlich war der Vater zu sehr mit sich selbst beschäftigt und die Tochter spürte dies und passte sich seinem Empfinden an …

Deutlich wurden auch die beruflichen Probleme im Managerbereich, die man auch von Deutschland her kennt. Pietros Firma sollte mit einer anderen Firma fusioniert werden. So schnell, wie man aufgestiegen ist, so schnell konnte man wieder fallen … Das Buch beschreibt viele Probleme, die typisch sind für die westliche Welt ...

Am Ende macht Pietro folgende Erkenntnis:
Es ist übrigens nicht wahr, dass Claudia nicht leidet: Ihre Mutter ist gestorben, und sie muss viele Dinge allein begreifen und mit sich selbst abmachen und mir sagen, was ich tun soll, und das ist Leiden. Und du hast recht gehabt, Martha, auch mir geht es schlecht. Seit Lara gestorben ist, habe ich mich vor dieser Schule niedergelassen und mich nicht mehr weg bewegt und die anderen mit ihrem Leid zu mir kommen lassen und mein Leben auf null zurückgefahren-und das ist offensichtlich meine Art zu leiden. Wenn ich nicht tiefer leide, wenn ich nicht völlig am Ende und verzweifelt bin, dann nur deshalb, weil ich ein oberflächlicher Mensch bin, und oberflächliche Menschen können keine tiefen Erfahrungen machen. (…) Da ich so oberflächlich bin, habe ich die Dinge vor Augen und sehe sie nicht. (…) Ich brauchte jemanden, der mir die Augen öffnete. Meine Tochter hat sie mir geöffnet. Das musste sie tun, aus Verzweiflung, denn so, wie ich war, war ich ein Problem. Sie musste mir die Dinge sagen, die ich allein nicht verstehen konnte. Papa, hat sie zu mir gesagt, du musst wieder arbeiten; und wenn du die Arbeit, die du hattest, verloren hast, hat sie zu mir gesagt, musst du eine andere finden. Du musst an unsere Zukunft denken, Papa. Du musst dich um Mamas Auto kümmern, du musst melden, dass es kein Nummernschild mehr hat, und es abholen lassen. (…) Du musst achtgeben, dass ich nicht schwitze und nass werde, wenn es kalt ist, du musst mich beschützen. 
Ich mache hier nun Schluss. Das Buch bietet noch jede Menge andere Themen, die jeder Leser sich selbst aneignen darf.

Ich habe gehört, dass es zu dem Buch eine Verfilmung gibt. Leider habe ich sie nicht finden können, aber ich könnte mir vorstellen, dass der Film besser als das Buch ist, da die Handlungen sich schauspielerisch gut umsetzen lassen.

Das Buch erhält von mir sechs von zehn Punkten.
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Alleinsein hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R. Moehringer)

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