Mittwoch, 31. Dezember 2014

Ursula Priess / Mitte der Welt (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Das Buch hatte erst ganz gut angefangen, aber dann hat es mich nicht mehr so gereizt. Denn ich werde hier mit Klischees und Vorurteilen den TürkInnen gegenüber konfrontiert, die ich eh schon alle kenne. Aber wahrscheinlich ist das eher eine Taktik, um zu zeigen, wie Menschen anderen Menschen gegenüber begegnen.

Folgendes Zitat fand ich sehr schön:
Die Menschen mit ihren Gesichtern - ich schaue sie in mich hinein, ich weide sie ab, ich verschlinge sie. Fresse ich ihnen die Seele aus dem Leib?
Ach nein! Ganz im Gegenteil! 
Die Protagonistin hat keinen Namen. Das Buch ist auch keine Erzählung, kein Roman oder dergleichen. Es ist eine Anhäufung von Beobachtungen zu Menschen, die auf Istanbuler Straßen wandeln. Bekannte und unbekannte Gesichter. Diese Beoabachtungen werden von einer Frau beschrieben. Auch wenn ich denke, dass diese Frau die Autorin selber ist, passe ich mich dem Klappentext an, und bezeichne die Beobachterin auch als Eine Frau, die aus Europa kommt, um in der Türkei zu leben. Zurückgelassen hat sie ihre Heimat, aber mitgenommen hat sie das Weltbild, das westlich geprägte Weltbild, das sie nun auf diese Menschen, TürkInnen, bewusst / unbewusst überträgt.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Eine Frau ist in Istanbul auf der Suche nach der Mitte der Welt. Was sie findet, sind Geschichten von Künstlern und Schriftstellern, von Gemüsehändlern und Antiquitätenverkäufern, von einem Gefängnisarzt, der Ulysses liest. Und vom Geliebten, der die Geliebte Granatapfelblüte nennt – und zum Ende hin fragt: Wirst du später einmal, wenn du über Istanbul schreibst, auch über uns und unsere Liebe schreiben? Und auch von jener Übersetzerin, die weiß: Wer über andere schreibt, sagt am meisten über sich selbst!
Man merkt sehr deutlich, dass die Frau in dem Buch mit ihrem westlich geprägten Weltbild an das Thema Türkei und ihre Menschen herangeht. In dem Buch gibt es nur kopftuchtragende Türkinnen. Sie spricht nicht von Türkinnen, die ohne Kopftücher leben. Das gefällt mir gar nicht, weil diese Wahrnehmung recht verzerrt ist. Tatsache ist, dass viele Türkinnen sehr wohl auch ohne das Kopftuch leben. Erstrecht in Istanbul. Istanbul ist eine Weltstadt und die türkischen Menschen dort sich nicht so sehr von unserer westlichen Lebensweise unterscheiden. Und überhaupt, warum stören wir uns daran? Weshalb müssen immer wieder Debatten über das Kopftuch gehalten werden? Man sieht vor lauter Kopftuch den Menschen nicht mehr.

Auf irgendeiner Seite wollte diese Frau mit einer anderen Frau über das Kopftuch sprechen, aber die Gesprächspartnerin winkte ab, ist nicht darauf eingegangen, was ich für gut halte.

Mir war das Buch erst zu wenig differenziert. Oftmals auch sehr klischeehaft. Türkische Machomänner, reihum. Ein Beispiel an Ismet:
Dass Ismet, der schöne Ismet, der alle paar Wochen eine andere Frau hat, im Bett oder im Kopf oder was weiß ich wo, dass er Angst haben sollte, kann ich kaum glauben.74
Dem Buch sind noch weitere Beispiele zu entnehmen:
Wer über andere schreibt, sagt am meisten über sich selbst! 
Das ist auch ein sehr schönes Zitat und trifft den Nagel auf den Kopf. Was sagt das Weltbild über mich aus, das ich zu anderen habe? Warum sehe ich die Menschen so, wie ich sie sehe? Und warum darf das Anderssein nicht sein? Selbst in der westlichen Welt sind nicht alle Menschen gleich und sie sehen auch nicht alle gleich aus, z.B. sind nicht alle blond und groß, auch wenn einige AutorInnen uns das so schmackhaft machen wollen.

Warum bringt diese Frau solche Beispiele? Was will sie uns damit beweisen? Steht dieser Ismet stellvertretend für alle türkischen Männer? Wenn nein, dann ist dieses Beispiel mehr als banal, denn was kümmern mich Ismet und seine Frauen im Bett? Es kann aber auch sein, dass diese Frau die vielen Vorurteile, die in Europa zu der Türkei herrschen, widerspiegeln möchte.

Machomänner. Vergessen wir, wie viele Männer im Westen Seitensprünge begehen? Still und heimlich. Darüber gibt es sogar Statistiken.

Ein anderer Türke, ein Schriftsteller, der sich danach sehnt, fleißiger zu arbeiten. Aber er genießt auch gerne das Leben. Das Leben genießen steht bei ihm im Vordergrund. Was will die Beobachterin mit diesem Beispiel beweisen? Zu wenig Ehrgeiz? Zu wenig wissenschaftliches Denken? Alles Lebemänner diese Südländer?

Ich muss an Orhan Pamuk denken, ein türkischer Schriftsteller, der so sehr darunter leidet, dass der Ruf der Türken im Westen wegen des Vorwurfs, Türken würden an ihren Traditionen festhalten und den Fortschritt dadurch behindern, angegriffen ist.

Diese Frau stellt sich aber auch den Vorurteilen, ist bemüht, sich von dem westlichen Weltbild zu distanzieren, wenn es ihr auch noch wenig gelingt.

Ihre Freundin Ingrid sieht das ähnlich wie ich:
Ingrid mag mir nicht sagen, dass mein Blick, meine Art des Schauens und Fragens, mein Staunen und Wundern, mein Lachen und Weinen über Istanbul doch immer noch sehr von außen ist, von Europa her. 44 
Genau das nehme ich an ihren Gedanken ebenso wahr. Ich empfehle dieser Frau Bücher von Orhan Pamuk zu lesen und auch das Buch von Ayse Kulin, Der schmale Pfad, über das ich vor ein paar Tagen geschrieben habe.

Die Frau ist erstaunt über die TürkInnen, die über politische Probleme öffentlich zu sprechen wagen. Politische Meinungsfreiheit? Pressefreiheit? Eine Entwicklung? Das kannte sie bisher noch nicht. Ist das neu? Eigentlich nicht, wenn man die Bücher von den Landsleuten liest. 

Nun spricht diese Frau mit ihrer Freundin Ingrid über einen kleinen Artikel aus einer deutschsprachigen Tageszeitung:
Ingrid: "Nun endlich wird auch hierzulande die Gewalt öffentlich diskutiert, in allen Medien und sehr kontrovers. Heutzutage ist es möglich! Das ist doch wunderbar! Frag deine Freunde in Deutschland, woher sie ihr Türkei-Bild nehmen. Frag sie, ob sie es aus den deutschen Medien kritiklos übernehmen und ob es nicht einseitig ist, dieses Bild, das niemals Gutes zulässt - als ob es Gutes nicht auch gäbe, überall, auch in der Türkei."
Ingrid hat natürlich recht. Es ist auch eine Frage der Perspektive. 44 
Auf Seite einundfünfzig ist ein kleiner deutschsprachiger Zeitungsartikel zu entnehmen:
„… auch der gewaltsame Tod des Journalisten U. Mumcu wird vermutlich, wie viele andere politische Morde in der Türkei, nie aufgeklärt werden, weil die Täter und ihre Hintermänner im Halbschatten zwischen Unterwelt und Sicherheitskräften gedeckt bleiben …“. Empörend, falls es so ist!Aber auch, dass fast nur so berichtet wird. 51
Ein paar Seiten später zeichnet sich eine Wende ab, die mir sehr gut gefallen hat, und schließe mit dem Zitat, da das Zitat alles enthält, was ich noch hätte schreiben können:
Längst weiß ich, dass hier in dieser Stadt die Mitte der Welt ist - wo sonst! Aber den Stein, der sie markiert, sah ich bis heute nicht. Bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal, dass die Mitte der Welt in Stein gehauen existiert. Nicht verwunderlich, hörte es, so schief wie die Welt heute hängt, dass niemand in Europa von ihrer Mitte weiß. Dort können sie sich nichts anderes vorstellen, als dass die Welt so sei, wie sie sie sehen. Weil sie nichts anderes kennen; nur ihre kleine, einseitige eindeutige Welt, deren Mitte sie selbst sind. Mehr wissen sie nicht.
Der Autorin ist es somit gelungen, sollten dies ihre Absichten gewesen sein, die vielen Vorurteile und Klischees widergespiegelt darzustellen, die wir aus dem Westen haben und auf andere Nichtwestler projizieren.

Das Buch erhält von mir neun von zehn Punkten.
_________
Das Einzige, was man besitzt, ist die Liebe, die man gibt.
(Isabel Allende)

Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Keine Kommentare: