Montag, 15. September 2014

Nadine Gordimer / Ein Mann von der Straße (1)


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Anfangs bin ich schwer in die Geschichte reingekommen, als ich dann schließlich drin war, hat mich das Buch nicht mehr losgelassen. Es gibt selten Bücher in dieser Art, was die Ausarbeitung fremder Kulturen und Migrationsthematiken betreffen. Viele AutorInnen, die z.B. über arabische und oder über südliche Länder schreiben, äußern sich eher abfällig, und meist sehr klischeehaft. Anders Nadine Gordimer, die als Weiße in Südafrika aufgewachsen ist und dort gelebt hat und viel Rassismus miterlebt haben muss. Sie schreibt respektvoll von anderen Kulturen. Frei von Klischees und Vorurteilen. Habe auch im Internet gelesen, dass sie 1991 den Literatur-Nobelpreis erhalten hat. Sie ist sehr alt geworden. Sie verstarb im Juli dieses Jahres im Alter von 91 Jahren.

Auf dem Profil sah sie schon sehr alt aus. Ich sah sie das erste Mal, als ich im Internet ein wenig über das Buch recherchiert habe, da mein Band, der von 2004 ist, schon eher als veraltet gilt. Ein ungewohntes Foto. Aber mich schrecken solche Bilder nicht ab.

Das Buch ist glücklicherweise noch immer erhältlich, allerdings im Taschenbuchformat. 

Ich habe vor, mir von der Autorin noch weitere Werke anzuschaffen.

Das Buch hat mich überrascht. Ein Ende, das nicht voraussehbar war. Und solche Überraschungen liebe ich.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Julie ist eine Tochter aus wohlhabendem Hause. Sie lebt und arbeitet in Johannesburg. Als ihr Wagen mitten im Verkehr der Großstadt den Geist aufgibt, lernt sie den hilfsbereiten Mechaniker Abdu kennen. Er hält sich illegal in Südafrika auf. Julie und Abdu verlieben sich ineinander. Als er ausgewiesen wird, folgt sie ihm in sein Heimatland. Aber Abdu hat einen großen Traum: Er will nach Amerika ...
Ein Mann von der Straße ist jemand, der kein Zuhause hatEin klassischer Obdachloser macht sich die Straße zu seiner Heimat, doch dieser heimatlose Mann ist ein anderer ...

Nun gehört Abdu auch zu den Menschen, die fast nirgends in der Welt wirklich willkommen sind, geschweige denn sich irgendwo heimisch fühlen. Selbst in seiner Heimat fühlt er sich nicht wohl. Er kommt aus einem arabischen Land, welches Land, das scheint der Autorin nicht wichtig zu sein, gibt sie zumindest nicht an, vielleicht, weil alle arabischen Länder gesellschaftlich und politisch ähnlich strukturiert sind.

Abdu hat viele westliche Länder um Asyl gebeten und wiederholt Ablehnung hinnehmen müssen. 
Inmitten der Zusammenkunft sieht Julie in dem Paar Menschen von der Art ihres Vaters, die durch die Welt ziehen, wie es ihnen gefällt, und die überall willkommen sind, während jemand anders als ölverschmierter Mechaniker verkleidet ohne einen Namen leben muss. (55)
Klar, die Reichen sind willkommen, bringen Vermögen mit, sind auf die Wohlfahrt eines Landes nicht angewiesen.

Abdu lernt in Johannesburg die dreißigjährige Julie kennen. Und es ist wie Liebe auf den ersten Blick ... Es entsteht recht schnell eine intime Bindung ...

Abdu soll des Landes verwiesen werden ... Julie setzt sich für ihn ein. Sucht Anwälte auf, von denen sie glaubt, sie könnten für ihn das Asylrecht durchboxen. Doch leider sahen die Anwälte auch keinen Ausweg im Asylgesetz. Abdu habe sich schuldig gemacht, indem er gegen das Asylrecht verstoßen habe, da er illegal eingewandert sei, Illegalität sei ein Strafgesetz, dazu noch mit einem falschen Namen. 

Abdu fliegt wieder zurück in seine Heimat. Julie zieht mit, obwohl ihr Vater sie gewarnt hatte, dass sie als Frau in einem arabischen Land keinerlei Rechte haben würde. Julies Liebe zu Abdu ist so stark, dass sie die Konsequenzen alle in Kauf zu nehmen bereit ist. 

Abdu riet ihr ebenfalls ab, da sie als eine freie junge Frau in seiner Heimat unmöglich so unabhängig leben könne wie sie es im weißen Südafrika gewohnt sei.

Julie lässt sich nicht abbringen …

Sie lernt Abdus Heimat kennen und  auch den richtigen Namen. Ich bleibe aber bei Abdu, weil der Name kürzer ist.
Abdu kommt in der Tat aus einem sehr kleinen Dorf, in dem es auch viel Wüste gibt. Die Wüste wird hier auch als eine Metapher gebraucht, die im Gegensatz zu Wasser für wenig Abwechslung und  wenig Veränderung steht.

So, hier an dieser Stelle, nachdem Julie der Familie vorgestellt wurde, erwartete ich als Leserin nun das Ringen Julies mit der Sippschaft und der fremden Kultur, wie man das so aus manch anderen Büchern und TV-Sendungen her kennt. Steinigung, Folter, Flucht, um ein paar Schlagworte zu nennen ... Schließlich verfügt jede Gesellschaft über einen sog. Sippenkodex, und dieser für Fremde zu Komplikationen und Risiken führen kann. Man hat schon so viele Bilder im Kopf ... Doch im Gegenteil. Julie integriert sich recht schnell in der Familie und in der neuen Kultur. Sie wird lieb gewonnen und hat doch keine Probleme mit Abdus Heimat. Südafrika? Dahin möchte sie nicht wieder zurück, obwohl sie aus einer wohlhabenden Familie stammt, und sie hier im Dorf ein eher ärmliches Leben antrifft.

Abdu ist es, der Probleme mit seinem Land hat:
Wahnsinn. Wahnsinn, zu glauben, dass sie es hier aushalten könnte. Er war wütend - auf dieses Haus, dieses Dorf, diese seine Leute; weil er ihr noch andere unerträgliche Dinge sagen musste, ihr ein für alle Mal sagen musste, was ihre ahnungslose Dickköpfigkeit mit ihm hierher zu kommen, bedeutete, da sie es bei all ihren Privilegien nicht geschafft hatte, dass er in ihrem Land bleiben durfte. (130)
Er ersucht nun in vielen westlichen Ländern weiterhin politisches Asyl, aber ohne Erfolg.

Er fühlt sich in der Heimat einfach nicht wohl. Sein Leben ist auf das Einfachste reduziert. Er will mehr. Er will studieren, einer richtigen Tätigkeit nachgehen, etc. und will mit falschen Göttern leben …
"Die Welt ist ihre Welt. Gehört ihnen. Regiert von Computern, vom Internet - Sieh mal hier, der Westen, einundneunzig Prozent aller Computer. Wo du herkommst, Afrika, insgesamt nur zwei Prozent, und die meisten davon in deinem Land. Das Land hier? Nicht mal genug, um in der Statistik vorzukommen!Wüste. Wenn man in der Welt vorkommen will, muss man die, wie du sagst, christliche Welt dazu bringen, dass sie einen reinlässt, das ist der einzige Weg." (167)
dass sie einen reinlässt. Dieser Satz hat mir imponiert. Macht noch mal deutlich, wie sehr man von Gesetzen eingeschränkt wird, und dass so etwas wie Freiheit nicht für alle Menschen auf der Welt existiert. Was für die Menschen aus der westlichen Welt ein Selbstverständnis ist, bleibt für viele Menschen muslimischer Herkunft nur ein Traum.

Abdu gibt nicht auf. Nach wie vor ist er zielstrebig …
Er erzählte Julie nicht, was er vom ersten Tag an tat, wenn er früh am Morgen in die Hauptstadt aufbrach. Es suchte jeden auf, den er kannte, bediente sich aller denkbaren Strategien, die ihm dabei zu Ohren kamen, um Einwanderungsvisa für jene wohlhabenden Länder der Welt zu beantragen, aus denen er noch nicht ausgewiesen worden war. Australien, Kanada, die USA, egal, nur fort von den Vorwürfen, der Schande seiner schmutzigen Heimat. (145)
Abdu ringt mit sich. Er möchte nicht das Leben seiner Vorfahren leben. Er möchte nicht das Leben leben, das die Menschen auch von der Regierung vorgeschrieben bekommen … Er möchte ein modernes Leben, er möchte eine Politik ohne Korruption. Doch nicht nur er, viele Männer seines Alters sehnen sich danach. Und sicher auch Frauen. Nicht alle stimmen z. B. den religiösen Lebensformen zu. Sie wollen frei sein vom Glauben, den sie aufgezwungen bekommen, Sie möchten eine Trennung zwischen Kirche und Staat:
Diese jungen Männer wollen den Wandel, nicht die Belohnung des Himmels. Den Wandel, den andere Länder schon im alten Jahrhundert geschafft haben, den Wandel unter den Bedingungen des neuen. Sie wollen diese Länder einholen! Mit Wahlen, die nicht gefälscht sind oder für ungültig erklärt werden, wenn die Opposition gewinnt; knallharte Geschäfte mit dem Westen aus einer Machtposition heraus, keine arschkriecherische Knechtschaft mehr (sie bringen das richtige Vokabular aus dem Westen mit, wenn ihnen auch sonst alles verweigert wurde); Wandel mit einer Stimme im Internet, nicht vom Minarett, einer Stimme, die fordert, von den Finanzgöttern dieser Welt gehört zu werden. (183) 
Dieses Zitat zeigt, dass es viele Menschen in den muslimischen Ländern gibt, die nicht mit den Lebensweisen ihres Landes einverstanden sind. Sie fühlen sich vom Staat und auch oft von der Familie fremdbestimmt. Nicht alle zieht es in die Moschee oder ins Minarett. Sie sehnen sich nach einem Leben, über das sie selbst entscheiden können. Wenn es für einen Mann schon so schwer ist, aus diesem System auszubrechen, wie sollen Frauen dies erst schaffen?

Abdu bekommt von seinem Onkel die Autowerkstatt vermacht. Der Sohn des Onkels ist tot und ihm fehlt ein Erbe. Die ganze Familie fordert von Abdu, das Angebot anzunehmen. Abdu aber lehnt das Angebot ab und zeigt damit Mut und Größe, auch auf die Gefahr hin, die Erwartungen seines Onkels zu enttäuschen …
„Niemand in diesem Dorf, in diesem Land, hat etwas damit zu tun, warum ich das Angebot nicht annehmen kann, mit dem du mich geehrt hast, Onkel Jaqub. Ich habe kein Interesse an der Regierung. Sie wird mich nicht regieren. Ich gehe nach Amerika." (197)
Gelingt es Abdu, ein Visum nach Amerika zu bekommen? Das lest selbst.

Ich halte dieses Buch für ein Unikat, denn endlich schreibt eine moderne Autorin über die Träume von jungen Menschen aus den arabischen Ländern. Sie alle als rückständig zu bezeichnen, wäre mir zu einfach.


Und nun ein paar wenige Abschlussgedanken:
Werden wir gefragt, in welches Land man hineingeboren werden möchte? Was haben Menschen für Alternativen, deren Leben von einer dreifachen Regierung vorherbestimmt wird?

Neben einem autoritären Regime steht oft die Familie als Institution noch im Hintergrund, aus der es auch nicht immer leicht ist, auszubrechen, da die Familie hier oft die Einhaltung der Gesetze überwacht. 

Die dritte Form wäre die Regierung des anzustrebenden Einwanderungslandes, die über strenge Migrations- und Asylgesetze verfügt; das heißt, dass diese Menschen, die in der Fremde eine neue Heimat suchen, auch nicht wirklich willkommen sind. Viele und langwierige Hürden gilt es da zu überwinden.

Das Buch erhält von mir wegen der anfangs erwähnten Ansichten zehn von zehn Punkten.
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Man kann in den Dreck fallen, aber man muss nicht darin liegen bleiben.
(Hans Fallada)

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