Montag, 29. April 2013

Erwin Strittmatter / Der Laden I (2)

Zweite von zwei Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre

In dem Buch sprechen die Figuren hauptsächlich den ortsüblichen Dialekt und gebe ihn als solchen in den Zitaten wieder.
In Bossdon, fragt man nicht, wenn man etwas nicht verstanden hat: Wie bitte? Sondern: Was hoaste gesoagt? Oder einfach: Wa? Einmal, als ich schon einige gelesene Bücher hinter mir hatte, fragte ich, als ich etwas nicht verstand, versuchsweise: Wie? Da lachten sie mich aus und bewarfen mich mit Rossäpfeln. Ich hatte gegen den örtlichen Sprachkodex verstoßen. Im Bossdom gab’s kein Mich und kein Dich, es gab in allen Fällen nur Mir und Dir. Noch heute soage ich in meinem Heimatdorf, wenn ich dort einkehre, nicht das leiseste Mich zu verwenden, weil ich nicht will, dass man sich wegdreht und sagt: Der macht sich vielleicht stolz! Mit dem kannste nicht mehr reden! 102 f
Auf den Spruch, der macht sich vielleicht stolz, musste ich so lachen und Esau Matt seine Kindheit über so bemüht damit war, sich nicht stolz zu machen. 

Am 15. Juni 1919 zieht die Familie Matt von einem Niederlausitzer Heidedorf nach Bossdom und eröffnen dort einen Laden. Heinrich Matt wird Bäcker, Lene Matt verkauft. Allerdings nicht nur Backwaren, der Laden ist mehr eine Art Gemischtwarenladen  Eigentlich ist Heinrich ein Multitalent, ist nebenbei, obwohl es hart ist, noch landwirtschaftlich tätig. 

Wie in der letzten Buchbesprechung schon gesagt wurde, ist es Esau, der als kleiner Schuljunge versucht, sich in die Welt der Erwachsenen einzudenken und gibt diese Welt in der Ich-Perspektive wieder.  
Unsere Familie schlägt Wurzeln und wächst langsam in Bossdom ein. Auf den Herbst zu  gibts keinen Winkel im Anwesen, in dem ich nicht hockte, aus dem ich mich nicht hinaus oder zu mir hin träumte.Auf dem Mehlboden umwallen mich die Düfte vom Roggenmehl, Kleie und Leinschrot. Sie nehmen mich mit sich und entdecken mir: was heute Korn ist, ist morgen Mehl, und das Mehl wird Brot, und das Brot wird Kot :), und schließlich wird, was ehemals Korn war, wieder in trocken Halmen sein. Und das häufig, indem ich auf dem Futterboden sitze, das gestern Gras hieß, wird morgen in der Raufe Futter und übermorgen Roßapfel heißen. Wo ich auch hinschaue: Kreislauf und Kreislauf (...).68f
Esau ist schon ein schlaues, kleines Kerlchen, die Art, wie er die Welt aufnimmt, erfordert eine hohe Sensibilität und Beobachtungsgabe. 

Eine Welt kleiner Leute, mit ihrer eigenen Logik, was deren Lebensphilosophie betrifft. Sprichwörter, die Esau allzu genau nimmt und sie nicht so versteht, wie es die Erwachsenen tun. Er hakt oft nach, bekommt aber meist keine zufriedenstellende Antwort. Jede Menge Beispiele sind dazu dem Buch zu entnehmen. 

Gedanken macht sich Esau auch über Geister, Dämonen, über Indianer und schwarze Menschen. Die Drohungen seiner Mutter, es kämen Teufel, um ihn abzuholen, wenn er nicht artig sei, faszinierte Esau. Er probierte aus, lebte untadelig, wartete auf den Teufel, weil er schon immer mal einen echten Teufel oder Engel sehen wollte, aber sie bleiben aus, was Esau enttäuschte.

Schwarze Menschen wurden in der Familie nicht als Menschen bezeichnet. Auch wenn es zu dieser Zeit kaum Schwarze im Dorf zu sehen gab, war Bossdom doch eine Ausnahme, als der Großvater Esau von einem Neger spricht, der wie ein richtiger Mensch Klarinette spielt. 307

Begriffsdefinition. Im Dorf werden drei Männer wegen Vergewaltigung dreier junger Mädchen angeklagt und sich dies überall im Dorf herum spricht  Selbst die Kinder bekommen das Getratsche mit und machen sich über den Begriff Vergewaltigung Gedanken, und nicht so recht wissen, was damit gemeint ist. Ein Junge probiert den Begriff zu definieren, nachdem Eseau den ihn mit einem anderen Begriff vergleicht:
Vergewaltigen? Ich kenne gewaltigen Hunger und gewaltigen Durst. Wenn ich nicht wichtig esse und richtig trinke, vergewaltige ich dann den Hunger und den Durst? Franze Buderitsch, die zuständige Instanz für meine sexuelle Aufklärung, weiß es auch nicht genau: Ich gloobe, es ist etwas mit Mädels hinschmeißen, sagte er. 356
Die Matts sind richtige Geschäftsleute und um jeden Kunden bemüht. Die Kinder Matts, die eine gewisse Vorbild- und Vorzeigefunktion in der Gesellschaft inne hatten, mussten immer adrett auftreten, um den Ruf des Ladens nicht zu beeinträchtigen oder gar zu schädigen. Oftmals auch über eine künstliche und gezwungene Art, wie z.B. vor den Erwachsenen einen Knicks zu machen, auch die Jungen  dazu angehalten. Wenn es Ehekrach oder sonst einen Familienzwist auch mit den Großeltern gab, so war es für Mutter Lene wichtig, dass die Kinder die Familienprobleme nicht hinaustrugen. Eseau hielt sich nicht immer dran, da er unter der vergifteten Familienathmosphäre oft litt, als er einmal bei einem Elternstreit den Tisch umgeschmissen hatte und schreiend hinauslief. Die Reaktion der Mutter:
Ich berichte, was ich den Frauen draußen sagte. Meine Mutter tadelt mich: Hättste nich uffn Hoaf renn könn? Die Leite sin bloß neigierig, warum bei uns der Tisch umgefallen is; sie frein sich über jeden Schoaden, bloß weil wir den Loaden hoaben.der Laden, der Laden! Er will nun auch bestimmen, wohin ich in meinem Kummer zu rennen habe, und er hätte vielleicht gar gern gesehen, wenn ich gelogen hätte. Ich verstehe die Welt der Eltern nicht. 409
Das waren ein paar wenige Beispiele, die ich gerne festhalten wollte.

Mein Fazit zu dem Buch: Es ist sehr authentisch geschrieben. Die Literaturfiguren treten recht differenziert auf, es menschelt so sehr im ganzen Buch. Die Menschen darin schienen mir so nacket :-).

Die Probleme der damaligen Zeit, wie z.B. die Kaiserzeit, abgelöst von dem ersten gewählten Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Weltwirtschaftskrise, Inflation, später die Folgen der Weimacher Republik bekam man gut zu spüren. Viele Leute waren bemüht, ihrem Kaiser treu zu bleiben und fühlten sich zwischen Kaiser und Ebert ein wenig gespalten. Allerdings sind diese politischen Hintergrundinformationen eher angedeutet wiedergegeben. Dennoch konnte man gut folgen, was das Verständnis des politischen Lebens jener Leute betrifft, deren Alltagsleben davon ergriffen war. 

Ich gebe dem Buch zehn von zehn Punkten. Gerne werde ich auch BD II lesen. Allerdings ist Esau Matt kein kleiner Schuljunge mehr. Wie aus dem Klappentext zu entnehmen ist, hat auch der Autor, ähnlich wie sein Vater, mehrere handwerkliche Berufe ergriffen, trotz höherer Schule. Meine Neugier, wie das Leben Esau Matts in den anderen beiden Bänden sich fortsetzen wird, ist erhalten geblieben.

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Manchmal muss die Wahrheit erfunden werden
(Siegfried Lenz)

Gelesene Bücher 2013: 29
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86







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