Montag, 11. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (6)

Sechste Buchbesprechung zu o. g. Werk


Ich habe das Buch nun durch und bearbeite jetzt noch die für mich wichtigsten letzten Seiten. 

Ich habe es recht gerne gelesen, zwischendurch wollte ich es allerdings wegen des so einseitigem negativ geprägtem Menschenbild abbrechen, aber dadurch, dass ich geduldig durchgehalten habe, bin ich doch für meine Geduld belohnt worden. Wenn man sich von den überaus pessimistischen Szenen nicht runterziehen lässt, kann man dem Buch viel Weisheit abgewinnen... .
So, dann komme ich nun zu meiner letzten Buchbesprechung des o.g. Werkes. 

Das Buch ist recht menschenverachtend und nochmal ganz besonders potenziert Frauen gegenüber geschrieben. Ich halte Canetti für einen schwer, pessimistischen Autor... . Besonders Frauen schneiden hier recht schlecht ab.

Ich frage mich, ob das, lt. biographischer Recherchen meinerseits, mit der komplizierten Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu tun hat, die der Autor in dem Buch bewusst und unbewusst verarbeitet? Oder aber es ist ein Plädoyer an die Menschheit, in der diese Anklagen geäußert werden. Ich kann mich noch nicht ganz entscheiden, da ich jetzt ein wenig beeinflusst bin von dem biographischen Material, das ich hinzugezogen habe, um das Buch besser einordnen zu können. Eine gewisse Verachtung den Menschen gegenüber geht schon aus den Daten hervor... . Dieser Ekel zur Masse, die Blödheit (die Deppen, wie der Erzähler sie bezeichnet) und die Verdummung kann ich schon eher nachvollziehen, und gerade jetzt noch ganz besonders, wo wieder mal Fußballzeit ist. Wenn der Massenmensch selbst nicht mehr nachdenkt, und nur das tut und denkt, was andere tun und denken, was die Medien dem Menschen vorgeben, und Meinungen übernehmen, ohne sie zu relativieren oder sie auf die Richtigkeit hin zu überprüfen, dann kann ich Canetti nur zustimmen. Davor empfinde ich selbst auch eine tiefe Verachtung. Dabei denke ich auch an die vielen Vorurteile, Klischees ... , die so blind übernommen und auf andere Menschen übertragen werden. ... . Was kann man da schon erwarten? 

Aber diese Verhöhnung den Frauen gegenüber, in der Form, wie sie in dem Buch auftaucht? Finde ich arg übertrieben... . Gäbe es die Frauen nicht, so der Protagonist, so gäbe es mehr Bibliotheken, mehr Wissenschaftler, denn was, so fragt er sich, haben Frauen schon Großartiges geleistet in der Geschichte?  Antwort: Sie haben bisher nur Kinder gekriegt und Intrigen gesponnen :D. Man liest es so, als wäre Frau die Schuldige für jene Volksverdummung. Belege dazu sind auch in der Natur gefunden worden:
Dass die Spinnenweiber den Menschen ihren Kopf abbeißen, nachdem sie die Schwächlinge missbraucht haben, dass nur weibliche Mückenblut saugen, (…) und die Drohnenschlacht bei den Bienen ist eine Barbarei. (…) In der Spinne, dem grausamsten und hässlichsten aller Tiere, sehe ich die verkörperte Weiblichkeit.
 Ein paar Seiten weiter zitiert der Professor einen Auszug aus Buddhas Schriften:
Hart wie ein Baum, 
wie Flüsse so krumm,
Bös wie ein Weib,
So böse und dumm.
So, dabei möchte ich jetzt erst mal belassen, was die Frauenfeindlichkeit betrifft, wobei das Buch arg davon  belastet ist.

Ich möchte mich gerne noch etwas über den Bruder des Professors auslassen, der doch ein paar Aussagen gemacht hat, die mir imponiert haben, und die ich festhalten möchte. Aber nicht, weil mir dieser Mensch so viel sympathischer ist als Prof. Peter Kien... . 

Der Bruder, Dr. Georg Kien, Pariser Chefarzt einer Psychiatrie, (in dem Buch wird der Begriff Psychiatrie mit Irrenanstalt ersetzt),  hat seinen Bruder Peter Kien zwölf Jahre nicht mehr gesehen, ist allerdings über ihn gut im Bilde durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Der Doktor hat sich einen Namen in der Medizin (Gynäkologie, Psychiatrie) errungen, und der Bruder in der Sinologie.
Ich nehme an einer Diskussion der beiden Brüder teil, der ich mit großem Interesse folge und ich kleine Teile dieses Dialoges hier gerne wiedergeben möchte... .  Nachdem sich nun beide Brüder einig darin waren, dass Frauen gar nichts taugen :D, werden die beide Berufe miteinander verglichen. Während Professor Peter Kien seinen Bruder als Vielredner, als Schwätzer ansieht, da er beruflich mit den Menschen, mit den Irren den ganzen Tag zu tun hat, erkennt allerdings Georg, dass er durch seine menschliche Erfahrung eine Charakterbildung durchlaufen ist, die sein Bruder hinter seinen trockenen Theorien versäumt hat, und sich von seinen Theorien, von seiner Wissenschaft als Gelehrter sogar hat blenden lassen. Dies geht ja schon aus den ersten  Kapiteln deutlich hervor, und man ja schon da eine gewisse Menschlichkeit im Buch deutlich vermisst hat...
  
Du hast die heiligen Bücher aller Völker im Kopf, nicht nur die Länder. Allerdings zahlst du für dein wissenschaftliches Gedächtnis mit einem gefährlichen Mangel. Du übersiehst, was um dich vorgeht. Für deine eigenen Erlebnisse hast du keine Erinnerung. Wenn ich dich bitten wollte, (...) erzähle mir, wie du an diese Frau geraten bist, wie sie dich belogen und betrogen, behandelt und umgewandelt hat, erzählt mir die Bosheiten und Dummheiten, aus denen sie nach deinem indischen Spruch besteht, im einzelnen, damit ich mir ein eigenes Urteil bilden und nicht kritiklos das deine annehme - du wärst dazu nicht im Stande. (Dass es hier wieder um Frauen geht, war nicht zu vermeiden... , es geht mir eher um die Weisheit, die sehr wohl in dem Zitat enthalten ist.)
Weiter geht es im Text:
Du würdest wohl mir zuliebe deine Erinnerung anstrengen, aber ganz vergeblich. Siehst du, diese Art von Gedächtnis, die dir fehlt, besitze ich, darin bin ich dir hochüberlegen. Was mir ein Mensch einmal gesagt hat, der mich  treffen oder streicheln wollte, vergesse ich nicht.
Bloße Aussagen, einfache Feststellungen, die ebenso gut einem anderen wie mir gelten könnten, entgleiten mir mit der Zeit. Gefühlsgedächtnis, wie ich es nennen möchte, besitzt ein Künstler. Beides zusammen, Gefühlsgedächtnis und Verstandesgedächtnis, denn das ist das deine, ermöglichen erst den universalen Menschen. Ich habe dich vielleicht überschätzt. Wenn wir zu einem Menschen verschmelzen könnten, du und ich, entstünde ein geistig vollkommenes Wesen aus uns." 
Diese Textpassage beglückt mich wieder und es ist tatsächlich so, dass der Mensch eben beides kultivieren müsste, Herz und Verstand, um ein vollkommenes Wesen zu werden. 
Weiter geht´s:
Wenn ich an einer Wahnvorstellungen litte, wäre ich stolz auf sie.Was zeugt mehr von Charakter und Stärke? Versuche es mit einem Verfolgungswahn! Ich schenke dir meine Bibliothek, wenn du dich dazu aufschwingst. Du bist ein getriebener Aal, jedem starken Gedanken entschlüpfst du. Du bringst keinen Wahn zustande. Ich auch nicht, aber ich hätte Begabung dafür: Den Charakter.
Diese Textstellen stimmen mich richtig froh, doch dadurch, dass es in dem Romangeschehen nicht eine Person gegeben hat, die eine völlig andere Meinung pflegte, ein anderes Auftreten mitbrachte und eine weniger abfällige Meinung zum Menschenbild geäußert hat, fand ich das Thema ein wenig einseitig. Selbst der klugsprechende Georg Kien, der deshalb nur Chefarzt geworden ist, weil seine Nochnichtehefrau seinen Chef vergiftet hat und er dadurch die Nachfolge angetreten ist. Seine Nochnichtehefrau belohnte er damit, indem er sie zur Frau nahm...  . Ich sage nichts zum Mord, denn diese Untat spricht für sich selbst... . Aber diese Heirat... Es war auch hier keine Liebesheirat. Liebe gibt es in dem Buch kein wenig. Menschliche Liebe, partnerschaftliche Liebe; die Welt würde aussterben, wären alle Menschen in der Tat so verdorben.

 
Amüsiert haben mich auch die psychisch kranken Menschen in seiner Klinik: PatientInnen, die durch ihre Erkrankung große Potenziale entwickelt haben, die sie aber wieder verloren haben, als sie von ihrer Erkrankung geheilt wurden, und somit auch nur einfache Leute, die nur die Bezeichnung Kulturaffen verdienten. Der Geheilte wurde unglücklich, als plötzlich seine Potenziale wegtherapiert wurden. Dazu folgende Reaktion eines Patienten:

 Geistesgesundheit ist Stumpfsinn. Man müsste ihnen das Handwerk legen! Sie haben meinen kostbaren Besitz geraubt. (…) Ihr Beruf ist ein Verbrechen an der Menschheit. Schämen Sie sich. Sie Seelenschuster! Geben Sie mir meine Krankheit wieder! (…) Gesund reimt sich auf zugrund!"
Das sind so schöne Textstellen... . Ich fühle mich dadurch so bereichert... .
Letztendlich ist die Quintessenz eigentlich schon im ersten Teil deutlich geworden, und in den letzten Kapiteln wurde diese nochmals pointiert. Sich zu sehr in Theorien verlieren und die Lebenspraxis ignorieren, kann aus einem denkenden Menschen einen Theoretiker machen aber keineswegs einen besseren Menschen hervorbringen. Die Förderung von Gefühl und Verstand bringt erst den vollkommenen Menschen hervor.

                                             ENDE !

Dem Buch gebe ich sieben von zehn Punkten. Deshalb sieben und nicht zehn, weil es einseitig negativ ist . Deshalb sieben und nicht weniger, weil das Buch einen großen Tiefgang von Ideen und Weisheit mitbringt. Und das macht es so wertvoll und gleicht den Pessimismus wieder aus... .

Übrigens passt mein Fontane Zitat, s. u.,  doch wirklich zu dem Buch.


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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)


SuB:

Dickens: Schwere Zeiten
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 41

Gelesene Bücher 2011: 86

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